Gute Pflege: "Wir brauchen weniger Aufopferung und mehr klare Kommunikation"

FOCUS online: Sie sind CEO eines großen Pflegedienstleisters, also in einer krisengebeutelten Branche tätig. Allen voran scheint es an finanziellen Mitteln zu fehlen…

Christopher Nolde: Das stimmt nicht. Die fehlen gar nicht.

Wie bitte?

Nolde: Ich kann natürlich nur als Geschäftsführer für unsere eigenen knapp 100 Häuser sprechen. Rund 80 unserer Einrichtungen laufen inzwischen ziemlich gut. Da wird Geld verdient. Okay, wir haben auch hier keine zweistelligen, aber durchaus stabile, auskömmliche Margen. Die brauchen wir auch für unsere tollen Pflegekräfte und den Erhalt unserer schönen Häuser. Wenn jedenfalls ein Haus defizitär läuft, liegt das nicht an den Erlösen.

Woran liegt es dann?

Nolde: In der Regel an schlechter Führung. Eine Einrichtung mit guter Führung und klarer Kommunikation verdient Geld.

Und dann ist eine gute Pflege Ihrer Meinung nach auch zu den jetzigen Rahmenbedingungen möglich?

Nolde: So sehe ich das, ja.

Jüngste Fernsehberichte, für die investigativ aus Pflegeeinrichtungen berichtet wurde, lassen daran eher zweifeln. Ein RTL-Reporter-Team um Günter Wallraff war in Pflegeheimen unterwegs. Gezeigt wurden Menschen, die fixiert, misshandelt, allein gelassen wurden.

Nolde: Das sind keine schönen Bilder.

Was steckt dahinter: Überforderte Pflegekräfte?

Nolde: Das kann ich nicht seriös beurteilen. Bei Compassio gilt das Credo "Quality first". Wenn die Qualität der Bewohnerversorgung in einem Haus stimmt, dann sind Mitarbeitende und dann auch Bewohner happy.

Ob man da priorisieren kann?

Nolde: Eine schwierige Frage. Natürlich ist das Bewohnerwohl Ziel all unserer Bemühungen. Aber wer zum Ziel kommen will, muss zunächst an anderer Stelle ansetzen. Ich persönlich glaube, dass auf den Punkt gebracht zuerst die Mitarbeitenden happy sein müssen, dann sind es auch die Bewohner.

Wir brauchen also gute Dienstpläne und Mitarbeitende, die wissen, dass sie nicht aus dem Wochenende geholt werden. Wir brauchen aber auch weniger Aufopferung und mehr klare Kommunikation. Weniger Brände löschen und mehr Struktur. Weniger Angst, dass ein Mitarbeiter kündigt, wenn ich ein kritisches Gespräch führe.

Ist das ein Branchenproblem?

Nolde: Die Pflege ist da schon speziell. Dazu kommt: In der Führungsebene der Pflege wird nicht gut mit Zahlen umgegangen, so jedenfalls meine Beobachtung. In Sachen Wirtschaftlichkeit ist das schwierig.

Und das gilt heute viel mehr als noch vor ein paar Jahren, weil 2022 das sogenannte Tariftreuegesetz eingeführt wurde, mit dem die Gehälter der Pflegekräfte deutlich nach oben gegangen sind. Einige verdienen jetzt bis zu 800 Euro mehr als vorher. Im selben Job. Rechnen Sie das mal für 10.000 Mitarbeitende durch.

So viele haben Sie?

Nolde: Ja, und wir suchen noch weit mehr, da wir neue Häuser aufmachen werden.

Gerade sagten Sie allerdings, am Geld würden die Probleme der Branche nicht liegen.

Nolde: Das sage ich auch weiterhin. Natürlich ist auch die Kostenerstattung gestiegen. Das Geld ist es aber nicht. Das Problem ist vielmehr, dass es kaum eine Branche mit derart starren, festgefahrenen Strukturen gibt.

Nehmen Sie die so genannte Pflegefachkraftquote. Der berühmte Schlüssel, der von Behördenseite eingehalten werden muss. Ob das immer sinnvoll ist? Ich kenne zahlreiche Beispiele aus der Praxis, wo gut geführte, funktionierende Häuser die Quote für einen bestimmten Zeitraum auch mal nicht erfüllen. Andersrum sehe ich Häuser "über Schlüssel", die trotz Qualifikation auf dem Papier nicht funktionieren, wo die Bewohner sich beschweren.

Und die Bürokratie ist auch sonst schlicht der Wahnsinn. Dass der Abteilungsleiter zum Beispiel noch immer mit der Unterschriftenmappe zu mir ins Büro kommt und ich mit dem Kuli händisch 100 Mal unterschreiben muss. Einfach, weil die Ämter das so haben wollen. Und jedes Amt will was anderes.

Was meinen Sie?

Nolde: Naja, jedes Bundesland hat seine eigenen Regeln und Refinanzierungsmodelle.

Sind Sie denn mit Ihren Häusern in allen Bundesländern vertreten?

Nolde: Nein, nur in zehn. Aber was heißt da nur? Hier muss die Handtuchstange 2 cm tiefer hängen als da, dort will man sie 3 cm höher haben… Auf dieser Ebene läuft das.

Wie schaffen Sie es, als Betrieb unter diesen Rahmenbedingungen wirtschaftlich zu sein?

Nolde: Das schaffen Sie nur, wenn Sie operative Exzellenz und bindende Mitarbeiterführung umsetzen. Bis ins Detail.

Was heißt das konkret?

Nolde: Für mich heißt das zunächst mal hinschauen und sich im Zweifel ehrlich und offen eingestehen, was schiefläuft.

Nämlich?

Nolde: In der Pflege wird zu viel gefühlt und zu wenig gemessen. Hart in der Sache, smart im Ton – damit tut sich die Branche schwer.

Auf was spielen Sie an? Die Pflege ist zu rund 80 Prozent mit Frauen besetzt. Sehen Sie hier einen Zusammenhang?

Nolde: Nun ja, der drängt sich möglicherweise schon ein bisschen auf. Frauen wird in der Regel eher Empathie und ein ausgeprägteres Sozialverhalten zugeschrieben. Das sind absolut positive Charaktereigenschaften.

Frauen sind typischerweise auch weniger konfrontativ als Männer. Wir Männer sind ja bekanntlich oft primitive Neandertaler und manchmal auch selbstbesoffene Cowboys. Ein ausgewogener Mix aus diesen sicherlich etwas stereotypischen Eigenschaften dürfte der Schlüssel sein. Nur Mischkulturen sind Hochkulturen, sagt man doch.

Eine Anekdote: Als ich vor mehr als zwei Jahren bei Compassio angefangen habe, kam eine weibliche Führungskraft zu mir und meinte: "Wissen Sie, Herr Nolde, Sie sind ja neu in der Branche, eigentlich sind wir alle Schafe, wir wollen geführt werden." Das kann doch nicht wahr sein, dachte ich. Führung heißt, Verantwortung zu übernehmen. Das wiederum setzt voraus, dass Klartext gesprochen wird. Das Geschwurbel muss aufhören!

Was meinen Sie mit "Geschwurbel"?

Nolde: Da würden jetzt alle lachen bei uns, wenn dieser Begriff fiele. Die Führungsarbeit in der Pflege ist in Teilen zu gefühlsgesteuert. Wenn Sie mal eine solche Teamsitzung miterleben würden, wüssten Sie, was ich meine. Viele Worte, wenig Inhalt. Oft keinerlei Bereitschaft für Kritik. Alles wird persönlich genommen. Der Klassiker sind E-Mails wie diese: "Es wäre super, wenn du mir das schicken könntest…"

Und das ist schlecht?

Nolde: Ja. Zu viel Konjunktiv. Wäre. Könnte. "Ich brauche die Unterlagen bitte bis Ende der Woche". Punkt. Anwälte sind die Meister der verbindlichen Kommunikation. Da könnte sich die Pflege was abgucken.

Was ist denn gegen Freundlichkeit in der Kommunikation einzuwenden?

Nolde: Gar nichts. Wir pflegen einen sehr humorvollen Umgangston. Aber die Freundlichkeit sollte nur dem sachlichen Inhalt die entsprechende Form geben. Wenn die echten Probleme nicht offen ausgesprochen werden, bricht sich der Konflikt Bahn. Über Mobbing, Intrigen und Unwahrheiten.

Pflege
"In der Pflege wird zu viel gefühlt und zu wenig gemessen", sagt Nolde. Imago

In der Pflege fehlt oft die Distanz. Das macht es so schwierig, bei Sachthemen zu bleiben. Landauf, landab werden Sie in sehr vielen Einrichtungen eine toxische Atmosphäre finden. Unter anderem daher ist die Fluktuation und der Krankenstand in dieser Branche weit überdurchschnittlich.

Ist das bei Ihnen anders?

Nolde: Wir arbeiten daran.

Wie genau?

Nolde: Wir versuchen, insbesondere als Geschäftsführer Vorbild zu sein.

Wie das?

Nolde: Unter anderem haben wir ein anonymes Feedback-System, das wir mit dem Smartphone bei vielen Meetings unmittelbar in den letzten zwei Minuten einsetzen. Jeder Teilnehmer bekommt einen QR-Code auf sein Smartphone, über den er denjenigen, der vorne steht und spricht – oft ein Geschäftsführer – bewerten kann.

Erst die Tage hatte ich das, ca. 300 Leute und ein sportliches Thema. Die Feedbacks reichten von "interessant" über "langweilig" bis hin zu "eitler Selbstdarsteller". Jeder kann jedes Feedback in Echtzeit auf dem Monitor sehen. Wird etwas mehrfach genannt, geht es im Ranking nach oben und die Schrift wird größer. Unsere Besprechungen sind unterhaltsamer geworden, kann ich Ihnen sagen!

Was kommt da so an Feedback? Der eitle Selbstdarsteller?

Nolde: Den gab es auch und das ist gut so. Man darf sich nicht so wichtig nehmen. Hauptsache, die Leute trauen sich zu äußern. Anders ist eine transparente Kommunikation nicht möglich. In der Management-Zeit vor mir gab es bei jeder Veranstaltung eine Flasche Champagner für den- oder diejenige aus dem Auditorium, der oder die die erste Frage stellte.

Warum denn das?

Nolde: Als Motivationshilfe. Anders hätte keiner den Mund aufgemacht.

Leiden Sie eigentlich unter dem Fachkräftemangel?

Nolde: Die Branchenfluktuation ist bei uns eher unterdurchschnittlich. Außerdem haben wir ausreichend Bewerber, darunter zunehmend Initiativbewerbungen. Wir haben auch keine nennenswerte Leiharbeit mehr, was in der Branche sonst üblich zu sein scheint.

Also, verglichen mit anderen Einrichtungen, die ein richtig krasses Recruiting-Problem haben, läuft es bei uns. Ziemlich gut sogar. Und das ganz sicher nicht, weil die Mitarbeitenden bei uns mit Samthandschuhen angefasst werden. Das Gegenteil ist der Fall und vielleicht ist das ja das Geheimnis. Eine gewisse Klarheit in der Kommunikation. Und Echtheit. Authentizität.

Was ist bei Compassio echt?

Nolde: Unsere Unternehmenskultur, denke ich. Manchmal ungewöhnlich, aber eben aufrichtig. Nicht von oben herab. Wer beispielsweise in der Chefetage Demut predigt und Luxus lebt, verliert seine Glaubwürdigkeit.

Und Sie leben keinen Luxus?

Nolde: Luxus ist relativ. Ich habe nicht mal ein ordentliches Büro. Ich fahre Zug. Früher gab es Designermöbel und Luxuskarossen. Im 100.000 € Auto mit Doppelauspuff vor dem Pflegeheim vorfahren, ist einfach unpassend.

Kommt Ihr Auftritt bei den Mitarbeitenden gut an? Haben Sie da mal Rückmeldung bekommen?

Nolde: Da sagt natürlich keiner: Du bist so demütig. So trete ich auch nicht auf, ich mache schon meinen Job. Aber nehmen Sie unser Feedback-Tool auf dem Smartphone. Ich glaube, dieser Führungsstil gefällt den Leuten. Keine Frage, wohl auch, weil er erfolgreich ist. Keiner will schließlich in einer Firma arbeiten, die insolvenzgefährdet ist.

Nun haben wir viel über gute Führung gesprochen, über zufriedene Mitarbeitende, über Kultur. Aber reicht das aus, das krisengebeutelte Pflegesystem von dieser Seite anzupacken? Kommen die Effekte tatsächlich beim einzelnen Bewohner an?

Nolde: Davon bin ich überzeugt. Zufriedene Mitarbeitende sind die Basis. Andererseits haben Sie Recht, natürlich muss darüber hinaus auch ganz konkret im Alltag der Bewohnerinnen und Bewohner etwas passieren.

Mobilität ist für mich ein ganz wichtiges Stichwort. Unsere Bewohnerinnen und Bewohner sollen so lange wie möglich aktiv sein. Zum einen, weil ein aktives Leben oft, natürlich, schlicht ein lebenswertes Leben ist. Darüber hinaus ist das aber auch ein wirtschaftlicher Faktor.

Inwiefern das?

Nolde: Die Frage, ob eine menschliche Pflege flächendeckend bezahlbar ist, ist für mich falsch gestellt. Denn es ist ja eher die schlechte Pflege, die so teuer ist. Da heißt es, es sei finanziell nicht machbar, die unsichere alte Dame beim Spaziergang zu begleiten. Zu hoher Personalaufwand. Wenn die Dame allerdings die ganze Zeit nur rumsitzt, immer unbeweglicher und unsicherer wird, und schließlich stürzt, wird völlig selbstverständlich bezahlt: Krankenhaus, Rehabilitation und obendrauf das leerstehende Bett bei uns im Haus. Schon allein der Transport ins Krankenhaus ist um ein Vielfaches teurer als eine Begleitung für den Spaziergang!

Das heißt, in Ihren Häusern finden solche Spaziergänge statt?

Nolde: Absolut. Das übernimmt dann vielleicht nicht unbedingt die teure Pflegefachkraft, sondern ein Azubi. Der muss allerdings gut angeleitet sein. Dafür muss die Pflegefachkraft sich Zeit nehmen. Tut sie dies nicht, spart sie für den Moment vielleicht Zeit ein. Längerfristig entstehen aber ungleich höhere Kosten.

Sehen Sie, jetzt diskutieren wir auf einer Ebene, die ich mag. Sachlich, durchdacht. Robust, gerne auch so. Aus einem verzagten Arsch kommt kein fröhlicher Furz, wusste schon Martin Luther. Er hatte recht. Pflege traut sich zu wenig. Immer ist da diese Angst. Die Angst vor dem Tod, die Angst, nicht pietätvoll zu sein. Angst ist kein guter Ratgeber.