Norbert Bolz, einer der geistreichsten und humorvollsten deutschen Intellektuellen, hat auf X repostet, was der Journalist Andreas Hallaschka ausgegraben hat. Ein Zitat von Herbert Wehner, einem der einflussreichsten Sozialdemokraten, meistgehasst von Konservativen seinerzeit. Es geht um das, was heute Migrationspolitik heißt, also auch um die hiesigen "Stadtbilder", die Friedrich Merz beklagt.
Das Zitat ist also brennend aktuell, obwohl der damalige Fraktionsvorsitzende der SPD es in seinem Parteivorstand am 15. Februar 1982 sagte. Es lautet:
"Wenn wir uns weiterhin einer Steuerung des Asylproblems versagen, dann werden wir eines Tages von den Wählern, auch unseren eigenen, weggefegt. Dann werden wir zu Prügelknaben gemacht werden. Ich sage Euch – wir sind am Ende mitschuldig, wenn faschistische Organisationen aktiv werden. Es ist nicht genug, vor Ausländerfeindlichkeit zu warnen – wir müssen die Ursachen angehen, weil uns sonst die Bevölkerung die Absicht, den Willen und die Kraft abspricht, das Problem in den Griff zu bekommen."
Merz und die Stadtbild-Debatte: "Wer sagt, was ist, ist Rassist"
Norbert Bolz machte sich auch darüber lustig, dass ein Historiker den Begriff "Stadtbild", vom CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz verwendet, irgendwo in den Tagebüchern von Joseph Goebbels entdeckte. Bolz ist ein Meister der aphoristischen Ironie, mit denen er Absurditäten politisch korrekter Debatten entlarvt. Und so schreibt er: "Stadtbild ist ein bekannter Nazi-Begriff."
Es ist kein Wunder, dass es daraufhin nicht zu einer Hausdurchsuchung beim CDU-Vorsitzenden kam, der gleichzeitig Bundeskanzler ist. Trotz der Verwendung eines Wortes, das auch der oberste Nazi-Propagandist verwendete. Man könnte jetzt so weitermachen, mit Norbert Bolz' Sätzen, vielleicht einer noch, im Hinblick auf die verrückte Migrationsdebatte: "Wer sagt, was ist, ist Rassist."
Norbert Bolz wurde von der Polizei für einen ironischen "Woke"-Tweet mit einer Hausdurchsuchung traktiert. Darum sollten wir uns hier noch einmal bedanken bei ihm für alles.
Klingbeil lässt Dobrindt gewähren, aber geht Merz frontal an
Bislang hat die SPD, also die heutige SPD, angeführt von Lars Klingbeil, der "woke" ist, also "wach", einen wesentlichen Beitrag geleistet zur Migrationswende. Dieser besteht darin, dem Bundesinnenminister Alexander Dobrindt von der CSU nicht in die Amtsgeschäfte zu fallen.
So schonend ging Klingbeil mit dem Bundeskanzler von der CDU nicht um. Den ging er gerade frontal an, wegen dessen "Stadtbild", und zwar mit diesem Satz:
"Ich sage euch (...) ich möchte in einem Land leben, bei dem nicht das Aussehen darüber entscheidet, ob man ins Stadtbild passt oder nicht."
Merz Stadtbild-Satz war schräg, zu wichtigen Teilen auch falsch, weil zum – sagen wir zunehmend orientalischen – Stadtbild nicht nur rückkehrpflichtige Syrer gehören, sondern auch Ex-Türken mit deutschem Pass, die von den Syrern äußerlich nicht zu unterscheiden sind. Allerdings hat Merz mit dem "Stadtbild"-Satz sicher keine chinesischen Ingenieure, iranischen Ärzte oder koreanische IT-Techniker gemeint. Aber gemeint und gesagt – das ist bisweilen eben zweierlei.
Auch Merz hat eine Migrations-Herausforderung nicht auf der Rechnung
Weil das so ist, hat Merz inzwischen versucht, den Eindruck des allgemeinen Ausländerbashings, den man mit seinem "Stadtbild"-Satz verbinden kann, zu relativeren. Dadurch, dass unstreitig sei, dass Deutschland Einwanderung auch brauche – und zwar in den Arbeitsmarkt.
Fragwürdig ist auch das, weil wir überhaupt nicht wissen können, ob wir in Zukunft auf Einwanderung noch angewiesen sind. Wegen der Roboter und der Künstlichen Intelligenz, die sich rasant ausbreiten. Und womöglich 40 Prozent der Jobs einfach hinwegraffen. Diese Einschätzung stammt nicht von irgendwem, sondern vom Internationalen Währungsfonds. Sie gilt weltweit.
Im Industrieland Deutschland sieht es noch schlechter aus. Da seien 60 Prozent der Jobs gefährdet. Arbeitsmarktmigration wäre unter diesem Gesichtspunkt zu diskutieren – ist Einwanderung angesichts der KI-Revolution wirklich noch sinnvoll? Allein: es geschieht nicht.
Klingbeil ist woke – wach ist er eher nicht
Aber zurück zu Klingbeil. Der Satz des SPD-Vorsitzenden gegen Merz ist deshalb wohlfeil, weil er nicht ein einziges Wort daran verschwendet, was für die Bürger ausweislich der meisten Umfragen zu den wichtigsten Besorgnissen zählt: die negative Veränderung ihres Landes durch die Folgen einer Art von Einwanderung, die Klingbeils SPD wesentlich mitzuverantworten hat.
Der Anti-Merz-Satz von Klingbeil ist ausgesprochen "woke" – problembewusst ist er nicht. Das liegt an Klingbeil, nicht unbedingt an seiner Partei. Die SPD war einmal problembewusst, sehr wach sogar, was man an dem eingangs zitierten Wehner-Satz erkennen kann. Wehner war übrigens richtig links, für die jüngeren Leser.
Helmut Schmidt, ein Weggefährte Herbert Wehners, der es allerdings zum Bundeskanzler brachte und hinterher zum Mediengewaltigen, hatte zur Einwanderung eine gleichfalls glasklare Meinung. Eine, die nicht aus einem abstrakten Wollen kam. Sondern aus einer erlebten Erfahrung: der einzigen Zeit, in der Deutschland tatsächlich Einwanderungsland war – zwischen den Anwerbeabkommen seit Ende der 50er-/Anfang der 60er-Jahre und dem Anwerbestopp für "Gastarbeiter" 1973. Die Quintessenz der Erfahrungen Helmut Schmidts lautet, in einem Satz von ihm: "
"Zuwanderung aus fremden Zivilisationen schafft uns mehr Probleme, als es uns auf dem Arbeitsmarkt an positiven Faktoren bringen kann."
Schmidts "fremde Zivilisationen", das waren: Anatolien, Afghanistan, Kasachstan. Wobei "fremd" für den klugen Schmidt nicht hieß: Abstammung. Sondern: Erziehung: "Die Art und Weise, wie sie als Säuglinge, als Kleinkind, als Schulkind, wie sie als Kind in der Familie erzogen worden sind."
Die SPD ist nach Schmidt und Wehner eine andere Partei geworden
Die SPD Klingbeils (und seiner Co-Vorsitzenden Bärbel Bas) hat es sich abgewöhnt, derlei zu diskutieren. Klingbeil redet nicht über erwünschte oder unerwünschte, kulturkompatible oder kulturfremde Einwanderung. Er schleudert dem Bundeskanzler einen billigen Satz entgegen, damit ist für ihn der Fall erledigt.
Der Applaus von Genossen gibt ihm recht. Die SPD ist eben seit Herbert Wehner und Helmut Schmidt eine andere Partei geworden. Die Sozialdemokraten, für die Wehner und Schmidt standen, erreichten noch weit mehr als 40 Prozent der Stimmen bei Wahlen.
Heute ist die SPD gerade noch zweistellig. Seit den Zeiten von Wehner und Schmidt hat sie Zweidrittel ihrer Anhängerschaft verloren. Was nicht nur an der Migration liegt, aber: am Wirklichkeitsverlust. Die Schmidt-SPD, auch die von Willy Brandt, war noch "nah bei de Leut". Klingbeils SPD bewegt sich vorzugsweise in der eigenen Filterblase. Aus einem rationalen Diskurs über Einwanderung hat sie sich mittlerweile verabschiedet. Sie ist – in diesem Sinne – ergrünt.
Migrationskritik ist arbeiterfreundlich
Man sollte noch erwähnen, dass die einwanderungskritische Einstellung Schmidts und Wehners seinerzeit – und eigentlich gilt das bis heute – rundheraus arbeiterfreundlich und antikapitalistisch war. Die stärksten Einwanderungsbefürworter waren – damals wie heute – Vertreter der Großindustrie. Die konnte die Gewinne der Migration privatisieren – bekam etwa billige Arbeitskräfte für die Montanindustrie.
Die – teuren – Folgen der Einwanderung, die gesamten materiellen wie immateriellen Integrationskosten, die konnte die Industrie sozialisieren. Niemand hat so für den Familiennachzug getrommelt wie die Arbeitgeberverbände, etwa 1976: "Je mehr der ausländische Arbeitnehmer von der Last und den Sorgen der Familientrennung befreit ist, desto mehr wird er sich im Betrieb und in der Gesellschaft wohlfühlen."
Friedrich Merz hat in der Union eine Migrationswende durchgesetzt, die eine Rückwende der Merkelschen Politik ist. Er vertritt sie heute rhetorisch ungeschickt ("Paschas", "Stadtbild") – und macht es seinen linken Gegnern einfach, diese Wende zu verteufeln. Das ist der eigentliche Vorwurf, den man Merz machen kann. Er läuft den Rassismus-Vorwurf-Verbreitern ins offene Messer.
1973 und 1993 korrigierte die SPD die Einwanderung
Was Helmut Schmidt und Herbert Wehner anders machen würden als Lars Klingbeil, wissen wir nicht. Aber es spricht viel dafür, dass sie etwa die Gruppenvergewaltigungen, die Messerattentate und die Kalifatsdemonstrationen, zum Anlass nehmen würden, um eine kulturfremde Einwanderung aus islamischen Ländern (nicht aus dem gleichfalls kulturfremden, aber friedliebenden asiatischen Staaten) zu stoppen. Und dies auch offen zu sagen.
Nichts anderes hat die Regierung von Willy Brandt, der selbst eine Fluchtgeschichte hinter sich hatte, mit dem Anwerbestopp getan. Da war Klingbeil allerdings noch nicht einmal geboren.
Ziemlich genau 20 Jahre später wiederholte die SPD diese Politik sogar noch einmal: Indem sie 1993 der drastischen Einschränkung des individuellen Asylgrundrechts zustimmte. Knapp fünf Jahre später brachte es der Sozialdemokrat Gerhard Schröder für seine SPD auf 40,9 Prozent.
Heute, unter Klingbeil wäre eine solche Migrationspolitik – nach den Interessen der Bevölkerungsmehrheit – undenkbar. Aber heute steht die SPD auch bei einem Drittel ihrer damaligen Stimmen.