Die verhängnisvolle Wahrheit über unsere Rente

Die deutsche Rentenkrise ist kein Schicksal, sondern das Resultat einer jahrzehntelangen politischen Verdrängung. 

Seit den sechziger Jahren wissen wir, wie die demografische Entwicklung verläuft. Seit den siebziger Jahren kennen wir die mathematischen Konsequenzen für die gesetzliche Rente. Und seit den achtziger Jahren warnen Institute, Ökonomen und Demografen, dass ein Umlagesystem dann kollabiert, wenn Millionen Babyboomer gleichzeitig in den Ruhestand gehen und zu wenige Junge nachkommen. 

Es gab also niemals einen Mangel an Wissen und Aufklärung, sondern nur einen Mangel an Mut und Ehrlichkeit. Diese systematische und interessenbedingte Ausweichkultur hat uns in eine desaströse Situation geführt, in der nun alle Generationen verlieren.

Scheinheiliges Rentensystem

Der Fehler oder besser das Versagen liegt nicht im Umlageverfahren, sondern in seiner politischen und gesellschaftlichen Behandlung. Statt ein robustes, anpassungsfähiges und zukunftsrealistisches Modell zu formen, haben wir ein sentimentales und scheinheiliges System gebaut, das alle Warnenden sofort als unsozial abstempelte. 

Renten wurden erhöht, Frühverrentung legitimiert, Beitragssätze stabilisiert, politische Versprechen verlängert. Gleichzeitig wurde die steigende Lebenserwartung ignoriert, der Fachkräftemangel verdrängt und die Arbeitswelt nicht modernisiert. 

Heute finanzieren wir die Rente nicht mehr aus Beiträgen, sondern aus einem immer größeren Anteil an Steuergeld. Damit verschieben wir die Lasten nicht nur zeitlich, sondern völlig unfair: Die Jungen zahlen für Entscheidungen, die sie nie getroffen haben.

Millionen Bürger wissen nicht, wie finanzielle Vorsorge funktioniert

Doch die Rentenfrage betrifft nicht nur die gesetzliche Säule. Auch die betriebliche und die private Vorsorge sind ungleich verteilt, bürokratisch überladen oder schlicht ineffektiv. Viele Arbeitende haben keinen Zugang zu stabilen Betriebsrenten. Und noch mehr Niedrigverdiener können gar nicht sparen, weil der Alltag es nicht zulässt. 

Millionen Bürger wissen bis heute nicht, wie finanzielle Vorsorge überhaupt funktioniert. Wir haben ein System geschaffen, das zwar theoretisch dreisäulig ist, praktisch aber lückenhaft, ungleich und sozial blind bleibt. Durchschnittsrenten zwischen 1100 und 1350 Euro und ein Pflegeplatz für 3000 Euro sind an Absurdität nicht zu überbieten.

Flexibles Renteneintrittsalter als eine Lösung

Wenn wir aus diesem jetzt wieder heiß diskutierten Teufelskreis mit eklatanter Verspätung heraus wollen, müssen wir ultimativ handeln, und zwar objektiv, sachlich und ohne wahltaktische Rücksicht. Die entscheidende Grundlage ist ein flexibles Renteneintrittsalter, das sich an der realen Lebenserwartung orientiert und zwischen körperlich hart arbeitenden und wissensbasierten Berufen unterscheidet. 

Arbeit im Alter darf nicht als Strafe gelten, sondern als zukunftsweisende Option mit Vorteilen. Gleichzeitig müssen Frühverrentungsanreize wegfallen, denn sie schwächen das System massiv. Auch die Frage, ob Multimillionäre und Milliardäre eine Rente brauchen, ist zu stellen.

Beitragszahler gesucht

Doch der eigentliche Hebel liegt im Arbeitsmarkt. Wir brauchen höhere Erwerbsbeteiligung, qualifizierte Zuwanderung, weniger Bürokratie und vor allem mehr Produktivität. Ohne künstliche Intelligenz, die Routinearbeit reduziert und Effizienz steigert, wird ein alterndes Land seine Sozialsysteme nicht stabilisieren können. KI ist keine Utopie, sondern die zentrale Modernisierungsquelle unserer Zeit. Auch diese global klar erkannte Einsicht mit all ihren Gefahren wird bei uns wie Parmesan zerbröselt. Ebenso kann das wertvolle Erfahrungswissen der Babyboomer mit KI virtuell für die Zukunft gesichert werden.

Die Rentenfrage ist kein Angriff auf die Älteren

Was jetzt zählt, ist ein radikaler und mentaler Wandel: weg vom politischen Ausweichen, hin zu gemeinschaftlicher Verantwortung. Die Rentenfrage ist kein Angriff auf die Älteren und kein Opferprogramm für die Jüngeren. Sie ist ein Test für unsere Zukunftsfähigkeit und ein Relikt systemischer Mutlosigkeit. Ein Land, das Wohlstand gewährleisten will, muss sein Vorsorgesystem objektiv, willensstark und ohne nostalgische Illusionen erneuern. Jeder andere Weg fährt vor die Wand und wir haben sie schon nah vor Augen.

Das einfache Resümee: Rente ist kein Versprechen des Staates. Rente ist ein Versprechen der Gesellschaft an sich selbst. Ein Versprechen, das nur dann gültig bleibt, wenn es auf Gegenseitigkeit beruht. Neue Generationenverträge sind ultimativ, um Ältere und Jüngere gleichermaßen zu schützen. Entscheidungen weiter aufzuschieben, bedeutet Zukunftszerstörung. Insofern kann man sagen: Deutschland hat kein Renten-, sondern ein Mutproblem!

Als Soziologe forscht Thomas Druyen seit 30 Jahren die psychologischen Auswirkungen von Wandel und leitet zwei Institute an der Sigmund Freud Universität in Wien. Er ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen seine persönliche Auffassung auf Basis seiner individuellen Expertise dar.