In gut einer Stunde wird im Kino die Straße runter der zweitmächtigste Mann Deutschlands erwartet, aber die beiden Rentner Karin M. und Frank Altenkirch haben keine Lust hinzugehen. "Mir hängt diese ewige Streiterei der Parteien zum Hals heraus. Auch, dass die sagen, wir reden nicht mal mit der AfD. Ich gehe zu keiner Partei mehr“, sagt Karin M., die bei der anstehenden OB-Wahl der Stadt Brandenburg östlich von Berlin einen parteilosen Kandidaten wählen will.
„Rentner sammeln Flaschen, aber Millionen für Gaza“
Frank Altenkirch pflichtet ihr bei: "Hier sammeln Rentner Flaschen, weil es nicht reicht und die schicken schon wieder Millionen nach Gaza“. Die beiden sind keine Wutbürger, haben auch Mitleid mit Flüchtlingen, die rumstünden, weil sie nicht arbeiten dürften. Dagegen ärgern sie sich über Menschen, die für Nichtstun Bürgergeld kassieren.
Vor dem "Concerthaus“-Kino wartet bereits Theaterleiter Leopold Ramin auf den hohen Gast. Er beklagt, dass die Kulturlandschaft in der 74.000 Menschen zählenden Stadt im ärmer werde. "Was fehlt, sind Kulturmöglichkeiten für die Jugend. Stattdessen ziehen hier immer neue Barbershops und Dönerläden ein“, berichtet Ramin. Von Klingbeil erhofft er sich, dass er genau hinhört und ehrlich antwortet.
Klingbeil hat es hier mehr mit dem Parteivolk zu tun als mit dem Volk
Den Kinoplakaten zufolge konkurriert SPD-Frontmann Klingbeil heute mit lauter Superstars wie Momo, Roland Kaiser und vor allem den Helden-Sänger der amerikanischen Arbeiterklasse, Bruce Springsteen. Ein Foto vor dem Springsteen-Plakat lehnt er ab: "Das ist nicht meine Musik.“ – "Wie wäre es mit Roland Kaiser?“. "Nein, auch nicht“, sagt Klingbeil und zieht weiter.
Gut 150 Zuschauer erwarten den SPD-Bundesvorsitzenden, die örtliche Bundestagsabgeordnete Sonja Eichwede und den Kandidaten für die baldige Oberbürgermeisterwahl, Daniel Keip. Viele Gäste kamen über social-media Einladungen, Parteimitglieder vor allem und auch gute Bekannte.
Am Applaus ist zu spüren: Die meisten hier sind Klingbeils SPD wohlgesonnen. Er hat es hier auch mehr mit dem eigenen Parteivolk zu tun als mit dem Volk.
Klingbeil will vor allem werben – für den Oberbürgermeisterkandidaten Keip und für die SPD: "Ohne die SPD hätte es das 500 Milliarden Investitionsprogramm nicht gegeben“, behauptet er, und damit auch nicht 41 Millionen, die die Stadt Brandenburg davon bekomme.
"Und wissen Sie, wer dagegen gestimmt hat, dass Brandenburg diese 41 Millionen bekommt? Die AfD!“ Es ist einer der Augenblicke an diesem Abend, in denen der Vizekanzler besonders überzeugt wirkt von dem, was er sagt.
Auch das Thema Bürgergeld räumt er gleich zu Anfang ab: Offen spricht er von einem "Fehler“, den man jetzt korrigiere: "Es gibt Missbrauch. Menschen, die für drei oder dreieinhalbtausend Euro jeden Tag aufstehen, denen kann ich nicht erklären, dass andere nichts tun.“
„Da sind Ängste. Die habe ich auch. Die habe ich auch.“
Beim Thema Russland wird es emotional. Eine ältere Dame stellt sich vor: "Ich bin Oma.“ Sichtlich bewegt sagt sie: "Ich möchte meine Stimme erheben, damit meine Enkelkinder nicht verheizt werden.“
Deutschland sei nun mal klein und Russland eine Großmacht, das habe sie selbst Jahrzehnte in der DDR erlebt. Und es sei doch peinlich, dass wir nicht einmal gegen die Drohnen über Flughäfen etwas tun können. Klingbeil hört der Frau, die lange spricht, geduldig zu. Er erwidert: "Da sind wir beide uns sicher einig“ , dass Putin der Aggressor sei.
Deshalb sei es wichtig, militärisch stark zu sein, um keinen Krieg führen zu müssen. Durch den Krieg ändere sich viel im Leben, fährt er fort, "und da sind Ängste. Die habe ich auch. Die habe ich auch“, wiederholt er zweimal.
Der SPD-Chef reagiert dünnhäutig auf die Frage eines Junggenossen
Etwas gereizt reagiert der SPD-Chef hingegen auf einen jungen Genosssen, der fragt, was er denn zu der "schwachsinnigen Idee“ sage, eine Wehrpflicht mit Losverfahren zu machen: "Das ist eine persönliche Frage, ist das nicht komplett respektlos den jungen Menschen gegenüber, was hältst du davon Lars?“
"Respektlos teile ich nicht“, keilt Klingbeil zurück und moniert den Tonfall, denn die Gefahr durch Putin sei doch real. Er höre in Washington, im Baltikum, überall, dass Putin nicht aufhöre, wenn er mit der Ukraine fertig sei. "Wir dürfen nicht dumm und naiv sein. Deshalb investieren wir in die Bundeswehr.“ Es ist eine dünnhäutige Antwort des SPD-Chefs an einen Junggenossen, die messerscharf an der eigentlichen politischen Frage nach dem Losverfahren vorbeizielt.
Ähnlich erging es Benno Rougk, einem ehemaliger Redaktionsleiter der örtlichen Zeitung. Er meldet sich und erzählt, dass ihn die hohen AfD-Wahlergebnisse in Brandenburg sehr bewegt hätten: "Da habe ich mich aufs Rad gesetzt und bin einfach mal losgefahren, nach Dessau, nach Artern bis nach Erfurt und wollte in den Orten rausbekommen, was da los ist.“
Rougk berichtet, dass die Menschen überall das veränderte Stadtbild beklagt hätten, und damit meine er nicht Frauen mit Kopftuch, sondern Gruppen ausländischer Jugendlicher, die auf den Marktplätzen stünden, „wo früher deutsche Jugendliche gestanden haben.“ Er berichtet auch von jungen Frauen, die unter dem ständigen "Catcalling" - also übergriffigen, sexuellen Bemerkungen von Männern litten - und bestimmte Orte abends mieden. "Eigentlich wissen Sie, dass Herr Merz doch genau das gemeint hat“, sagt Rougk und fragt, warum Klingbeil den Kanzler so angehe: "Müsste das Problem nicht schnell gelöst werden, um denen den Boden zu entziehen, die für das Deutschtümeln der AfD stehen?", fragt er den SPD-Chef.
Der SPD-Chef flüchtet in das Lob der Vielfalt
Klingbeil war kurz vor seinem Kinobesuch in Brandenburg beim Kongress der Gewerkschaft IGBCE und hatte dort gegen Kanzler und Koalitionspartner Friedrich Merz (CDU) ausgeteilt: "Und ich sage euch auch: Ich möchte in einem Land leben, bei dem nicht das Aussehen darüber entscheidet, ob man ins Stadtbild passt oder nicht.“
Hier in Brandenburg weicht er zunächst auf allgemeines Lob für Diversität aus. Deutschland verändere sich, so dass in der Fußball-Nationalmannschaft nicht mehr nur Namen wie Müller, sondern auch Musiala vertreten seien.
Klingbeil räumt ein, dass es ein Sicherheitsproblem auf den Straßen gebe. Dabei stelle sich aber nicht die Frage, welchen Nachnamen Menschen hätten, sondern, ob sie sich an die Regeln hielten. Der SPD-Chef bleibt mit dieser Bemerkung seiner Weigerung treu, Sicherheitsprobleme im Kontext ungeregelter Migration zu diskutieren.
Und so berichtet er von Migranten, die ihm seit der Debatte das Gefühl spiegelten: "Ich gehöre nicht dazu.“ Auch zu Merz legt er nochmal nach "Ich werde dem Kanzler nie was Schlechtes unterstellen, aber wir müssen aufpassen, dass wir nicht Menschen verlieren, die dazu gehören.“ Deshalb sei ihm "vieles zu pauschal und zu platt“. Der Saal applaudiert.
Benno Rougk ist nicht enttäuscht von der Antwort, denn er habe nichts anderes erwartet, sagt er zu FOCUS online. Er halte das für einen prinzipiellen Fehler der SPD.
Bei der Frage nach Woidke verweist Klingbeil auf die Pressesprecherin
Am Ende des Abends ist es Zeit für Selfies und FOCUS online möchte Lars Klingbeil nach seiner Meinung zu den Aussagen seines Parteifreundes SPD-Ministerpräsident Woidke zur AfD fragen. Der hatte geäußert, sich eine Zusammenarbeit mit der AfD vorstellen zu können, wenn die alle Extremisten aus der Partei schmeiße. Wir fragen also:
"Was sagen Sie zur Aussage von Dietmar Woidke zur AfD?“
"Das muss ich erstmal lesen“
"Es geht um die Aussage, dass die AfD erst die Nazis rausschmeißt und man dann mit ihr arbeiten könne.“
"Ist das eine Presseanfrage?“
"Ja, ich sagte doch, FOCUS online“.
"Warum haben Sie das eben nicht gefragt?“
"Weil ich als Beobachter hier bin und das ziemt sich nicht, finde ich.“
"Dann wenden Sie sich an meine Pressesprecherin.“
Hat der Vorsitzende der deutschen Sozialdemokratie tatsächlich nicht gelesen, was Dietmar Woidke gesagt hat? Also fragt FOCUS online seine Pressesprecherin:
"Bekomme ich später ein Statement von Ihrem Chef dazu?“
"Nein. Diese Aussage ist doch ohnehin utopisch. So etwas wird nie geschehen.“
"Ist das jetzt ein offizielles Statement zum Vorschlag von Dietmar Woidke?“
"Nein.“
Es ist eine bemerkenswerte Reaktion in dieser politisch zentralen Frage. Denn Dietmar Woidke ist näher dran am blauen Problem als Lars Klingbeil. Der aber lässt die Chance verstreichen, als Parteivorsitzender Farbe zu bekennen und eine strategische Richtung vorzugeben. Womöglich war der Tag als Bundesfinanzminister und SPD-Vorsitzender auch einfach zu lang.