Es war im Oktober 1991, da reiste Helmut Kohl nach Brasilien. In der Hauptstadt Brasilia bedankte sich der deutsche Bundeskanzler „herzlich“ bei den Bürgern Brasiliens für ihre Gastfreundschaft, „die mir und meiner Begleitung hier zuteilwurde“.
Es ging Helmut Kohl um die Umwelt und die weltweite Verantwortung für das Wohlergehen des brasilianischen Regenwaldes. Damals hieß es noch nicht „Klima“. Kohl sagte, die vielen Naturvölker und „kleinbäuerlichen Siedler“ müssten in die globalen Bestrebungen zur Rettung des einzigartigen Ökogebietes unbedingt einbezogen werden. Und weil ihm das so wichtig war, ließ Helmut Kohl auch eine konkrete Summe in Brasilien: 250 Millionen D-Mark, als Goodwill-Auftakt für den Regenwald.
Kohl wusste, was sich gehört
In Brasilia, einer Art sozialistischer Modellstadt mit dem Charme von Berlin-Marzahn, war es heiß und schwül, und nachmittags regnete es heftig. Abends, nach der Arbeit, wären wir, der Autor war auf der Reise dabei, auch gerne noch in irgendeine Kneipe gegangen, allein – in diesem aseptischen Regierungsviertel gab es keine.
Auf dem Rückflug in der Regierungsmaschine unkten wir Journalisten, man sollte das hier nicht wiedergeben. Von Helmut Kohl kein blödes Wort. Auch nachher nicht, schon gar nicht über die Schönheit Deutschlands im Verhältnis zu Brasilien. Kohl, Deutschlands Chefaußenpolitiker, der im Jahr zuvor bei Michail Gorbatschow im Kaukasus den Schlüssel zur Wiedervereinigung abgeholt hatte, war klar – so etwas gehört sich nicht.
Friedrich Merz: Ein billiger Scherz zu Lasten eines großen Landes
Deutschland hat nun wieder, nach eigenem Bekunden, einen Chefaußenpolitiker. Und dessen außenpolitische Bilanz sieht in Bezug auf Südamerika so aus: Ein Land, Brasilien, hat Friedrich Merz – mit einem billigen Joke – herabgesetzt. So sehr, dass der dortige Präsident, ein Sozialist, sich genötigt sah, sein Land und dessen Bewohner gegen den unfreundlichen Besucher aus Deutschland zu verteidigen.
Den Präsidenten Argentiniens hat Friedrich Merz schon mal ganz direkt beleidigt. Obwohl Javier Milei, im Unterschied zum deutschen Bundeskanzler, seine Wahlversprechen gehalten hat. Und „gestanden“ hat für seine marktwirtschaftlichen Ideen, auch bei heftigem Gegenwind. Merz über Milei: „Dieser Präsident ruiniert das Land und tritt die Menschen mit Füßen.“
Milei saniert gerade sein Land. Weniger Staat, mehr Freiheit, das ist sein Rezept. Es funktioniert einstweilen, so viel kann man festhalten. Von Mileis Performance als Reformer ist Merz jedenfalls ausweislich des Urteils der fünf hiesigen Wirtschaftsweisen weit entfernt. Aktuell harrt das deutsche Rentensystem einer Reform. Mehr Beamte wurden eingestellt.
Friedrich Merz berichtete, nicht ohne Stolz, gepaart mit sehr sichtbarer Herablassung, auf dem Rückflug aus dem brasilianischen Belem habe er die Journalisten gefragt, wer von ihnen gerne dort geblieben wäre. Hätte Helmut Kohl damals dasselbe gefragt, ich hätte nicht gezögert. Es gibt in Brasilien nicht nur Brasilia.
Niemand, berichtete Merz, habe die Hand gehoben. Vielmehr seien alle froh gewesen, von „diesem Ort“ wieder nach Deutschland zurückzukehren. Denn, und das war die Pointe, die Merz setzen wollte: Man lebe doch in Deutschland in einem der schönsten Länder der Welt.
Der Unterschied zwischen Patriotismus und Nationalismus
Wir wollen auch nicht päpstlicher sein als der Papst – aber wie heißt das noch mal, wenn man ein anderes Land in der Absicht herabsetzt, das eigene zu befördern? Es gibt einen Unterschied zwischen Patriotismus und Nationalismus. Merz hat gesagt, was er sagte, nicht nach dem fünften Bier am Stammtisch einer Eckkneipe nahe Arnsberg, sondern: vor dem heimischen Handelskongress zu Berlin.
Besser wird die Bemerkung von Merz nun auch nicht durch die Art ihrer Aufarbeitung. Der Kanzler werde sich nicht dafür entschuldigen, stellte sein Regierungssprecher klar. „Er hat gesagt, wir leben in einem der schönsten Länder der Welt und das hat er auf Deutschland bezogen.“ Brasilien, sagte Stefan Kornelius, gehöre zwar auch zu den schönsten Ländern der Welt. Aber: „Dass der deutsche Bundeskanzler hier eine kleine Hierarchisierung vornimmt, ist, glaube ich, jetzt nicht verwerflich.“
Auch Lula hätte einfach elegant schweigen können
In Bezug auf die Hierarchisierung, also die Herunterstufung seines Landes, war nicht nur Brasiliens Präsident Lula da Silva wohl anderer Meinung. Rios Bürgermeister, ein Genosse Lulas, nannte Merz kurzerhand einen „Nazi“ (was er später zugunsten der brasilianisch-deutschen Freundschaft relativierte).
Das ist natürlich völlig „drüber“, und auch Lula hätte einfach elegant schweigen können, Eleganz ist seine Sache aber nicht. Doch wie immer man es auch dreht: Die Vorlage hat der deutsche Bundeskanzler geliefert. Nationaler Überschwang vergiftet die Beziehungen von Ländern. Es ist keine neue Erkenntnis.
Zuletzt lobte Merz sich dafür, mithilfe des Milliarden-Sondervermögens und dem dadurch rasant gestiegenen deutschen Verteidigungsbeitrag die Nato quasi gerettet zu haben. Der Kanzler meinte das im Ernst, er hat es mehrfach gesagt.
"Germany is back" und "Deutschland ist wieder wer"
Merz versprach auch, Deutschland werde die stärkste konventionelle Armee Europas haben. Wie wirkt so was auf die Polen, die schon so viel länger als Deutschland die Russen als militärischen Gegner ernst nehmen – und auch in Verteidigung mehr investieren als die Deutschen? Wie auf die Finnen, die jetzt schon eine 1340 Kilometer lange Grenze zu Russland verteidigen – für sich, für die Nato und damit auch für Deutschland?
„Germany is back“. Das sagte der Fraktionsvorsitzende Jens Spahn über die Außenpolitik seines Kanzlers.
Auf dem Deutschlandtag der Jungen Union bedankte sich ein Delegierter, Laurenz Kiefer von der Jungen Union München, bei Merz für seine Außenpolitik mit den Worten: „Wir sind wieder wer in der Welt. Das ist ihr Verdienst.“ Es war jedenfalls einer der eher raren Momente, in denen die JU-Delegierten ihrem Kanzler großen Beifall spendeten.
Im Hinblick auf Belem und die durch Merz ausgelösten internationalen Irritationen kehren jetzt Sozialdemokraten die Scherben auf. Es lässt sich auch lesen als besonders hinterhältige Form der Belehrung über die wesentlichen Staatsdinge.
Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil verteidigt Merz geradezu gönnerhaft aus China. China – zuletzt musste der von Merz erwählte Außenminister Johann Wadephul eine China-Reise absagen, nachdem sie ihm dort die kalte Schulter gezeigt hatten. Wadephuls Loyalitätsadresse an Taiwan hatte Pekings Missfallen geweckt. Taiwans Demokratie gegen Chinas Diktatur zu verteidigen ist sicher grundsätzlich richtig, aber: Wie verträgt sich das dann mit der Doktrin der Ein-China-Politik Pekings, zu der Deutschland steht?
Deutschlands Rolle bei Israel und die Ukraine
Aus dem Regenwald postete der sozialdemokratische Umweltminister Schneider ein Freundschafts-Foto mit einem indigenen Bewohner. So macht man das, Kanzler! – war seine Botschaft.
Und dann der Wankelmut von Merz und Wadephul in der Israel-Politik: Gerade wurde die deutsche Nicht-Waffenlieferung wegen Gaza wieder revidiert. Ein Beispiel außenpolitischer Professionalität war dies gewiss nicht, vor allem wenn kaum ein Zweifel daran besteht, dass Deutschlands (und Europas) Einfluss im Nahostkonflikt sich nahe der Null-Linie bewegt.
Nicht anders ist es auch bei der Ukraine. Sollte es dort einen Frieden geben (was auch immer das dann genau ist) – er wird mit Deutschlands (und Europas) Außenpolitik sicher nichts zu tun haben. Mehr noch: Während Ursula von der Leyen offensichtlich gerade versucht, das eigentliche Verbot von Eurobonds zu umschiffen, um neue Finanzquellen für die Ukrainehilfe zu requirieren, verhandeln die Amerikaner direkt mit den Russen über einen Frieden. Was ein Bild verstärkt, das von ganz rechts und ganz links gezeichnet wird: Russen und Amis arbeiten am Frieden, die Europäer arbeiten am Krieg.
Strich drunter: Deutschland ist weder eine moralische noch eine militärische und immer weniger eine ökonomische Großmacht. Vielleicht sollte man nicht versuchen, die inneren Defizite durch äußeren Triumphalismus zu kompensieren.