FOCUS online: Herr Onea, mal blöd gefragt: Wie schwimmt man mit nur einem Arm?
Andreas Onea: Mein Glück ist, dass ich das Schwimmen als Kind einarmig gelernt habe. Ich musste da also nichts umlernen. Normalerweise holt man das Wasser beim Brustschwimmen von der Seite. Man taucht mit dem Arm ein und bewegt diesen nach vorne. Mit nur einem Arm würde ich mit dieser Technik im Kreis schwimmen. Mein Zug ist von oben nach hinten orientiert. Der Hauptantrieb kommt bei mir von den Beinen.
Sie haben Ihren Arm im Alter von sechs Jahren bei einem schweren Autounfall verloren…Onea: Richtig. Ich hatte riesiges Glück.
Glück?
Onea: Finde ich schon. Eigentlich hätte ich sterben müssen: offene Wunde, Genickbruch, Blutverlust, Infektionsgefahr, Organversagen durch Unterkühlung. Ich bin aus dem Auto herausgeschleudert worden, 15 Meter weit.
Können Sie sich an den Unfall erinnern?
Onea: Nein, ich weiß nur noch, dass wir davor Familie in Rumänien besucht hatten. Wir verabschiedeten uns, fuhren los und dann bin ich im Auto eingeschlafen. Danach weiß ich nichts mehr. Ein LKW vor uns soll Öl verloren haben, mein Vater hat die Kontrolle über den Wagen verloren, kam von der Straße ab, das Auto überschlug sich mehrmals…
Die erste wirkliche Erinnerung habe ich an das Krankenhaus. Alle meine Verwandten waren wieder da. Dabei hatten wir uns doch eben erst verabschiedet. Was war hier los? fragte ich mich. Dann erst bemerkte ich, dass ich auf dem Rücken lag und mein Oberkörper komplett mit Verband eingewickelt war. Erst später realisierte ich, dass mein linker Arm fehlte.
Wie ging es dem Rest der Familie?
Onea: Meine beiden Brüder waren nahezu unverletzt. Das rechne ich meinen Eltern übrigens hoch an: Sie haben mich nie besonders geschont, ich war nicht der arme große Bruder, sondern wurde genau wie die anderen in die Verantwortung genommen. Doch zu Ihrer Frage: Meine Eltern waren schwer mitgenommen, jeder von ihnen musste zwei Jahre lang eine Beinschiene tragen. Der Heilungsprozess war von starken Schmerzen und zahlreichen Einschränkungen begleitet. Mein Opa ist bei dem Unfall gestorben. Sie sehen schon: Es hätte also eigentlich allen Grund gegeben, zu verzweifeln und fortan zu denken „Das Leben ist gegen mich“ oder so ähnlich.
Aber?
Onea: Ich bin einfach wahnsinnig dankbar, dass ich diesen Autounfall überlebt habe. Man hat mich nur gefunden, weil man mich auf den Hinweis meiner Mutter hin gesucht hat. Meine Mutter war selbst schwer verletzt, doch das Erste und Einzige, an das sie gedacht hat, war: Wo sind meine Kinder? Sie wusste nicht, dass sie schwer verletzt war, ob sie innere Blutungen hat und ob sie überlebt. Sie hat nur an meine beiden Brüder und mich gedacht. Das war der Grund, weshalb die Ersthelfer mich gesucht und gefunden haben. Ohne die Selbstlosigkeit, die bedingungslose Liebe meiner Mutter, wäre ich wohl im Straßengraben verblutet.
Als Andreas Onea mit neun Jahren gefragt wurde, ob er nicht an einem Wettkampf teilnehmen wolle, hat er sofort Ja gesagt. Mit seiner Sportkarriere habe er einen günstigen Moment erwischt, sagt er: Der Parasport hat damals gerade international einen Aufschwung bekommen, auch in Österreich wurde umgedacht. Die Strukturen wurden inklusiver, entsprechende Leistungen wurden zunehmend honoriert. „So hat es sich ergeben, dass ich seit ein paar Jahren vom Sport leben kann“. Das Studium der Wirtschaftswissenschaften, das Onea nach dem Abi begonnen hat, hat er nicht weiterverfolgt. Der Sport sei für ihn einfach an erster Stelle gestanden.
Der Unfall war komplett unverschuldet, nicht wahr?
Onea: Ja. Und damit nicht genug. Mein Vater war damals Tischler, sein Chef hat ihn kurzerhand rausgeschmissen. Als Ernährer der Familie stand er sozusagen vor dem Nichts. Materiell und seelisch. Wie gesagt: Er hatte gerade seinen Vater verloren. Als junger Mann in seinen Zwanzigern.
Der dennoch nicht haderte. Warum?
Onea: Mein Vater hat später mal gemeint, er hätte eine Entscheidung getroffen. Er will sich ganz bewusst für einen anderen Weg entschieden haben: Alles wird gut, wir schaffen das, wir vertrauen einander, wir finden im Glauben halt. Das war sozusagen die Grundstimmung, die bei uns zu Hause herrschte. Das hat mich geprägt. Der Mensch, der ich bin, bin ich dank meiner Eltern. Andersrum sind meine Eltern ein Stück weit wohl auch wegen mir die Menschen, die sie sind.
Was meinen Sie?
Onea: Nach dem Unfall lag mein Vater im Koma. Später hat er mir erzählt, wie das mit dem Wachwerden abgelaufen ist. Sie haben ihm gesagt, was passiert ist und er hat begonnen zu weinen. Ich soll dann zu ihm hingegangen sein und gefragt haben: „Papa, warum weinst du“? Darauf er: „Schau, was passiert ist. Dir fehlt ein Arm, Mama geht es nicht gut, Opa geht es nicht gut, mir geht es nicht gut. Wie kann ich nicht weinen?“ Angeblich habe ich ihn dann ermutigt und gesagt: „Ich bekomme eine Puppenhand und alles wird wieder gut“. Das hat ihm Zuversicht gegeben. Also, im Grunde haben wir uns wechselseitig Mut gemacht.
Wie sind Sie eigentlich zum Schwimmen gekommen?
Onea: Das ging direkt in der Reha los. Schwimmen war von Anfang an faszinierend für mich, weil ich mich ohne Hilfsmittel selbstständig von A nach B bewegen konnte und nicht auf andere angewiesen war.
War oder ist das denn außerhalb des Wassers anders?
Onea: Aber ja, im Alltag gibt es zahlreiche Hürden. Ich kann zum Beispiel keine Tür öffnen, wenn ich etwas in der Hand habe. In der ersten Zeit war ich immerzu auf Hilfe angewiesen. Wenn ich aus dem Wasser kam, hat mich jemand abgetrocknet und mir beim Anziehen geholfen. Im Wasser dagegen konnte ich mich komplett selbstständig bewegen. Abtauchen, schnell schwimmen, langsam schwimmen, mich drehen… Im Wasser zu sein war und ist für mich Freiheit!
Es heißt, Sie würden heute sechs Tage die Woche trainieren, oft zweimal pro Tag mehrere Stunden. Daneben arbeiten Sie beim Österreichischen Fernsehen als Sportmoderator. Außerdem sind Sie als Speaker aktiv, halten Vorträge an Schulen und in Unternehmen. Wie bleibt bei diesem Programm Zeit für ein Gespräch wie dieses?
Onea: Ganz einfach, in drei Tagen fahre ich zur WM nach Singapur*. Vor solchen Wettkämpfen wird der Umfang des Trainings weniger.
Das klingt verwunderlich. Müssten Sie nicht gerade jetzt eher mehr trainieren?
Onea: Man trainiert anders. Die Intensität wird wettkampfspezifischer. Körper und Kopf kommen in eine gewisse Entspannung – damit weiß man: Bald geht’s los. Diese Strategie ist im Leistungssport Standard. Man nennt das Tapering.
Fühlen Sie sich fit für den Wettkampf?
Onea: Sehr fit! Letzte Woche bin ich im Training österreichische Rekordzeit geschwommen. Das ist in meinem Alter nicht selbstverständlich.
Reden wir von einem paralympischen Rekord, oder bezieht die Rekordzeit auch die Leistung nicht behinderter Schwimmer mit ein?
Onea: Ich meine schon den paralympischen Rekord. Das ist nun mal der Bereich, in dem ich meine Leistung am besten zeigen kann.
In der Regel starten Sie gegen Schwimmer mit ähnlichen Einschränkungen, richtig?
Onea: Ja, wobei die Palette der Behinderungen breit ist. Da gibt es Sportler, die genau wie ich nur einen Arm haben. Aber es gibt auch solche, die beispielsweise halbseitig gelähmt sind oder Behinderungen haben, die ich als leichter einstufen würde. Trotzdem schwimmen wir gegeneinander. Ich betrachte das sehr kritisch, weil es die Glaubwürdigkeit unseres Sportes nimmt.
Sie starten allerdings auch bei Wettkämpfen von Nichtbehinderten…
Onea: Punktuell ja. Früher war das öfter der Fall. Ganz einfach, weil es damals noch viel weniger Paralympische Wettkämpfe gab. Vielleicht zwei oder drei in ganz Österreich im gesamten Jahr. Das war natürlich viel zu wenig. Ich musste Möglichkeiten finden, öfter und zielgerichteter zu trainieren. Mit neun Jahren hatte ich meinen ersten Wettkampf und wenige Jahre später bin ich schon gegen Zweiarmige geschwommen…
Und?
Onea: Ich wurde disqualifiziert. Es hieß, ich sei im Vorteil, weil ich wegen des fehlenden Armes weniger Masse bewegen muss. Blödsinn! Auch später ist es immer wieder passiert, dass ich disqualifiziert wurde.
Immer aus genanntem Grund?
Onea: Teilweise wegen meines einarmigen Anschlags. Es steht nämlich in den Regeln, dass man zweiarmig anschlagen muss. Ich habe aber halt nur einen Arm und kann nicht zweiarmig anschlagen. Und die Anfeindungen gingen weiter. Mal habe ich angeblich beim Start gezuckt, mal war es wieder die Technik, die bemängelt wurde. Es hat gedauert, bis ich mich sportlich so durchgesetzt habe, dass alle nur noch gestaunt haben. Seitdem ich 2012 bei den Staatsmeisterschaften der Nichtbehinderten das B-Finale gewonnen habe, hat mich auch keiner mehr wegen meiner Behinderung infrage gestellt.
Sie haben eben von einer „Puppenhand“ gesprochen. Tragen Sie außerhalb des Schwimmbeckens eine Prothese?
Onea: Ja, von klein auf. Sie wurde immer wieder angepasst. Die Technik hat sich über die Zeit unfassbar verbessert, das sind mittlerweile Hightech-Computer mit Elektroden, die auf kleinste muskuläre Bewegungen reagieren. Ohne die Prothese als Gegengewicht hätte ich im Laufe meiner Entwicklung vermutlich Haltungsschäden davongetragen.
Auf Fotos sieht man Sie allerdings kaum damit?
Onea: Stimmt. Meine Behinderung ist inzwischen eine Art Markenzeichen, die positive Art von Sichtbarkeit ist mir wichtig. Ohnehin ist der Sport eine gute Plattform, weil meine Behinderung nur mit Badehose bekleidet gut sichtbar ist. Im Alltag – ich bin Papa von zwei kleinen Kindern – nutze ich die Prothese aber durchaus regelmäßig. An der einen Hand der Nachwuchs, in der anderen die Einkaufstasche – das geht nun mal nur so.
Sind Sie ein engagierter Papa?
Onea: Wie man’s nimmt. Im Haushalt und beim Kochen macht meine Frau ehrlicherweise deutlich mehr. Wenn ich für uns alle kochen würde, würde das durchaus drei Stunden länger dauern. Diese Zeit würde mir dann fürs Training fehlen.
Sie haben eben gesagt, die bedingungslose Liebe Ihrer Eltern, vor allem die Ihrer Mutter, hätte Ihnen das Leben gerettet…
Onea: Ja, jetzt als Papa verstehe ich diese Liebe so richtig. Ich bin überzeugt, es kommt im Leben auf die Perspektive an. Auf die Perspektive der Dankbarkeit. Mein Vater ist damals aus Rumänien geflüchtet, hat alles für uns gegeben. Nach dem Unfall war für ihn alles kaputt: Gesundheit, Job, Zukunft. Trotzdem hat er nie aufgegeben. Er hat vorgelebt: Wir finden einen Weg. Auch wenn wir ihn noch nicht kennen. Mein Vater lag richtig!
Ist das nicht ein Stück weit eine Typfrage, ob Menschen so positiv sein können?
Onea: Ein Stück weit vielleicht, aber ich bin überzeugt: Das eigene Mindset lässt sich trainieren. So wie ein Muskel. Man muss dranbleiben, so ein Training ist keine einmalige Sache, sondern ein Dauerzustand. Es ist doch so: Der Unfall ist geschehen, man kann ihn nicht rückgängig machen. Ich kann aber beeinflussen, wie ich damit umgehe, was ich aus der Situation mache.
Glauben Sie, dass das anderen Menschen auch gelingen kann?
Onea: Das glaube ich nicht nur, ich weiß es. Ich bin ja immer wieder als Speaker unterwegs. Spreche vor Belegschaften von Unternehmen, vor Schulklassen. Sie glauben gar nicht, wie oft es passiert, dass die Menschen mir hinterher schreiben und sich bei mir bedanken, weil meine Gedanken etwas grundlegend bei Ihnen verändert haben.
Ich bleibe dabei: Wir haben es selbst in der Hand, können entscheiden. Die derzeitige Stimmung in Österreich ist nicht gerade zum Besten, so ähnlich wie in Deutschland vermutlich. Mag sein, dass es Gründe dafür gibt. Ob eine Pandemie auftritt oder ob Wahnsinnige Entscheidungen treffen, die sich auf uns auswirken, haben wir nicht in der Hand. Doch noch mal: Unsere Gestaltungskraft bleibt bei alldem weiter hoch. Davon bin ich überzeugt, das lebe ich vor. Ja, ich bin ehrgeizig, will im Sport immer besser werden. Für mich selbst und für all die Menschen da draußen, die meine Geschichte berührt und motiviert.
* Bei der Weltmeisterschaft hat Andreas Onea das Finale über 100m Brust erreicht und ist 8. geworden („Leider hat das Klassifizierungsthema voll zugeschlagen. Ich war der einzige Einarmige im Finale“.).