Verteidigungsminister Boris Pistorius gerät unter Druck, weil die Bundeswehr nicht schnell genug neue Soldaten findet. Wiebke Köhler ist ehemalige Personalberaterin, war Top-Managerin bei einem Versicherer, Soldatin und ist jetzt Reservistin. Sie weiß, wie die Bundeswehr mehr Soldaten bekommt.
FOCUS online: Frau Köhler, Sie waren Unternehmens- und Personalberaterin und ganz oben im Vorstand eines großen Versicherers angekommen. Jetzt sind Sie aktiv in der Reserve der Bundeswehr. Wie ist das denn passiert?
Wiebke Köhler: Ich habe nach meiner Zeit im Vorstand der Versicherung lange überlegt: Soll ich zurück in die Beratung? Soll ich mich selbständig machen? Was mich besonders beschäftigte, war das Thema: Wie geht Führung und Kultur in gefährlichen Lebenslagen? Ich habe deswegen den Weg zur Bundeswehr gesucht. Ich habe zunächst die GSG 9 der Bundespolizei beim Training erlebt und war anschließend beim Kommando Spezialkräfte zu Besuch. Ich war geflasht von der körperlichen Fitness, der geradezu unheimlichen Präzision und dem Wertegerüst dieser Menschen. Sie sind Teufelskerle, aber gehen mit Bescheidenheit und Demut ans Werk.
Inzwischen haben Sie mehr als 70 Truppenbesuche hinter sich, fünf Bücher darüber geschrieben und gehen beim Generalinspekteur der Bundeswehr ein und aus. Immer noch geflasht?
Köhler: Ja, mich fasziniert die Kameradschaft und das, was die Truppe trotz Mangelverwaltung auf die Beine stellt. Unsere westliche Lebensform, unsere Werte und unser Wohlstand sind bedroht. Es ist nicht auszuschließen, dass es zukünftig zu militärischen Konfrontationen kommen könnte. Da ist der Kampfgeist der Soldaten gefragt. Diesen Kampfgeist finde ich überall in der Truppe wieder. Und ich habe viel bei der Bundeswehr gesehen. Ich bin mitgekrochen und habe mich eingebunkert, die Hindernisbahn absolviert und in der Truppenkaserne geschlafen. Ich habe mich als Reserveoffiziersanwärterin gemeldet. Da wird man vereidigt und ist Oberleutnant für eine Woche. Ich habe eine echte Leidenschaft für die Bundeswehr entwickelt. Ich sehe mich als Brückenbauer zwischen Bundeswehr, Wirtschaft und Politik.
"Es geht nicht ohne echte Wehrpflicht für Männer und Frauen"
Sie sind Personalspezialistin und CDU-Mitglied. Der Kanzler sagt: Die Bundeswehr muss die stärkste konventionelle Armee Europas werden. Wie soll das klappen?
Köhler: Europa schaut auf Deutschland und wünscht sich „More Germany“ in wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht – und wir haben was gut zu machen. Auf die Bundeswehr bezogen: 2019 war der Bevölkerung die Bundeswehr fast gleichgültig. Das hat sich inzwischen geändert. Es ist zwischen Bevölkerung und Bundeswehr eine gegenseitige Wertschätzung entstanden. Die Nato-Forderungen an Deutschland sind so hoch, dass wir bei 300 000 Soldaten liegen müssten – während wir einen Bestand von 182 000 aktiven Soldaten haben. Die Reserve soll aufwachsen von 47 000 auf 260 000 Reservisten. Ich glaube, es geht nicht ohne echte Wehrpflicht für Männer und Frauen, um wehrhaft zu sein und damit glaubwürdig abzuschrecken. Ich rede aber lieber von Dienstpflicht. Das muss nicht an der Waffe, sondern kann auch in einer Blaulichtorganisation sein. Ich glaube auch, dass wir zwölf Monate Ausbildung brauchen, sechs Monate genügen nicht.
Freiwillig?
Köhler: Nein, ich spreche ja von Dienstpflicht, einen Beitrag aller zu mehr Wehrhaftigkeit. Die Bundeswehr muss noch mehr zeigen können, wozu sie da ist. Das Ansehen in der Bevölkerung ist zwar gestiegen, aber vielen ist nicht klar, dass der Kernauftrag eines Soldaten verteidigen und töten ist. Was angesichts der Bedrohungslage gar nicht mehr geht, ist die fehlende Vollausstattung. Ein Panzergrenadier, der keinen Schützenpanzer hat, trägt nicht zum Ansehen der Truppe nach außen bei – und auch nicht zur Motivation der Soldaten.
Die Bundeswehr hat eine Menge an sinnfreien Vorschriften.
Was würden Sie aus Sicht einer Personalberaterin empfehlen?
Köhler: Da gibt es viele Ungereimtheiten. Warum zum Beispiel müssen auch Mannschaftssoldaten über das zentrale Personalamt der Bundeswehr in Koblenz gesucht werden? Was wissen die dort über die Bedarfe, die beispielsweise die Gebirgsjäger gerade brauchen? Ich frage mich auch, warum die Bundeswehr die Altersgrenze nicht nach oben verschiebt und an andere Bundesbehörden angleicht. Ein Kampfpilot muss in der Regel mit 42 aufhören. Bei Soldaten und Offizieren ist oft mit 62 Schluss. Eine höhere Altersgrenze würde die Truppe schnell anwachsen lassen. Auch die Arbeitszeiten sind nicht auf die Kampfkraft der Truppe zugeschnitten. Es gilt die europäische Arbeitszeitverordnung, die dazu führt, dass Manöver am Freitag abgebrochen werden, weil die Wochenarbeitszeit überschritten ist.
Das ist im Kriegsfall aber hoffentlich aufgehoben…
Köhler: ... ja, aber so kann doch Militär nicht funktionieren. Überstunden könnten auch gebündelt zum Ende der gesamten Dienstzeit abgegolten werden. Die Bundeswehr hat eine Menge an sinnfreien Vorschriften.
Zum Beispiel?
Köhler: Jeder aktive Soldat unterhalb der Rentengrenze steht nach seinem Ausscheiden als Reservist zur Verfügung. Das ist die Grundbeorderung – allerdings nur, wenn eine eigens dafür eingerichtete ärztliche Untersuchung durchgeführt wird. Viele werden gar nicht erst untersucht, und so stehen der Reserve etwa 20 Prozent der ehemaligen Soldaten gar nicht zur Verfügung. Oder schauen Sie sich den Bewerbungsprozess für Soldaten und Reservisten an. Sie brauchen eine Sicherheitsüberprüfung, die nur der militärische Abschirmdienst durchführen kann. Der ist damit völlig überlastet. So kommt es, dass eine Sicherheitsfreigabe manchmal erst drei Jahre nach der Bewerbung vorliegt. Dann hat der Kandidat längst einen anderen Job.
Wie Bürokratie zur Gefahr wird
Wie sieht es bei der Beschaffung aus?
Köhler: Es werden immer noch für alles und jedes europäische Ausschreibungen gemacht. Obwohl entsprechende Vorschriften mit Hinweis auf die nationale Sicherheitslage nicht angewendet werden müssen. Die Franzosen machen das. Wir eher nicht. Auch behindert das deutsche Wettbewerbsrecht und die Absicherungsmentalität der Beschaffer die Schnelligkeit und den Pragmatismus in Beschaffungsfragen.
Ist die Sicherheitslage denn so bedrohlich?
Köhler: Das Märchen von „Wir sind kein Frontstaat“ taugt doch nichts mehr. Es gibt Waffen, die aus Kaliningrad abgeschossen in zweieinhalb Minuten in Berlin einschlagen. Die hybride Kriegführung findet bereits intensiv statt, wie die Drohnenschwärme und Sabotageakte zeigen. Hybrid ist der Krieg schon ausgebrochen. Wir wiegen uns in Scheinsicherheit.
Und wieso reagiert keiner schneller?
Köhler: Die Bundeswehr zu verändern ist ein dickes Brett. Es braucht politischen Willen, Umsetzungskompetenz und Durchhaltevermögen. Aber bei uns wird Parteikalkül über die Bedrohungslage gestellt.
Dieser Artikel entstand in Kooperation mit "Business Punk".