Der Parteitag ist fast zu Ende, als einer der derzeit wohl größten Grünen-Hoffnungsträger ans Rednerpult tritt. Cem Özdemir hat im kommenden März die Chance, die Nachfolge von Winfried Kretschmann als Ministerpräsident in Baden-Württemberg anzutreten. Sein Auftritt in Hannover ist ein wichtiger Stimmungstest.
Wird sein konservativer Realo-Kurs von der Partei unterstützt – oder zumindest zähneknirschend geduldet? Nur so wird er einen Wahlkampf führen können, bei dem ihm seine persönlichen Beliebtheitswerte beflügeln und die Beliebtheitswerte der Partei nicht nach unten ziehen.
Schießen Parteilinke quer, würden die Baden-Württemberger sofort daran erinnert werden, welche Partei sie sich mit der Wahl Özdemirs einkaufen würden.
Das wissen auch die Bundesvorsitzenden. Wie zu hören ist, wurden die Delegierten ermahnt, Özdemir pfleglich zu behandeln. Denn obwohl der eigenständige Kurs des Ministerpräsidentenkandidaten die Arbeit der Grünen-Chefs erschwert, sind sie vom Erfolg in Baden-Württemberg abhängig.
Franziska Brantner und Felix Banaszak waren bei der Bundestagswahl erst kurz im Amt, sie standen unter Schonfrist. Die Landtagswahl wird der erste große Prüfstein für sie.
Özdemir hält auf Parteitag geteilte Rede mit zwei Adressaten
Die Parteitagsregie hat dem Spitzenkandidaten viel Zeit eingeräumt. Rund 30 Minuten spricht er. Als versierter Rhetoriker hält Özdemir eine zweigeteilte Rede. Zum einen spricht er zu seinen potenziellen Wählern in Baden-Württemberg. Da geht es um "Heimat", "Tugenden wie Pflichtbewusstsein und Leistungsbereitschaft", ein "angeschlagenes Sicherheitsgefühl".
Bei diesen Redepassagen ist lauter Applaus vor allem aus einer Ecke der Messehalle zu hören: dort, wo die Delegierten aus Baden-Württemberg sitzen. Bei allen anderen klingt der Beifall deutlich leiser und pflichtschuldiger.
Sie aber spricht Özdemir im anderen Teil seiner Rede an. Der Spitzenkandidat geht in die Offensive und redet über "den grünen Elefanten im Raum" – die Kritik an seinem Kurs. Das ist mutig, zeigt aber auch, wie ernst er das Thema nimmt.
Özdemir muss eine Selbstverständlichkeit betonen
Özdemir sagt offen, dass "meine Partei manchmal danebenlag und Nerven gekostet hat", die baden-württembergischen Grünen seien gelegentlich wie das gallische Dorf bei Asterix und Obelix.
Dann aber geht er in die Charme-Offensive. "Wie andere Landesverbände zurecht ihren Weg gehen", nimmt Özdemir für sich in Anspruch, im Südwesten einen Realo-Kurs zu verfolgen. Beides soll seine Berechtigung haben. Bei allen Differenzen hätten die Grünen immer auf der richtigen Seite gestanden, wenn es darauf angekommen sei.
Und schließlich sieht Özdemir sich gezwungen, eine Selbstverständlichkeit auszusprechen: "Aus voller Überzeugung bin ich Mitglied dieser Partei." Das dürften zwar die wenigsten Delegierten im Saal bezweifeln. Aber vor allem den linkeren ist bewusst, welche Zumutung der Baden-Württemberger manchmal für die grüne Seele ist.
Grüne haben eine Vorgeschichte mit Özdemirs Flügelkämpfen
Özdemir und die Flügelkämpfe haben eine lange und unschöne Vorgeschichte. Als er von 2013 bis 2018 gemeinsam mit Simone Peter die Partei führte, zerstritt er sich mit seiner linken Co-Vorsitzenden. Sie ermahnte ihn damals, sein Amt beinhalte, "die Partei im Team zu führen, nicht als Ich-AG". Womöglich hat das Wunden hinterlassen, die noch nicht bei allen verheilt sind.
Aber auch Özdemirs aktuelle Politik verursacht bei Teilen der Grünen Schmerzen. Drei Beispiele erwähnen Delegierte in Gesprächen.
Gegenwind für differenzierte Migrations-Position
Zum einen ist da die Migrationspolitik. Im vergangenen Jahr sprach Özdemir davon, dass seine Töchter "von Männern mit Migrationshintergrund sexualisiert" würden. Auch in der Stadtbild-Debatte um Kanzler Friedrich Merz positionierte er sich anders als der grüne Mainstream.
Ein eher linker Delegierter kommentiert das so: "Wir sollten Özdemir mit dem gleichen Maß messen wie Merz." Das lässt sich mindestens als harsche Kritik, vielleicht sogar als indirekten Rassismus-Vorwurf gegen den Baden-Württemberger interpretieren.
Dabei hatte Özdemir es geschafft, in nur einem Satz den womöglich differenziertesten Debattenbeitrag zu dem Thema zu liefern: "Die einen verschließen die Augen und tun so, als hätten wir gar kein Problem, und auf der anderen Seite haben wir Leute, die den Eindruck erwecken, als seien Menschen mit Migrationshintergrund für jedes Problem in diesem Land verantwortlich."
"Baden-Württemberg, besinnt euch auf unsere Werte"
Özdemir bringt auch mit seiner Position zum für 2035 geplanten Verbrenner-Aus viele Grüne gegen sich auf. Den Autobauern aus dem Südwesten will er mehr Flexibilität beim Datum gewähren. Niedersächsische Parteimitglieder haben dafür wenig Verständnis.
Auch in ihrem Bundesland sind die Grünen in der Regierung vertreten, auch dort gibt es Autoindustrie. Trotzdem ist der niedersächsische Landesverband nicht auf die Idee gekommen, das Verbrenner-Aus in Zweifel zu ziehen.
Das dritte Beispiel hat mehr mit Kretschmann zu tun, wird Özdemir aber womöglich noch beschäftigen. Die grün-schwarze Koalition in Baden-Württemberg hatte kürzlich die Nutzung einer Datenanalyse-Software des umstrittenen Unternehmens Palantir beschlossen.
Ein bayerischer Delegierter spricht in seiner Parteitagsrede deshalb einen eindringlichen Appell aus: "Baden-Württemberg, bitte kehrt um, besinnt euch auf unsere Werte!" Womöglich meinen der Redner und die zahlreich applaudierenden Delegierten nicht nur die Palantir-Entscheidung.
Grünen-Wahlkampf in Berlin wird zum Gegenmodell
Glaubt man einem Delegierten aus dem Ruhrpott, hat der ganze dunkelgrüne Kurs in Baden-Württemberg konkrete Folgen in Nordrhein-Westfalen: "Ich verliere jedes Mal Wähler an die Linke, wenn Kretschmann den Mund aufmacht. Ich muss dann Hunderte Gespräche führen, um das wieder auszubügeln." Daran, dass das bei einem Ministerpräsidenten Özdemir genauso wäre, lässt der Delegierte keine Zweifel.
Zu zusätzlichen Verwerfungen könnte es kommen, weil die Grünen im kommenden Jahr nicht nur in Baden-Württemberg eine Wahl gewinnen wollen, sondern auch in Berlin. Der dortige Spitzenkandidat Werner Graf hatte am Samstag zu den Delegierten Sätze gesagt, die im Stuttgarter Speckgürtel bei potenziellen Özdemir-Wählern nicht gut ankommen dürften. Unter anderem versprach Graf, für eine Vermögen- und eine Erbschaftsteuer zu kämpfen.
Die Parteiführung lässt die Debatte laufen
Die Parteiführung lässt all das laufen – womöglich, weil sie kaum Möglichkeiten hat, die Interessen der unterschiedlichen Landesverbände unter einen Hut zu bringen. Doch mit Freiheit geht in der Politik auch immer Verantwortung einher. Sollte Özdemir seine Wahl verlieren, muss er nicht damit rechnen, dass die Vorsitzenden sich schützend vor ihn stellen werden.
Weil es keine klare Positionierung von oben gibt, gärt es auf dem Parteitag. Ein Özdemir-Unterstützer berichtet, er spüre auf dem Parteitag "verachtende Blicke" von Parteifreunden, die links von ihm stünden. Ob es diese Blicke wirklich gibt oder nicht – die bevorstehende Landtagswahl ist ein Reizthema. Einige Delegierte wollen daher lieber gar nicht mit Journalisten über Özdemir sprechen.
Wirbel um Kretschmann-Verabschiedung
In dieser Situation werfen zwei Ur-Realos aus dem Südwesten ihr Gewicht in die Debatte um die Baden-Württemberger Grünen. Der eine ist der ehemalige Fraktionsvorsitzende Rezzo Schlauch. Er hatte im Vorfeld des Parteitags kritisiert, dass Kretschmann bei der Veranstaltung nicht verabschiedet wird.
"In Berlin kriegen sie nichts auf die Reihe, dann dem erfolgreichsten Grünen der grünen Geschichte keinen Abschied zu gewähren, ist der Tiefpunkt der innerparteilichen Unkultur." Allerdings hätte die Verabschiedung eines sich noch im Amt befindlichen Ministerpräsidenten seltsam angemutet und stand daher nie ernsthaft zur Debatte.
Joschka Fischer schießt gegen Parteispitze
Der andere Ur-Realo ist der ehemalige Außenminister und Vizekanzler Joschka Fischer. Im Vorwort einer Özdemir-Biografie verbindet er seine Unterstützung für den Spitzenkandidaten mit kaum verhohlener Kritik an der Grünen-Führung. Fischer nennt Bedingungen, die es für einen erfolgreichen Wahlkampf braucht. Eine davon: "Wenn seine Partei ihn lässt und ihm folgt."
Fischer geht offenbar nicht davon aus, dass das geschieht. Er schreibt: "Die grüne Partei und ihr aktuelles bundespolitisches Spitzenpersonal hinterlassen nun nicht gerade den Eindruck, als wenn von der Bundesebene in den kommenden Monaten politischer Rückenwind erwartet werden dürfte."
Parteilinke fürchten Dolchstoßlegende
Viele Parteilinke befürchten, dass im Fall einer Niederlage Özdemirs genau solche Dolchstoßlegenden gesponnen werden könnten. Er hätte gekonnt, wenn man ihn nur gelassen hätte – das will man nicht auf sich sitzen lassen und wehrt sich schon Monate vor der Wahl vehement dagegen.
Die Parteilinke baut aber auch für ein gutes Abschneiden Özdemirs vor: Schon jetzt streuen sie, dass aus einem Wahlsieg mit Realo-Kurs in Baden-Württemberg kein verallgemeinerbares Erfolgsmodell für die Bundespartei ableitbar sei.
Nach seiner Rede kann Özdemir aber ein bisschen aufatmen: Die allermeisten Delegierten erheben sich zum Applaudieren. Lediglich in den Reihen des Berliner Landesverbandes rühren sich manche nicht. Ein paar seiner Kritiker dürfte Özdemir mit seinem Auftritt in Hannover aber überzeugt haben – zumindest davon, dass sie zum Wohl der Partei einfach mal ihren Frust herunterschlucken.