15 Millionen Euro pro Stunde: Linnemann nennt bedrückende Renten-Rechnung

Kick-off mit Carsten Linnemann: Gestern hat der CDU-Generalsekretär, ein studierter Betriebs- und Volkswirt, Sohn einer Buchhändlerfamilie, mein neues Buch der Hauptstadtpresse vorgestellt. Der Titel: "Systemversagen: Aufstieg und Fall einer großartigen Wirtschaftsnation"

Moderatorin Dagmar Rosenfeld und die versammelten Hauptstadtjournalisten hatten viele Fragen an Linnemann, die dieser nicht nur bereitwillig, sondern leidenschaftlich beantwortete. Eine Zusammenfassung der wichtigsten Fragen und Antworten.

Linnemann: "Koalition hat sich durch Kommissionen Zeit gekauft"

The Pioneer: Deutschland steigt ab und die neue Regierung beruft eine Vielzahl von Kommissionen ein. Ist das die richtige Antwort auf die Krise? 

Carsten Linnemann: Auf der einen Seite kann man nicht große Reformen innerhalb von wenigen Wochen in einen Koalitionsvertrag schreiben. Auf der anderen Seite, wenn man ehrlich ist, hat man sich durch die Kommissionen Zeit gekauft. Aber du kannst dir als Politik nicht unendlich Zeit kaufen. 

Wie blicken Sie heute auf das Land und seine ökonomische Verfassung?

Linnemann: Es gibt kaum noch Erweiterungsinvestitionen in Deutschland. Die Gebäude bleiben stehen, wir produzieren weiter, aber die Erweiterungsinvestitionen finden im Ausland statt. Das Sterben ist unsichtbar. Das, was wir zuvor im kleinen und mittleren Mittelstand erlebt haben – wenn jemand insolvent wurde, fiel das nie auf –, spüren wir jetzt in den Kernbereichen der deutschen Wirtschaft: Maschinenbau, Anlagenbau, Chemie, Automobil. Dieses leise Sterben müssen wir transparent machen, damit wir in Deutschland aufwachen.

Verlorene Wettbewerbsfähigkeit: "Heute sind wir viel teurer als besser"

Nicht der einzige, aber einer der Treiber sind die steigenden Lohnnebenkosten, die von der Politik regelmäßig heraufgesetzt werden. Wie lange noch?

Linnemann: Wir gehen in Richtung von 45 Prozent Lohnnebenkosten; das ist in der Tat einer der Haupttreiber, warum unsere Firmen nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Früher waren wir umso viel besser, wie wir teurer waren. Heute sind wir zwar noch besser. Aber wir sind viel teurer als besser und so verlieren wir die relative Wettbewerbsfähigkeit.

Ihre Antwort?

Linnemann: Friedrich Merz hat bereits auf dem Parteitag in Leipzig vor über 20 Jahren gesagt, dass wir eine Entkopplung der Lohnnebenkosten vom Faktor Arbeit brauchen. Das ist ein zentraler Punkt. 

Linnemann wünscht sich Reformberatungen im Kloster

Es fehlt also nicht an Erkenntnis, sondern es fehlt an Mut, richtig?

Linnemann: Die Sache läuft in Berlin immer gleich ab: In dem Moment, wo ein Reformstück rausgebrochen wird und in die Diskussion geht, sagt reflexartig der Politiker A: "Das geht gar nicht." Und dann sagt Politiker B: "Geht auch nicht."

Wie kommen wir da raus?

Linnemann: Wenn ich einen Traum umsetzen könnte, würde ich sagen, wir schließen uns eine Woche im Kloster ein, schmeißen die Handys weg und nach einer Woche kommen wir mit einer Reformagenda wieder. Alle Parteien müssen auch mit sich selbst mutig sein. Ich glaube, dass es so ein Momentum in Deutschland braucht. 

Und die CDU?

Linnemann: Mir ist bewusst, dass das nur funktionieren kann, wenn die CDU auch mutig mit sich selbst ist. 

Wie organisiert man Mut? 

Linnemann: Beispiel Rentenkommission: Da darf kein Politiker sitzen. Da müssen die Experten sitzen und innerhalb von zwölf Wochen aufschreiben, was zu tun ist. 

"Wenn der Moment nicht kommt, habe ich als Politiker enttäuscht"

Und wie geht es dann weiter?

Linnemann: Dann folgt die Nagelprobe für uns Politiker. Verstecken wir uns dann wieder? Oder sind wir mutig? Es braucht jetzt diesen Moment. Wenn der nicht kommt, muss ich auch für mich sagen, dass ich an der Stelle als Politiker enttäuscht habe.

Sind die Zeiten günstig für eine neue Reformpolitik?

Linnemann: Die Erfahrung lehrt: Je näher der Abstand vom Rücken zur Wand, desto schneller reagiert die Politik. Gerhard Schröder hatte das Glück, in Anführungsstrichen "Glück", an der Wand zu stehen. Fünf Millionen Arbeitslose! Trotzdem war er ziemlich mutig gegen große Teile seiner Partei diese Arbeitsmarktreformen durchzuziehen.

Und heute?

Linnemann: Ich glaube, seit 20 Jahren steht zum ersten Mal das Zeitfenster wieder offen und ich hoffe, dass wir das Zeitfenster nutzen. Wenn wir das nicht hinbekommen, dann bin ich meinem Anspruch, Veränderung durchzusetzen, nicht nachgekommen.

Jede Stunde gibt die Regierung 15 Millionen Euro in die Rentenkasse

Sind nicht im Moment die Mutigen in Ihrer Fraktion die Junge Gruppe, die sich wehrt, gegen ein Rentenpaket, das dreistellige Milliardenbeträge zusätzlich vom Steueretat in die Rentenkasse transferieren will? Unterstützen Sie die Junge Gruppe?

Linnemann: Ich persönlich bin der Meinung: Wenn es eine Rentenkommission gibt und die Sinn machen soll, darf es nicht zu viele Vorfestlegungen geben. Sie müssen sich vorstellen, was dieses Rentenpaket bedeutet: Wenn wir 127 Milliarden Euro jedes Jahr über den Steuerdeckel in die Rente geben, dann sind das 350 Millionen am Tag, das heißt, in jeder Stunde geben wir 15 Millionen Euro Steuergeld in die Rentenkasse. Das geben wir nicht im Ansatz für Bildung und Forschung aus.

Wenn die Reformpolitik mit Ihrem Koalitionspartner, der SPD, nicht funktionieren sollte, wäre dann für Sie eine Minderheitsregierung eine Option? Sinnvolle Entscheidungen mit wechselnden Mehrheiten zu treffen?

Linnemann: Ich glaube, dass eine Minderheitskoalition auf Bundesebene, vor allem mit Blick auf Internationales, kaum möglich ist. Stellen Sie sich mal einen Nato-Gipfel vor, auf dem der Bundeskanzler immer erst einmal zurück nach Deutschland fliegen und schauen muss, ob er für die dortigen Entscheidungen eine Mehrheit organisieren kann. Ich will diese Reformen jetzt haben. Jetzt ist der Moment und ich will mich nicht mit Alternativen beschäftigen. Das können dann andere machen.