Glockner-Drama: Verlassen und erfroren - Bergführer zerpflücken Alibi von Freund

Knapp 250 Menschen haben seit der Erstbesteigung des Großglockners im Jahr 1800 bislang den Versuch, Österreichs höchsten Berg zu erklimmen, mit ihrem Leben bezahlt. Doch selten dürften Todesumstände so widersprüchlich auf der einen und zugleich so gut dokumentiert auf der anderen Seite sein wie bei jener Tragödie, die sich in der Nacht vom 18. auf den 19. Januar an den Hängen des 3798 Meter hohen Berges ereignete. Eine Tragödie, an deren Ende eine 33 Jahre alte Salzburgerin, die total erschöpft nach Mitternacht in einem Eissturm von ihrem Lebensgefährten schutzlos alleingelassen worden war, 50 Meter unterhalb des Gipfels erfror.

Webcam zeigt in Echtzeit Lichtspuren des Todesdramas am Großglockner

Der Fall schlägt aus mehreren Gründen hohe Wellen. Nicht zuletzt, weil zumindest Bruchstücke des nächtlichen Todesdramas in Echtzeit im Internet nachverfolgbar waren – und es dort bis heute sind

Eine Webcam auf der Erzherzog-Johann-Hütte, die sich etwa 800 Meter Luftlinie von der Gipfelregion des Glockners in südöstlicher Richtung in 3454 Metern Höhe befindet, schießt nachts alle 30 Minuten Fotos von der Südostflanke des Glockners. In jener Nacht sind unter sternenklarem Himmel die Leuchtspuren der Stirnlampen des Bergsteigerduos am oberen Stüdlgrat deutlich zu erkennen.

Tödliches Bergdrama am Großglocker
Die Aufnahmen zeigen die Lichtkegel der Bergsteiger am 18. Januar am Großglockner zwischen 20 und 22 Uhr. Screenshot foto-webcam.eu

Aufnahmen belegen: Salzburger Alpinisten kommen auf Stüdlgrat kaum voran

Bizarr sind die Umstände, unter denen die Winterbesteigung des Glockners ihren schicksalhaften Verlauf nahm. Schon gegen 20 Uhr hatte nämlich ein anderes Bergsteigerteam, das beim Eisklettern an anderer Stelle unterwegs war, die Kalser Alpinpolizei über Stirnlampenlichter am Stüdlgrat informiert. Dort war schnell aufgefallen, dass die Bergsteiger dort offenbar nur langsam vorankamen und ohnehin sehr spät unterwegs waren. Dies belegen Webcambilder in der Zeit zwischen 20 und 22 Uhr.

Als nach der Ermittlung der Handynummer des 36-Jährigen über das Nummernschild seines am Lucknerhaus geparkten Wagens mehrere WhatsApp-Nachrichten und Anrufe unbeantwortet blieben, hatten die Bergretter beschlossen, gegen 22.30 Uhr einen mit Wärmebildkamera ausgerüsteten Helikopter der Alpinpolizei in die Gipfelregion hochzuschicken. Die Piloten lokalisierten das Salzburger Duo im Scheinwerferlicht, das jedoch keine Notlage signalisierte, was der Anwalt des 36-Jährigen später auch bestätigte.

Heftiger Streit zwischen Alpinpolizei und Bergsteiger um angeblichen Notruf entbrannt

Über die dramatischen Dinge, die sich unterhalb des Glocknergipfels in den darauffolgenden zwei, drei Stunden zutrugen, nachdem der Rettungshubschrauber wieder abgedreht war, ist zwischen Bergrettern und dem 36-Jährigen, gegen den die Innsbrucker Staatsanwaltschaft seit Monaten wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung ermittelt, ein wilder Streit entbrannt.

Kern der Auseinandersetzung ist ein Anruf des Beschuldigten bei der Alpinpolizei um 0.35 Uhr am 19. Januar. Der 36-Jährige hatte Ende Juni über seinen Anwalt Kurt Jelinek nach monatelangem Schweigen in einer ersten Stellungnahme gegenüber der Innsbrucker Staatsanwaltschaft zu der tragischen Wintertour am Großglockner Stellung genommen und dabei unter anderem erklärt, dass es sich dabei um einen Notruf gehandelt habe.

Die Alpinpolizei hingegen behauptet das genaue Gegenteil. "Das Vorliegen einer Notsituation wurde auch in diesem Telefonat nicht zu Ausdruck gebracht", hatte die Behörde dazu kurz nach der ersten etwas ausführlicheren Stellungnahme des Beschuldigten zu den Vorkommnissen erklärt. Dies sei erst "mehr als zwei Stunden später" bei einem zweiten Anruf erfolgt. Die Sicherheitsbehörde hatte sich dagegen verwahrt, Alpinpolizisten "aus verfahrenstechnischen Gründen im Vorfeld eines klärenden Verfahrens öffentlich in Misskredit" zu bringen.

Tod am Großglockner
Gut zu sehen sind die Lichtspuren des Unglücksduos am Stüdlgrat links unterhalb des Glockner-Gipfels am 18. Januar um 22 Uhr. Screenshot foto-webcam.eu

Glockner-Bergführer: "Anschuldigungen gegen Alpinpolizei sind menschlich verwerflich"

Die Angriffe sorgen auch in der Bergsteigerszene am Großglockner für erheblichen Unmut und Unruhe – ganz besonders bei jenen, die bei dem Rettungs- und Bergungseinsatz am 19. Januar dabei waren. "Wenn plötzlich die Retter Schuld an einem Unglück haben sollen, das jemand anderem zugestoßen ist, dann ist das eine komische Mentalität", ärgert sich Andreas Hanser, Bergführer und Bergretter aus Kals, im Gespräch mit FOCUS online. 

Hanser ist einer der beiden Bergführer, die die Leiche der 33-jährigen Salzburgerin erst gegen 10 Uhr am 19. Januar kurz unterhalb des Glocknergipfels bergen konnten. Ein Einsatz des Rettungshubschraubers war nach Angaben der Polizei nach dem Ansteigen der Windstärke in der Nacht auch am Morgen weder zur Rettung noch Bergung möglich. "Ich kenne den Alpinpolizisten seit langem, er ist ein sehr gewissenhafter Mensch", so Hanser. "Solche Anschuldigungen jemandem gegenüber zu erheben, der sein Leben riskiert, um anderen zu helfen, ist menschlich verwerflich."

Beschuldigter gibt merkwürdige Antwort auf Frage von Bergretter

Hanser hatte schon nach einem Hubschrauberflug über den Unglücksort am frühen Sonntagmorgen erfahren, dass die Freundin des 36-Jährigen wohl nicht mehr leben würde. "Als ich sie dann selbst gesehen habe, war das schon an der komischen Körperposition, wie sie dort lag, zu erkennen", erinnert sich der Bergretter betroffen.

Vor dem Bergungseinsatz, der wegen Windgeschwindigkeiten von bis zu 100 Stundenkilometern sehr gefährlich war, hatte Hanser den 36-Jährigen gefragt, wie es denn seiner Freundin ginge. "Ich hatte ihn das einfach so ohne Hintergedanken gefragt, Smalltalk. Er hat sehr gefasst geantwortet und meinte, es ginge ihr 'gut'" (SZ berichtete zuerst).

Von FOCUS online gefragt, was er denn glaube, wie der 36-Jährige nach den alptraumartigen Erlebnissen zu einer solch ungewöhnlichen Antwort habe kommen können, sagte Hanser: "Ich bin kein Psychologe und kann nicht sagen, was in einer solchen Situation im Kopf eines Menschen vorgeht. Natürlich wird in der Bergführerszene über diesen tragischen Fall geredet. An Spekulationen darüber werde ich mich aber nicht beteiligen."

Je mehr Details über Glockner-Drama bekannt werden, desto mehr wachsen Zweifel an Vorbereitung

Allerdings ist dem Kalser Bergführer, der selbst schon mehr als tausendmal auf dem Großglockner war, sowie Kollegen aufgefallen, dass zwischen den Behauptungen des Anwalts in Bezug auf eine angeblich gewissenhafte Vorbereitung der Winterbesteigung des Großglockners und dem Ablauf der Tour diverse Widersprüche klaffen. 

Anwalt Jelinek hatte gegenüber FOCUS online Ende Juni erklärt, dass beide Sportler zu Beginn der Tour "in sehr guter körperlicher Verfassung gewesen adäquat vorbereitet und gut ausgerüstet" gewesen seien. Doch je mehr Details in den vergangenen Monaten an die Öffentlichkeit gedrungen sind, umso mehr wachsen die Zweifel daran, dass die Planung und vor allem die Tour selbst glatt abgelaufen sind.

Großglockner Todesdrama
Der Großglockner vom Glocknerwinkel am 18. Januar um 20 Uhr. Unterhalb des Gipfels die Lichter der beiden Bergsteiger. Screenshot foto-webcam.eu

Völlig unklar, warum Bergsteiger Freundin nicht in schützenden Biwaksack hüllte

Völlig unklar ist, warum der 36-Jährige seine Freundin, die am Ende mit ihren Kräften war, nicht wenigstens mit einer Rettungsdecke umhüllt und in einen Biwaksack gesteckt hatte. Beides fanden die Alpinpolizisten nach der Bergung der Leiche unbenutzt im Rucksack der 33-Jährigen. Und dies, obgleich alle Getränke, die die beiden bei sich gehabt hatten, laut Jelinek zu dem Zeitpunkt bereits gefroren gewesen waren. Nach Angaben des Anwalts soll die 33-Jährige seinen Mandanten selbst dazu aufgefordert haben, allein zur Erzherzog-Johann-Hütte abzusteigen, um Hilfe zu holen. 

Unklar ist dabei, welche Hilfe der 36-Jährige in der mit Ausnahme des Schutzraums geschlossenen Erzherzog-Johann-Hütte zu finden gedachte. Ebenso bleibt offen, warum er die Alpinpolizei nach Jelineks Angaben erst gegen 3.30 Uhr darüber informierte, dass er seine Freundin bei knapp Minus 10 Grad und stürmischen Windböen allein unterhalb des Gipfels zurückgelassen hatte, als er bereits im Schutzraum der Erzherzog-Johann-Hütte gewesen sei. Laut Jelinek habe er bei dieser Gelegenheit "erneut" um den Einsatz eines Rettungshubschraubers gebeten.

Was die Ausrüstung angeht, scheint die Vorbereitung der Tour offenbar ebenfalls nicht so gut gelaufen zu sein, wie Jelinek behauptete. Laut Servus TV unter Berufung auf Angaben der Staatsanwaltschaft war die 33-Jährige  an jenem Tag nicht mit stabilen Tourenschuhen unterwegs, sondern mit Softboots. Die eignen sich zwar bestens für die Abfahrt mit einem Splitboard  (einem Snowboard für Tourengeher), das die Salzburgerin dabeihatte, nicht aber für den Aufstieg, da sie zu weich für den Einsatz von Steigeisen sind, die man bei einer Winterbesteigung des Glockners braucht. Ihr Lebensgefährte hatte Tourenski und -stiefel dabei.

Bergführer Suntinger: "Umkehr wäre einzig verantwortungsvolle Entscheidung gewesen"

Peter Suntinger, Glockner-Bergführer aus Heiligenblut, hatte schon wenige Tage nach dem Unglück gegenüber dem ORF erklärt, dass der Entschluss des 36-Jährigen, seine Partnerin am Glockner bei dem Erschöpfungszustand und den extremen meteorologischen Bedingungen allein zurückzulassen, "im Grunde ihr Todesurteil war". 

Zudem konnte Suntinger auch im Gespräch mit FOCUS online kurz nach der Stellungnahme des Beschuldigten gegenüber der Staatsanwaltschaft nicht nachvollziehen, warum das Duo überhaupt so spät in den Stüdlgrat eingestiegen und auch am "Frühstücksplatzerl" nicht umgekehrt sei. Dieser Punkt auf dem Stüdlgrat, an dem die beiden laut Jelinek gegen 13.30 Uhr angekommen waren, gilt als Schlüsselstelle, nach der eine Umkehr nicht mehr möglich ist. "Eine Umkehr", sagte Suntinger, wäre "die einzig verantwortungsvolle Entscheidung gewesen".

Rettungstrupp am Großglockner
Dieses Bild, aufgenommen von einer Webcam an der Schutzhütte Adlersruhe, zeigt sechs Bergretter auf dem Weg zum Gipfel. Screeshot foto-webcam.eu

Bergführer Hanser: "Viele kleine Fehler haben sich zu Katastrophe summiert"

Die Verspätungen, mit denen die beiden Salzburger an jenem vorletzten Januarwochenende unterwegs waren, kann auch Suntingers Kollege Andreas Hanser aus Kals nicht nachvollziehen. "Das Beste wäre gewesen, die beiden wären überhaupt nicht in den Stüdlgrat eingestiegen und einfach umgedreht." 

Eine Winterbesteigung des Großglockners sei für geübte Alpinisten zwar kein Problem. Aber bei derartigen Verzögerungen und vor allem den "heftigen Windbedingungen" jenes Tages, die schon vorher bekannt gewesen seien, verböte sich eine solche Tour von selbst. Denn eisiger Wind erschwert ein sicheres Vorankommen mit Kletterpassagen samt Rucksack und daran festgebundenen Skiern an ausgesetztem Fels auf dem Grat erheblich.

Am Ende hätten sich nach Hansers Einschätzung "sehr viele kleine Fehler zu einer Katastrophe summiert". Im Verlauf der Tour habe es "sehr viele Merkwürdigkeiten" gegeben, die schwer nachvollziehbar seien. "Ich denke, die Planung war von Anfang an falsch."

Gutachten da, Ermittlungen abgeschlossen – erhebt Staatsanwaltschaft Anklage?

Dass die Staatsanwaltschaft schon kurz nach dem Unglück Ermittlungen aufgenommen hat, ist bei Todesfällen in den Bergen, bei denen klares Selbstverschulden ausgeschlossen werden kann, üblich, hatte die Staatsanwaltschaft selbst kurz nach dem Glockner-Drama erklärt. In einem solchen Fall geht es dann darum, zu klären, ob der Person, der durch ihre größere Erfahrung eine "Führerrolle" bei der Tour zugeordnet werden kann, durch fehlerhaftes Handeln fahrlässige Tötung angelastet werden kann. Andernfalls wäre lediglich wegen des Verdachts unterlassener Hilfeleistung ermittelt worden.

Nachdem alle Angaben des Beschuldigten, der beteiligten Bergretter, Bergsteiger und auch die digitalen Spuren ausgewertet wurden, die Handy-Nachrichten, Anrufe sowie Bewegungsprofile und physische Körperdaten der Sportuhren der beiden Alpinisten einschließen, gab die Staatsanwaltschaft im Sommer ein alpines Expertengutachten in Auftrag. 

Mittlerweile sind die Ermittlungen abgeschlossen, das Gutachten liegt der Staatsanwaltschaft seit vergangener Woche vor. Nun muss die Strafbehörde entscheiden, ob gegen den 36-Jährigen Anklage erhoben oder das Verfahren eingestellt wird.