„Handys sind für mich Prothesen. Wir vermissen sie, wenn sie nicht mehr da sind“, sagte Amy Mullins 2018 auf der Digitalkonferenz SXSW in Austin. Und die paralympische Sprinterin und Schauspielerin, die schon als Kleinkind beide Unterschenkel verlor, machte eine prophetische Prognose: „Der nächste Schritt werden Prothesen sein, die man nicht mehr ablegen muss.“
Eine solche ist selbst aus der „Lindenstraße“ allgemein bekannt. Das Cochlea-Implantat ist eine Hörprothese, die Gehörlosen und Schwerhörigen hilft, eine hörähnliche Wahrnehmung zu entwickeln.
Künstliche Intelligenz, wissenschaftliche Erkenntnisse und neue Werkstoffe lassen dieses Implantat gestrig wirken: Wir stehen vor einer Ära, in der Augmented Robotics die Idee des Cyborgs, also einer Mischung aus Mensch und Maschine, nicht mehr wie Science-Fiction wirken lassen und wir ein Stück weit neu definieren müssen, was es bedeutet „Mensch“ zu sein.
Exoskelette mindern physische Belastung
Die ersten Beispiele sind selbst dort zu finden, wo die meisten es vielleicht nicht erwarten: auf deutschen Bau-stellen. Exoskelette sind Gerüste, die in bestimmten Körperregionen menschliche Kraft verstärken oder Belastungen abfedern.
Sie mindern bereits heute die physische Belastung, wenn Decken über Kopf abgeschliffen werden oder schwere Lasten gehoben werden müssen. Der Augmented Robotics Technologie Nutzfahrzeughersteller MAN setzt Exoskelette systematisch bei der Wartung und Reparatur von LKW und Bussen ein.
Der Skeletthersteller zeigt, wie die Entwicklungskette dieser Gerätschaften verläuft: Es handelt sich um Ottobock, den Duderstadter Hersteller von Prothesen und Rollstühlen.
Operateure haben freien Blick auf Operationsstelle
In Operationssälen sind Roboterarme schon Alltag. Gesteuert werden sie von Chirurgen, die mit speziellen Joysticks und Monitoren arbeiten. Die Operateure haben dadurch immer einen freien Blick auf die Operationsstelle, während die Roboterarme Schwankungen so gut ausgleichen, dass Chirurgen länger arbeiten können, ohne Angst vor Zittrigkeit zu haben.
Wer den Begriff Augmented Robotics weit dehnen möchte, könnte Wearables wie die Brillen von Meta und Apple hinzunehmen. Doch das wäre unfair, wirken sie doch wie Spielzeug verglichen mit dem münzgroßen Chip in der Schädeldecke von Noland Arbaugh.
Von diesem kleinen Implantat ragen Drähte in sein Hirn, die feiner sind als seine Haare. Sie sind so fragil, dass nur ein Operationsroboter sie anbringen kann. Diese Drähte belauschen die Neuronen von Arbaughs Hirn und übermitteln ihre Signale an den Chip.
Hersteller von Telepathy ist Neuralink
„Telepathy“ heißt dieses System und Arbaugh, seit einem Schwimmunfall von der Schulter ab gelähmt, ist der Erste, dem es implantiert wurde. Jene Fäden lesen seine Hirnsignale, so dass er einen Computercursor mit Gedanken steuern und sogar Computerspiele bedienen kann, bei denen es nicht um schnelles Ballern geht, zum Beispiel Schach oder Civilization.
Hersteller von Telepathy ist Neuralink, ein Startup aus dem Portfolio von Elon Musk. Und so überrascht es vielleicht nicht, dass Arbaughs Implantat Probleme entwickelte. Einen Monat nach der OP hatten sich 85 Prozent jener Fäden vom Chip gelöst, nur ein Software-Update sorgte dafür, dass dem Gelähmten einige der Telepathy
Funktionen erhalten blieben. Ein zweiter Eingriff schuf Abhilfe, nun hofft Arbaugh, eines Tages seinen Rollstuhl mit Gedanken steuern zu können. Was er in sich trägt, fällt in die Rubrik BCI – Brain Computer Interface.
Die Zahl der potenziellen Nutzer einer solchen Technik ist hoch. Laut Morgan Stanley besitzen 16 Prozent der Weltbevölkerung eine mittlere bis schwere Behinderung – von Blindheit bis Querschnittslähmung. Potenziell könnten sie alle von BCI profitieren. Manche werden wieder gehen können, andere sehen, für wieder andere könnte sich das Alltagsleben ein Stückchen einfacher gestalten.
Arbeit in diesem Feld teilt sich in zwei Bereiche
Die Marktforscher von The Brainy Insights glauben, dass in den kommenden zehn Jahren der BCI-Markt auf 8,37 Milliarden Dollar wachsen könnte. Auch wenn das zu optimistisch sein könnte: Der serienmäßige Einsatz der Technologie steht bevor.
Die Arbeit in diesem Feld teilt sich in zwei Bereiche. Einerseits, sozusagen, die Software in Gestalt der Übersetzung von Hirnaktivität in mechanische Befehle, andererseits die Hardware, die diese Signale aufnimmt und weitergibt.
Am ersten Bereich forschen Hochschulen wie Unternehmen seit Jahrzehnten. Schon Anfang der Nuller Jahre lasen erste Hirnimplantate Neuronensignale aus, 2017 schrieb Facebook in seinem Firmenblog, dass der Konzern an einem BCI arbeite. Dieses solle wie eine Tastatur funktionieren, nur dass die Nutzer Worte nicht tippen, sondern sie denken.
Fortschritte im Bereich der Hardware sind beeindruckend
2023 zeigte die Universität Texas eine Mischung aus MRT und Large Language Model, die unbewusste Gedanken auslesen und verschriftlichen kann. Snapchat und Apple arbeiten ebenfalls an der Erkennung von Hirnaktivität, um ihre Geräte zu steuern.
Auch im Bereich der Hardware sind die Fortschritte beeindruckend. Denn jenes Bohren am Schädel und Einführen von Drähten, das bei Neuralinks Modell nötig ist – das geht auch weniger invasiv.
Synchron aus Brooklyn arbeitet mit Stents, also jenen Hülsen, die ansonsten in der Kardiologie im Einsatz sind, um die Verstopfung von Arterien zu verhindern. Nun werden Stents via Katheter über die Blutbahn in die Großhirnrinde transportiert.
Precision aus Manhattan geht anderen Weg
Dort angekommen entfaltet sich der Stent und nimmt wie eine Antenne die elektrischen Neuronensignale auf. Ein hauchfeines Kabel leitet sie dann an ein Endgerät weiter. Mehrere Gelähmte können so Texte verfassen, in Kombination mit einer Apple-Brille ist sogar die Steuerung von Haushaltstechnik möglich.
Einen anderen Weg geht Precision aus Manhattan. Das 2021 gegründete Unternehmen hat eine Art Klebefilm entwickelt, der durch einen schmalen Schlitz in der Schädeldecke eingeführt und dann ausgebreitet wird. Im Film enthalten sind dann Elektroden, die Neuronenaktivität messen. Vorteil gegenüber Neuralink: Der Film liegt auf dem Hirn und muss nicht in die Gehirnwindungen eingearbeitet werden.
Im April 2025 erteilte die US-Gesundheitsbehörde FDA Precision die Freigabe, um das System bis zu 30 Tage im Körper von Patienten zu belassen. Mit dieser begrenzten Zulassung ist Precision der größte Hoffnungsträger des BCI-Marktes und damit auch für Millionen von Menschen, die ihre Behinderung überwinden möchten – oder die Grenzen ihres Körpers.
Für Musk kein wohltätiger Zweck im Zentrum von Neuralink
Denn die medizinischen Anwendungen stehen nicht für jeden im Vordergrund. Die chinesische Regierung experimentiert seit fast 10 Jahren mit Kappen, die Hirnaktivitäten von außen messen. Damit wird die Stimmung von Soldaten oder Fabrikarbeitern protokolliert.
DARPA, jene Forschungs- und Entwicklungseinheit der US-Streitkräfte, der auch das Internet entsprang, ist ebenfalls im Spiel. 2015 erklärte ein Abteilungsleiter, man arbeite daran, „den Geist von den Limitationen selbst eines gesunden Körpers zu befreien“. DARPA präsentierte bereits einen hochleistungsfähigen Exo-Arm, der mit Hirnwellen angesteuert wird.
Und auch für Elon Musk steht kein wohltätiger Zweck im Zentrum von Neuralink, schreibt das US-Magazin Vox.com. Seine Ambition sei eine Symbiose mit Künstlicher Intelligenz zu erzielen, eine Verschmelzung menschlicher Gedanken mit denen der Maschine. Ansonsten würde der Mensch zurückbleiben, entstehe erst eine Superintelligenz, die das Ziel verfolge, die Menschheit zu vernichten.
Deshalb setzt Neuralink auf derart invasive Technik: Sie ermöglicht eine schnellere Übertragung der Neuronenaktivität, eine Menschmaschine könnte also schneller reagieren und so Kampfroboter besiegen. 2017 schrieb Musk auf Twitter über Telepathy: „Stellt euch vor, Stephen Hawking könnte schneller kommunizieren als ein sehr schneller Sekretär oder ein Auktionator. Das ist das Ziel.“
2035 haben Teil- oder Ganzkörperskelette Rollatoren weitgehend ersetzt
Nichts hat das Alt-Sein mehr verändert als Exoskelette. Alles begann mit MO/GO, einer Kooperation der Outdoor-Marke Arc’teryx und dem Exo-Startup Skip. Sie entwickelten eine Wanderhose mit Exo-Motor am Knie. Sämtliche Chargen des 4.999 Dollar teuren Projektes verkauften sich bereits im Presale 2025 und gründeten eine neue Sportdisziplin: Power-Wandern.
Der Erfolg zeigte, dass Menschen keine Hemmungen haben, sich mechanische Gerätschaften an den Körper zu heften. Gleichzeitig sammelte Skip so viele Erfahrungen mit dem Einsatz seines Modells unter widrigen Bedingungen, dass es zu einem der führenden Exo-Anbieter wurde.
2035 haben Teil- oder Ganzkörperskelette Rollatoren weitgehend ersetzt. Nicht nur, weil sie gebrechliche Menschen stabiler auf den Beinen halten. Gleichzeitig sind in ihnen kleine Airbags verbaut, die Stürze mildern. Außerdem hilft ihre Konstruktion, eine physiologisch richtige Haltung zu trainieren und unterstützt den Muskelerhalt im Alter.
Entwicklung im Bereich Brain Computer Interfaces langsamer
Deshalb werden die Gerätschaften in der Physiotherapie präventiv eingesetzt, um Bandscheiben-OPs und Fehlbildungen zu verhindern. Im Profisport werden auf diesem Weg dagegen gezielt Muskelgruppen trainiert, ambitionierte Amateure leihen sich die Skelette bei Spezialhändlern aus, wenn sie sich den Kauf nicht leisten wollen.
Auch in der Arbeitswelt hat Augmented Robotics einiges verändert. Neben den aufwendigen Skeletten für extreme Lasten gibt es nun Exo-Suits, die leicht anzulegen sind und in denen die motorische Unterstützung elegant verbaut ist. Sie sind Alltag in der Kranken- und Altenpflege, bei Feuerwehren und der Polizei.
Die Entwicklung im Bereich der Brain Computer Interfaces verläuft langsamer. Das liegt nicht am Auslesen der Neuronenaktivität. Die Fortschritte in diesem Feld haben eine neue Generation von Lügendetektoren ermöglicht. Statt Körperreaktionen werden nun Hirnströme mit Kappen ausgemessen, die sich die Befragten aufsetzen.
Reaktion der Systeme ist noch langsam
Diese Technik ist das Fundament für Hightech-Prothesen, die sich unter Menschen mit fehlenden Gliedmaßen, aber ausreichend finanziellen Mitteln, verbreiten: Roboter-Arme und -Beine, die über neuronale Signale, gemessen mit Kappen oder Stirnbändern, gesteuert werden.
Allerdings: Die Reaktion dieser Systeme ist noch langsam. Wer Beinprothesen auf diesem Weg verwendet, kann langsam gehen, aber nicht rennen. Dies ist der Übertragungsrate zwischen Hirn und Maschine geschuldet. Weshalb bereits die Higher Tech-Variante vor der Tür steht: Prothesen-Steuermodule von Precision und Neuralink erfordern eine Operation, sind aber rasanter in der Reaktion.
Derweil kämpfen die BCI-Anbieter um eine Verwendung ihrer Technik außerhalb des medizinischen Bereichs. Dort können sie tausende erfolgreicher Operationen vorweisen. Nun aber wollen sie an einen margenstärkeren Markt: So mancher Superreiche würde gern auch zum Superdenker. Vorgemacht hat das Elon Musk, 2034 ließ er sich den neuen Neuralink-Chip einsetzen – BCI mutierte zum Status-Symbol.
Medizinische Gründe werden vorgeschoben
Die Forschung in diesem Bereich hat sich derweil verschoben. Nachdem das Lesen von Neuronenaktivitäten keine wirkliche Herausforderung mehr darstellt, geht es nun um das Schreiben: Können BCI gezielt Hirn-funktionen beeinflussen?
Wieder werden medizinische Gründe nach vorn geschoben. Wäre dieses Beschreiben der Hirnaktivität möglich, könnten psychische Erkrankungen ohne jedes Medikament und ohne Nebenwirkungen geheilt werden – eine Revolution. Allerdings eine, für die Menschen sich den Kopf aufbohren lassen müssen.
Diese Beeinflussung dient aber auch düsteren Zielen. Soldaten könnten jedweder Müdigkeit beraubt und mit Aggressivität vollgepumpt werden, gleichzeitig gibt es erste Ergebnisse, dass ihre Sehkraft gesteigert werden kann.
Fallen neuronale Signale unter Datenschutz?
Das gilt genauso für ihre Reaktionsgeschwindigkeit: Daten aus Drohnen, Radar und Sensoren werden in Tests in KI-generierte Hochgeschwindigkeitsentscheidungen verwandelt, der Chip im Hirn macht den Soldaten nur noch zum ausführenden Element – Cyborgs könnten in absehbarer Zeit Realität werden.
Schließlich gibt es eine verlockende Möglichkeit, die auch Musk reizt: Über BCI könnte Wissen ins Hirn transportiert werden. Menschen könnten weitaus mehr lernen als bisher und das innerhalb kürzester Zeit – der Begriff „Superhirn“ bekäme eine neue Bedeutung. Wie das genau gehen soll, ist aber offen.
Die Gesellschaft führt seit Jahren eine andere Diskussion: Fallen die neuronalen Signale unter Datenschutz und Privatsphäre? Die Europäische Union meint: ja. Sie plant einen Brain-Data-Act, um die Nutzung dieser Informationen einzuschränken.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „20 Trends für 35 – Warum vieles besser wird, als Sie denken“. Mehr Informationen: https://www.zwanzigtrends.com
Über die Autoren
Thomas Knüwer ist einer der bekanntesten Digitalvordenker Deutschlands. 14 Jahre betreute er für das Handelsblatt Themen rund um die digitale Transformation, bevor er als Gründungschefredakteur die deutsche Ausgabe des global renommierten Innovationsmagazins Wired konzipierte. 2009 gründete er die Digitalberatung kpunktnull, deren Arbeit mit mehreren Deutschen Preisen für Onlinekommunikation ausgezeichnet wurde. Außerdem ist er Mitgründer und -ausrichter der Goldenen Blogger, Deutschlands bekanntestem Award für Social Media, Influencer und Creator.
Richard Gutjahr zählt zu den einflussreichsten Tech-Journalisten des Landes. Nach Stationen bei Süddeutsche Zeitung, CNN, BR und WDR arbeitet er heute als freier Reporter für die ARD sowie als Kolumnist für zahlreiche Tageszeitungen und Fachzeitschriften. 20 Jahre moderierte er diverse News-Formate und -Magazine für den ARD-Verbund. Für seine Reportagen und Online-Projekte wurde Gutjahr national wie international mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Daneben unterrichtet er Social Media und Mobile Reporting an Journalistenschulen in Deutschland, Österreich und in der Schweiz.
Frank Horn ist einer der führenden Digital- und Transformationsexperten und hat in den vergangenen Jahren sowohl als Berater als auch als Führungskraft viele Unternehmen beim Wandel unterstützt. Aktuell ist er Partner der Unternehmensberatung kpunktnull. Zuvor war er bei mehreren Konzernen wie Bertelsmann, DHL Group oder Henkel in Führungspositionen tätig. Neben seiner Konzernerfahrung bewies er seinen Unternehmergeist durch den erfolgreichen Aufbau eines Internet-Startups.