Implodiert die Koalition wegen der Rente? Diese brisanten Szenarien kursieren

Die Regierung aus Union und SPD könnte mit dem Streit über das Rentenpaket den nächsten ordentlichen Knacks bekommen. Inzwischen wird unter anderem deshalb offenbar auch in "Teilen des harten Kerns" um Kanzler Friedrich Merz das Szenario einer Minderheitsregierung diskutiert. Das berichtet unter anderem die "Bild".

Soll Spekulation um Minderheitsregierung Druck aufbauen?

Hinter den Spekulationen, die Union würde womöglich aus der Regierung aussteigen, stecke vor allem Taktik, heißt es aus CDU-Kreisen auf Anfrage von FOCUS online. Man wolle "Druck auf die jungen Abweichler in den eigenen Reihen erzeugen" und den linken Rand der SPD gleichzeitig einhegen.

Andere verweisen darauf, dass das Spiel mit den Szenarien die ganz normale Arbeit von Parteistrategen ist. Im Konrad-Adenauer-Haus wie auch im Willy-Brandt-Haus müssen sie auf alle Eventualitäten vorbereitet sein – auch auf eine neue Kommunikationsstrategie, die wohl nach einem Koalitionsbruch notwendig wäre. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass das Szenario aktiv betrieben wird, wie es offenbar vor dem Ampel-Aus bei der FDP der Fall war.

"Konkrete Pläne einer Minderheitsregierung sind Quatsch"

Soweit ist es bislang nicht – wenn es überhaupt solche Gedankenspiele gibt. Der CDU-Abgeordnete Thomas Rachel sagt zu FOCUS online: "Die Wähler haben bei der vergangenen Bundestagswahl entschieden und ihren Auftrag an die Parteien vergeben. Die Parteien in der demokratischen Mitte sind nun gefordert, an notwendigen Lösungen zusammenzuarbeiten."

"Überlegen kann man ja viel. Aber konkrete Pläne einer Minderheitsregierung sind Quatsch", sagt ein ranghohes Mitglied der Unionsfraktion. Eine andere Abgeordnete sprach von einer Phantomdebatte, die lediglich in den Medien stattfinde. "In der Fraktion ist die Minderheitsregierung kein Thema." Allerdings sind diejenigen, die einer Minderheitsregierung etwas abgewinnen könnten, auch eher in der Partei und ihren Vorfeldorganisationen zu finden als in der Fraktion. So nehmen es zumindest manche Abgeordnete wahr.

Rentenstreit mit der Jungen Union: Darum geht es

Hintergrund des Rentenstreits ist, dass Bundeskanzler Friedrich Merz die jungen Unionsabgeordneten nicht eingefangen bekommt. Die sogenannte Junge Gruppe will auch nach wie vor den Rentenplänen nicht zustimmen. Im Zentrum des Konflikts steht die sogenannte Haltelinie, also das Absicherungsniveau der Rente im Verhältnis zu den Löhnen. Im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD wurde vereinbart, bis 2031 die Haltelinie für das Rentenniveau bei 48 Prozent zu verlängern. 

Im Rentengesetzentwurf, der jetzt zur Abstimmung steht, ist jedoch zusätzlich vorgesehen, dass auch nach 2031 das Rentenniveau um rund einen Prozentpunkt höher als im geltenden Recht liegen soll. Dem Zusammenschluss der CDU/CSU-Abgeordneten unter 35 Jahren geht das zu weit. Die Junge Gruppe befürchtet Mehrkosten von mehr als 100 Milliarden Euro. 

Johannes Winkel
Johannes Winkel, Chef der Jungen Union, stellt sich beim Rentengesetz gegen Bundeskanzler und CDU-Chef Friedrich Merz. Michael Kappeler/dpa

Die jungen Abgeordneten bringen es zusammen auf 18 Stimmen. Aber auch andere Teile der Fraktion sehen die Pläne skeptisch. Möglicherweise könnten so bis zu 40 Abweichler zusammenkommen. Die schwarz-rote Koalition hat aber nur eine Mehrheit von 12 Stimmen im Bundestag.

Linke hat Sympathien für Renten-Plan, aber will Gegenleistung

Auf Unterstützung aus der Opposition für das Rentengesetz sollte sich Merz nicht verlassen. Zwar sind sowohl Grüne als auch Linke grundsätzlich dafür, das Rentenniveau zu stabilisieren beziehungsweise anzuheben. Die beiden Parteien haben aber jeweils gute Gründe, der Koalition nicht zu einer Mehrheit zu verhelfen.

Sarah Vollath, die rentenpolitische Sprecherin der Linken, hält den Widerstand der Jungen Gruppe gegen das Rentengesetz für "einen scheinheiligen PR-Stunt auf dem Rücken der jungen Generation". Zu FOCUS online sagte sie: "Wer die Rente heute schwächt, sorgt dafür, dass junge Menschen in Zukunft in Altersarmut leben müssen." 

Vollath lässt offen, ob sie die „Inszenierung der Jungen Gruppe“ mit einer eigenen Zustimmung zum Gesetz entgegentreten würde. Auch ihre Parteichefin Ines Schwerdtner sprach am Montag lediglich davon, dass man über die Zustimmung beraten werde. Bei den Überlegungen dürfte dann auch eine Rolle spielen, ob man der Union zum wiederholten Male aus der Patsche hilft, ohne dass es eine Gegenleistung gibt.

Ohne die Linke wäre es zum Beispiel nicht zu einem schnellen zweiten Wahlgang bei der Kür von Kanzler Friedrich Merz gekommen. Die Linke hatte sich erhofft, dass die Union im Gegenzug ihren Unvereinbarkeitsbeschluss aufweicht. Das ist aber bislang nicht zu erkennen – was die Bereitschaft mindern dürfte, nun das Rentengesetz zu retten.

Grüne finanzpolitisch konservativer als Teile der Union

Eine Kooperation von Union und Grünen würde für keine größeren ideologischen Schmerzen sorgen. Doch die Grünen sind mittlerweile in Teilen finanzpolitisch konservativer als manche in der Union: Die Milliarden-Zusatzkosten ab 2031, die die Junge Gruppe der Union kritisiert, sorgen auch bei den Grünen für Bauchschmerzen. Fraktionsvize Andreas Audretsch sagte n-tv am Montag: "Wir dürfen die Kosten nicht der jungen Generation aufbürden."

Timon Dzienus, Obmann der Grünen im Sozialausschuss, äußert sich auf Anfrage von FOCUS online deutlich: "Wir sind nicht der Mehrheitsbeschaffer der Koalition. Ich erwarte vom Bundeskanzler eine Rentenreform, die nicht Generationen gegeneinander ausspielt, sondern das System gerechter und verlässlicher macht." Inhaltlich ist Dzienus aber für eine Absicherung des Rentenniveaus. "Die Rente wird nicht stabiler, wenn das Niveau ständig in Frage gestellt wird, sondern indem Löhne steigen und mehr Menschen ins Rentensystem einzahlen."

"Gibt zum Glück viele, die zwei Schritte vorausdenken können"

Das Rentengesetz soll eigentlich in der ersten Dezemberwoche oder in der Woche vor Weihnachten vom Bundestag beschlossen werden. Kanzler Merz will diesen Zeitplan einhalten und auf keinen Fall eine Verschiebung ins neue Jahr riskieren. Dann würde die Koalition mit einer ähnlichen Krise in die Winterpause gehen, wie sie nach der gescheiterten Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf zur Verfassungsrichterin in die Sommerpause gegangen ist.

Merz will auch den Spekulationen um eine Minderheitsregierung den Wind aus den Segeln nehmen. Am Montag sagte er: "Es ist aus meiner Sicht ausgeschlossen, so etwas zu machen." Und weiter: "Glaubt denn irgendjemand ernsthaft, wir könnten in diesem Deutschen Bundestag mit wechselnden Mehrheiten arbeiten und da noch vernünftige Gesetzgebungsarbeit machen?"   

"Es gibt zum Glück viele in der Koalition, die zwei Schritte vorausdenken können", sagt ein CDU-Abgeordneter, um die Spekulationen über eine Minderheitsregierung zu entkräften. Was er damit meint: Sowohl die Union als auch die SPD würde ein Bruch der Koalition in neue strategische Schwierigkeiten bringen.

Minderheitsregierung: Merz müsste Klingbeil entlassen

Das wird schon deutlich, wenn man beleuchtet, welche Wege in eine Minderheitsregierung führen würden. Zum einen könnte die Union aktiv werden. Es läge dann an Merz, den Bundespräsidenten um die Entlassung von Vizekanzler Klingbeil zu bitten – so wie Olaf Scholz mit der Entlassung Christian Lindners vor einem Jahr das Ende der Ampel eingeleitet hatte. 

Merz dürfte derzeit aber nur wenig Interesse haben, proaktiv die Regierung zu sprengen. Es wäre das Eingeständnis des Scheiterns. Und er müsste dann für jedes Gesetzesvorhaben neue Mehrheiten im Bundestag suchen. Eine gerade aus der Regierung geworfene SPD hätte wohl kaum Interesse daran, aus einer schlechteren Verhandlungsposition heraus mit der Union gemeinsame Sache zu machen. Die Grünen könnten sich in Einzelfällen womöglich zu einer Kooperation durchringen – für eine Mehrheit reicht das aber nicht.

Bei CDU-Kooperation mit AfD würde ein heftiger Sturm aufziehen

So lägen die neuen Mehrheiten vor allem rechts. Eine Zusammenarbeit mit der AfD hat Merz aber zuletzt deutlich ausgeschlossen – auch für den Fall einer Minderheitsregierung. Nimmt er seine eigenen Worte ernst, müsste er in dem Szenario das Feld räumen und die Minderheitsregierung durch einen anderen aus der Union führen lassen. Viele munkeln, dieser Mann könnte Jens Spahn sein.

In jedem Fall würde über der Union ein Sturm aufziehen. So wie im Januar, als die Union mit der AfD für einen Migrationsantrag gestimmt hat – nur wahrscheinlich um ein Vielfaches heftiger. Wahrscheinlich gäbe es einen medialen Aufschrei, prominente CDU-Politiker würden aus der Partei austreten, linke Parteien könnten erstarken.

Manche kalkulieren mit SPD-Frust und Opfer-Szenario

Das ist auch vielen in der Union bewusst. Manche, die trotzdem eine Minderheitsregierung erwägen, präferieren daher ein anderes Szenario: dass die Union quasi als Opfer eines Koalitionsbruchs in eine Minderheitsregierung gezwungen wird. Dann könnte das Argument sein: Es kann nicht schon wieder Neuwahlen geben, wir sehen uns in der Verpflichtung, weiter dem Land zu dienen. Mit Blick auf die AfD könnte dann zum Mantra werden, was Merz im Januar sagte: "Eine richtige Entscheidung wird nicht dadurch falsch, dass die Falschen zustimmen."

Zu einem solchen Zwangsszenario käme es dann, wenn die SPD selbst die Regierung verlässt. Das hätte aber gleich einen dreifachen Nachteil für die Sozialdemokraten: Sie würden Einfluss auf das Regierungshandeln verlieren. Die SPD-Minister würden ihre Jobs verlieren, die Parteichefs womöglich zudem ihr Amt. Und ein Aus der Koalition erhöht die Wahrscheinlichkeit von Neuwahlen, die bei den derzeitigen Umfragewerten weitere Verluste für die SPD bedeuten würden.

Haushalt wäre Stolperstein für Minderheitsregierung

Aber selbst wenn die Sozialdemokraten der Union den Gefallen machen und die Koalition verlassen würden, stünde die Rest-Regierung bald vor Problemen: Die AfD würde die Situation wahrscheinlich nutzen, um die Regierung weiter zu beschädigen. Ein verlässlicher Kooperationspartner wäre sie kaum. Zwar könnte die Regierung auch ganz ohne Mehrheit im Bundestag noch Politik machen. Zum Beispiel in der Migrationspolitik könnte sie weiter in der EU eine führende Rolle einnehmen oder Abschiebedeals verhandeln. 

Zahlreiche geplante Gesetze müssten aber warten. Und spätestens, wenn es um den Haushalt für 2027 geht, wäre eine Mehrheit wichtig. Wie nach dem Ampel-Aus ließe sich auch einige Zeit mit der sogenannten vorläufigen Haushaltsführung überbrücken. Aber bei der angespannten finanziellen Lage dürfte das nicht bis zum Ende der Legislaturperiode durchzuhalten sein.

Landtagswahlen können neue Dynamik entfachen

Freilich kann sich die Gewichtung der strategischen Vor- und Nachteile für alle beteiligten Parteien noch verschieben. Die Wahrscheinlichkeit der Szenarien könnte sich in den kommenden Monaten mehrfach verschieben.

Sobald Ende November der Haushalt 2026 verabschiedet ist, wäre eine Minderheitsregierung zumindest für das kommende Jahr finanziell abgesichert. Spätestens im Dezember soll eigentlich die Abstimmung über das Rentengesetz anstehen. Scheitert es am Widerstand der jungen Unionsabgeordneten oder wird auf unbestimmte Zeit vertagt, könnte das den Unmut bei der SPD über die Koalition steigern.

Im neuen Jahr stehen weitere inhaltliche Stolpersteine bereit. So könnte die SPD bei ihren geplanten Steuererhöhungen hart bleiben und den Streit mit der Union eskalieren lassen. Konflikte drohen zum Beispiel auch bei der Abschaffung des Heizungsgesetzes.

Dynamik in der Koalitionsfrage könnte auch rund um die Landtagswahlen entstehen: Im Frühjahr wählen Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, im Herbst Sachsen-Anhalt, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern. Wenn einer der Koalitionspartner dabei sehr schlecht abschneidet, könnte er die Gründe auch in der Bundesregierung suchen – und sie zum Platzen bringen.

Mitarbeit: Ansgar Graw