Demosthenes "Demis" Hassabis betritt im Hörsaal der Universität in Stockholm die Bühne. Es ist Anfang Dezember 2024. Soeben wurde dem Mitbegründer und CEO von "Google DeepMind" einer der prestigeträchtigsten Preise in der Wissenschaftswelt verliehen: In der Kategorie Chemie hat ihn das Komitee gemeinsam mit seinem Geschäftspartner John Jumper "für die Vorhersage von Proteinstrukturen" mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Möglich machen sie das mit einem System namens "AlphaFold".
Ausgehend von AlphaFold will das Team um Hassabis den langwierigen und teuren Prozess der Arzneimittelentwicklung "von Grund auf umdenken, vereinfachen und beschleunigen" – mithilfe von Künstlicher Intelligenz (KI). Dafür hat der Brite bereits 2022 eine Firma namens Isomorphic Labs gegründet, über die er auf der Bühne spricht.
In einem Interview mit "CBS News" kündigte er ein paar Monate später an, die Entwicklung von Medikamenten dramatisch verkürzen zu wollen. Und nicht nur das: "Ich denke, eines Tages können wir vielleicht alle Krankheiten mit Hilfe der KI heilen" erklärt der Neurowissenschaftler, "vielleicht sogar innerhalb des nächsten Jahrzehnts". Er wisse nicht, was dagegenspreche.
Wie realistisch ist das?
Forscher will Arzneimittelentwicklung in "digitaler Geschwindigkeit"
Eins der größten Probleme in der Arzneimittelentwicklung liegt in der Zeit. Denn der Prozess dauert Jahre, wenn nicht Jahrzehnte:
- Zunächst müssen Forschende eine Krankheit so gut verstehen, dass sie wissen, wo ein potenzielles Medikament ansetzen kann. Dafür ist jahrelange Grundlagenforschung von Nöten, in denen therapeutische Ansatzpunkte, sogenannte "Targets" identifiziert werden. Das können etwa Rezeptoren oder Proteine sein, die sich eignen könnten, um über sie in den Krankheitsprozess einzugreifen.
- Dann müssen Forschende eine Substanz finden, die das gefundene "Target" anvisieren und es – vereinfacht gesagt – entweder ein- oder ausschalten, je nach Krankheit.
Einen potenziell passenden Wirkstoff zu entwickeln, ist jedoch gar nicht so einfach. Es müssen viele Faktoren stimmen: So darf er zum Beispiel nicht giftig sein, muss vom Körper abgebaut werden und großtechnisch herstellbar sein.
"AlphaFold" sagt Strukturen von 200 Millionen Proteinen vorher
Jedes Protein kann aus bis zu 20 verschiedenen Aminosäuren bestehen. Diese sind untereinander in langen Ketten verbunden, die sich zu einer dreidimensionalen Struktur zusammenfalten. Diese Struktur entscheidet über die Funktion des Proteins. Seit über 50 Jahren versuchte man diese Strukturen vorauszusagen – mit "AlphaFold" löste "Google DeepMind" dieses Problem.
Mithilfe Künstlicher Intelligenz macht das System sehr genaue Voraussagen dazu, eine Datenbank umfasst mittlerweile über 200 Millionen Strukturen. Nach eigenen Angaben haben diese schon bis zu einer Milliarden Forschungsjahre gespart. Mit dem letzten Update auf "AlphaFold 3" liefert es mittlerweile auch Voraussagen darüber, wie die Proteine mit anderen Molekülen interagieren werden.
Bevor ein Kandidat also überhaupt in Frage kommt, erschaffen und testen die Teams tausende Verbindungen. Jahrelang basteln sie daran, möglichst vielen Anforderungen zu entsprechen. Jede kleine Änderung erfordert zahlreiche Labortests, die zeigen sollen ob die Substanz besser als der Vorläufer geworden ist. Ein wichtiges, aber teures und aufwändiges Spiel von "Trial and Error", das in einigen Fällen auch nach Jahren noch kein zufriedenstellendes Ergebnis liefert.
Genau hier soll die KI in den Prozess eingreifen. Sie soll biologische Phänomene modellieren, neue Moleküle entwerfen und die Wirkungsweise von Medikamenten vorhersagen. Das soll
- unnötige Experimente verhindern,
- Zeit- und Geld sparen
- und ganz neue Substanzen auf das Radar der Forscher bringen.
"Wissenschaft mit digitaler Geschwindigkeit" nennt Hassabis das in seiner Nobelpreisrede. So will er den Prozess von Jahren auf Monate oder sogar Wochen runterbrechen.
Keine Utopie – erste Krebswirkstoffe schon in klinischen Studien
Im Sommer 2025 dann die Nachricht: Was Hassabis plant, ist keine Utopie, sondern längst Realität. Isomorphic Labs bereitet sich darauf vor, die ersten Patienten mit einem ihrer KI-Wirkstoffkandidaten in klinischen Studien zu behandeln. "Wir bauen gerade Personal auf. Wir kommen sehr nah heran", erklärte Colin Murdoch, Präsident von Isomorphic Labs im August 2025 gegenüber "Fortune".
Das Unternehmen hat weder die spezifische Erkrankung noch das genaue Startdatum der Studie bekannt gegeben. Isomorphic Labs hatte allerdings zuvor angekündigt, zunächst Wirkstoffkandidaten aus der Krebsforschung in klinische Studien zu bringen, das bestätigte auch Murdoch im Interview mit "Fortune".
Auch andere Firmen verfolgen ähnliche Ansätze. Die KI-Biotech-Firma Recursion hat sich auf die KI-gestütze Entwicklung von Medikamenten gegen Krebs und seltene genetische Erkrankungen spezialisiert. Einige Wirkstoffe befinden sich schon in frühen klinischen Studien. Darunter zum Beispiel gegen
- Kopf-Hals-Tumoren, die von den Schleimhäuten ausgehen
- Tumore der Bauchspeicheldrüse
- nicht-kleinzelliges Lungenkarzinom
- Brustkrebs
- Eierstock- und Eileiterkarzinome
Ergebnisse zu der Sicherheit und vorläufigen Wirksamkeit in kleinen Personengruppen werden gegen 2028 erwartet.
"Heilen" lassen sich alle Krankheiten in zehn Jahren wohl nicht
So revolutionär das KI-gestützte Verfahren auch ist – dass sich in zehn Jahren wirklich alle Krankheiten heilen lassen, ist eher unwahrscheinlich. Denn auch wenn die Entwicklung potenzieller Wirkstoffkandidaten auf wenige Wochen verkürzt wird, müssen sie immer noch klinische Studien durchlaufen. Diese bestehen aus mehreren Phasen, die je nach Krankheit jeweils mehrere Jahre dauern.
Hinzu kommt, dass nicht alle Krankheiten sich mit Proteinen lösen lassen. Andere wichtige Biomoleküle, etwa Fette oder Kohlenhydrate, lässt Hassabis außer Acht, wenn er wiederholt betont "alles in Ihrem Körper hängt von Proteinen ab".
Das kritisiert zum Beispiel der Chemiker Derek Lowe im Fachmagazin "Science". Er findet Hassabis Aussagen zu kurz gedacht: "Das ist so, als würde man sagen, dass alles in der Mona Lisa von der Farbe abhängt. Wir haben Systeme, die auf anderen Systemen aufbauen, die wiederum andere Systeme aufbauen, und unser Wissen über solche Dinge reicht völlig unzureichend aus, um Krankheiten innerhalb von zehn Jahren zu heilen."
Lowe vergleicht die Heilung der Krankheiten mit einem Puzzle: "KI kann wirklich sehr gut darin sein, die Teile, die wir haben, neu anzuordnen", vorausgesetzt man habe das zugrundeliegende Wissen um die Auswirkungen überhaupt zu verstehen. Die KI würde Wissenschaft zwar produktiver machen – "aber sie wird nicht einfach anfangen Lücken zu füllen. Das liegt an uns Menschen."
Wieso auch Pharmafimen wie Novartis und Eli Lilly involviert sind
Auffällig bei den aufstrebenden KI-Biotech-Firmen ist, dass fast immer eine Partnerschaft zu großen, bereits etablierten Pharmafirmen besteht. Recursion hat Partnerschaften mit Giganten wie
- Roche
- Bayer
- Merck
- Sanofi
Isomorphic Labs kooperiert mit
- Eli Lilly
- Novartis
Diese Firmen bringen nicht nur jahrzentelang gewachsene Expertise und Strukturen mit, sondern auch das nötige Geld. Für Isomorphic Labs haben die beiden Kooperationen nach eigenen Angaben das Potenzial einen Wert von fast drei Milliarden Dollar zu erzielen.