Der 3-Punkte-Energieplan, der Europas Industrie retten soll

Es war ein Ruf, den ich nicht ignorieren konnte. Ich wurde offiziell von der dänischen EU-Ratspräsidentschaft nach Luxemburg eingeladen, um am 20. Oktober direkt zu den Energieministern aller 27 EU-Mitgliedstaaten zu sprechen. Die Dringlichkeit des Augenblicks ist greifbar: Europas industrielles Herz schlägt langsamer, und die Frage lautet, ob wir abwarten und zurückfallen – oder ob wir uns für Innovation entscheiden.

Ich hatte die einmalige Gelegenheit, einen entschlossenen, wissenschaftlich fundierten Plan vorzustellen, der nicht nur unsere Wettbewerbsfähigkeit wiederherstellen, sondern auch unsere Energiezukunft sichern und den Weg in eine sauberere Welt beschleunigen kann. Es war ein seltener Moment, in dem wissenschaftliche Forschung eine direkte Verbindung zu den Entscheidungsträgern hatte, die Ideen in Taten umsetzen können – auf EU-Ebene.

Mehr Effizienz, Elektrifizierung und Unabhängigkeit von Fossilen

Meine Botschaft an die Minister war klar: Strategische industrielle Elektrifizierung, kombiniert mit ehrgeiziger Energieeffizienz, ist der wirkungsvollste Hebel, um Europas Kosten zu senken, Emissionen zu reduzieren und die globale Wettbewerbsfähigkeit zu stärken.

Wir befinden uns derzeit eindeutig in einer schwierigen Lage. Unsere starke Abhängigkeit von importierten fossilen Brennstoffen – die 2023 rund 58 Prozent unseres Energieverbrauchs ausmachte – hat unsere Wettbewerbsfähigkeit untergraben. Diese Abhängigkeit hat die Hersteller globalen Preisschocks ausgesetzt. Auf dem Höhepunkt der Gaskrise 2022 zahlten einige unserer energieintensiven Industrien bis zu fünfmal mehr für Gas als ihre Wettbewerber in den USA – mit entsprechenden Einbrüchen in der Schwerindustrieproduktion.

Gleichzeitig macht China mit voller Geschwindigkeit weiter und wird inzwischen als erster „Elektro-Staat“ bezeichnet – ein deutliches Zeichen für die Dringlichkeit, dass Europa handeln muss.

Effizienz ist Europas neuer Wettbewerbsvorteil

Wenn wir proaktiv sein und Innovation vorantreiben wollen, führt kein Weg an der industriellen Elektrifizierung vorbei. Der Kern meines Arguments ist die Effizienz: Die Elektrifizierung der Industrie bedeutet deutlich höhere Wirkungsgrade – elektrische Technologien übertreffen fossile Verbrennungstechnologien bei Weitem.

Eine moderne industrielle Wärmepumpe kann beispielsweise drei bis fünf Einheiten Wärme pro eingesetzter Einheit Strom liefern. Ein solcher Systemwirkungsgrad ist mit Verbrennungskesseln nicht erreichbar.

Effizienz ist eine Wettbewerbsstrategie. Entscheidend ist nicht nur der Preis der Inputs, sondern die Kosten des Endprodukts – also wie effizient Energie in Wertschöpfung umgewandelt wird. Elektrifizierung senkt drastisch die Energiemenge, die für jede produzierte Einheit erforderlich ist.

Derzeit sind nur etwa vier Prozent der industriellen Prozesswärme in Europa elektrifiziert. Forschungen zeigen jedoch, dass mit heutigen Technologien über 60 Prozent und mit Technologien in Entwicklung mehr als 90 Prozent elektrifizierbar sind.

Entscheidend ist, dass die führenden Unternehmen, die innovative industrielle Elektrifizierungslösungen anbieten, größtenteils in Europa ansässig sind.

Elektrifizierung stärkt zudem die Resilienz und Energiesicherheit, indem sie unsere Abhängigkeit von importierten fossilen Brennstoffen und volatilen Weltmärkten verringert.

Die Industrie erkennt zunehmend die Chancen: Laut einer aktuellen McKinsey-Umfrage erwägen über 90 Prozent der Unternehmen bereits die Elektrifizierung.

Strukturelle Hürden überwinden

Trotz des enormen Potenzials und des wachsenden Bewusstseins wird die breite Umsetzung noch durch mehrere strukturelle Barrieren behindert – wie ich in meiner jüngsten wissenschaftlichen Arbeit dargelegt habe.

Ich identifizierte vier zentrale strukturelle Hemmnisse:

  1. Lange Erneuerungszyklen von Anlagen, die den Technologiewandel verlangsamen.
  2. Strompreisstrukturen, die saubere Energie noch immer durch alte Abgaben und Umlagen benachteiligen und Elektrizität oft teurer machen als fossile Alternativen.
  3. Netzengpässe, die durch langsam voranschreitenden Netzausbau und träge Anschlussverfahren verschärft werden.
  4. Ein wachsender Fachkräftemangel, der Projekte verzögert, da Ingenieure und Techniker für den Betrieb elektrifizierter Systeme noch fehlen.

Eine gezielte politische Agenda für den nächsten Schritt

Um Europas Wettbewerbsfähigkeit freizusetzen, schlug ich eine klare, fokussierte politische Agenda für sofortiges Handeln vor:

  1. Ausbau der EU-Industrie-Elektrifizierungsauktion: Europa wird bald die weltweit erste Auktion zur industriellen Elektrifizierung starten – ein großartiger Schritt. Diese Initiative sollte zu einem mehrjährigen Programm ausgebaut werden, um eine stabile Projektpipeline zu schaffen.
  2. Reform der Energiebesteuerung: Die Fiskalpolitik muss mit den Zielen der Dekarbonisierung und Wettbewerbsfähigkeit in Einklang gebracht werden. Abgaben auf saubere Elektrizität, die zur industriellen Wärmeerzeugung genutzt wird, müssen reduziert werden, um die tatsächlichen Systemkosten und Emissionen widerzuspiegeln – und so gleiche Wettbewerbsbedingungen zwischen Elektronen und Molekülen zu schaffen.
  3. Beschleunigung der Netzanschlüsse: Der Zugang zum Stromnetz kann durch klare Fristen für Anschlüsse verbessert werden. Dazu gehören innovative Ansätze wie flexible und gemeinsame Netzanschlüsse sowie Unterstützung für industrielle Speicherlösungen.

Europa hat eine lange, erfolgreiche Tradition darin, neue Technologien zu skalieren. Industrielle Wärme ist die nächste große Herausforderung. Mit dem richtigen politischen Rahmen werden wir nicht nur unsere Industrie dekarbonisieren – wir werden eine moderne, wettbewerbsfähige und sichere Industrie-Supermacht des 21. Jahrhunderts aufbauen.

Jan Rosenow, Energieexperte und Wissenschaftler an den Universitäten Oxford und Cambridge, zählt zu den weltweit führenden Fachleuten für Energie und ist Fellow der Royal Society of Arts. Er ist Teil unseres Experts Circle. Die Inhalte stellen seine persönliche Auffassung auf Basis seiner individuellen Expertise dar.

Dieser Beitrag stammt aus dem EXPERTS Circle – einem Netzwerk ausgewählter Fachleute mit fundiertem Wissen und langjähriger Erfahrung. Die Inhalte basieren auf individuellen Einschätzungen und orientieren sich am aktuellen Stand von Wissenschaft und Praxis.