Ter Stegen irritiert mit Risiko-Entscheidung – dabei macht er alles richtig

Julian Nagelsmanns Worte waren wie mit dem Seziermesser gezogen, jedes einzelne davon. "Er ist die Nummer eins", sagte der deutsche Fußball-Bundestrainer über Marc-André ter Stegen und die Weltmeisterschaft 2026. Drei Vokabeln schickte Nagelsmann als eine Art bedingungsloses Grundeinkommen hinterher: "Wenn er spielt."

Und das ist gerade das große Problem: Er spielt nicht.

Zum einen kuriert ter Stegen weiterhin eine Rücken-OP aus, im November will er wieder sporttauglich sein bei seinem Klub, dem FC Barcelona. Zum anderen hat derselbe FC Barcelona denselben ter Stegen einigermaßen drakonisch degradiert, vom Stammkeeper und Kapitän zu einer Quasi-Nummer drei – hinter der spannenden Neuverpflichtung Joan Garcia (24) und dem tadellosen Routinier Wojciech Szczesny (35).

Marc-André ter Stegen in Aktion.
Marc-André ter Stegen in Aktion. dpa

Ter Stegen will Barcelona offenbar gar nicht verlassen

Die ter-Stegen-Posse beschäftigte Barcelona in diesem Sommer, und eigentlich schien die Sache klar: Winter-Abflug zu einem ambitionierten, europäisch vertretenen Verein und dort regelmäßige Praxis, die ter Stegen seit seinem Patellasehnenriss vom Herbst 2024 nicht mehr hatte. 

Der heute 33-Jährige hat Nagelsmanns in eine Weisung verpackte Drohkulisse vernommen und verstanden, aber ganz offensichtlich orientiert er sich anders als erwartet. Wie die spanische Zeitung "AS" meldete, will ter Stegen gar nicht weg. Sondern um seinen Platz bei den Katalanen kämpfen. Weil er sich in topfittem Zustand zutraut, Garcia und Szczesny auszustechen. 

Tatsächlich ist diese Haltung eine mutige Koketterie. Viele begreifen sie nicht. Dabei gibt es gute Argumente dafür.

Marc-André ter Stegen im DFB-Team.
Marc-André ter Stegen im DFB-Team. Getty

Ter Stegen setzt auf Risiko? Ja, aber das würde er ohnehin

Von einem deutschen WM-Torwart darf erwartet werden, sich den Anspruch aufzuerlegen, zu den Besten zu zählen. Weltweit. Ter Stegen zählte jahrelang zu den Besten, er hatte halt das vermaledeite Pech, dass Manuel Neuer – obwohl sechs Jahre älter – ein unüberwindbarer Vertreter seiner Generation war. 

Mag sein, dass ter Stegen jetzt auf die Karte Risiko setzt. Aber das würde er bei einem Wechsel ebenso, zwangsläufig und vermutlich unkalkulierter. Denn: Die Wahl eines geeigneten Klubs, noch dazu in der Winterpause, ist keine lästige Lappalie. Und die Gefahr, sich bei einem Transfer (ähnlich wie Leroy Sané in die Türkei) schlimmstenfalls zu verspekulieren, entsprechend gegeben.

Die Zeit zum Turnier wird ohnehin knapp, ter Stegen bleibt maximal ein halbes Jahr, um Nagelmann durch Eigenwerbung zu überzeugen. Dies alles in einem neuen, zunächst fremden Umfeld und nach einigen schlimmen Verletzungen – das wäre heikel. Von den Finanzen gar nicht zu reden. Ter Stegen spielt und verdient seit 2014 in Barcelona, doch der Spitzensport war noch nie eine Industrie der Samariter. Jeder schaut auf sich.

"Ein Torwart wie Marc-André ter Stegen hat es auch mal verdient, eine WM zu spielen", sagte DFB-Sportdirektor Rudi Völler kürzlich bei Sky. Die WM, die ter Stegen unumstößlich hätte spielen sollen, war jene 2018 in Russland; damals hatte Neuer praktisch die ganze Vorsaison mit einem Mittelfußbruch verpasst und wurde dem bei Barca überragend auftrumpfenden ter Stegen trotzdem vorgezogen. Das empfand er als ungerecht.

Bald vereint? Manuel Neuer und Julian Nagelsmann in der Nationalmannschaft.
Bald vereint? Manuel Neuer und Julian Nagelsmann in der Nationalmannschaft. Getty

Prognose: Scheitert ter Stegen, spielt Neuer die WM

Zuletzt verdiente sich Vertreter Oliver Baumann prächtige Noten im Nationaltor, gerade beim Auswärtssieg in Nordirland (1:0). Wie ein Planet kreist indes ein mögliches Neuer-Comeback über das DFB-Team, für ter Stegen muss es ein Fanal sein. 

Neuer hat einen Rücktritt vom Rücktritt bisher konsequent ausgeschlossen, Nagelsmann reagierte auf Nachfragen schon gereizt, aber nicht nur Neuer-Berater Thomas Kroth glaubt an einen denkbaren Sinneswandel. "Wenn Nagelsmann auf der Position ein Problem sieht, Manuel gesund ist und gefragt würde – dann wird Manu sicher nicht Nein sagen", meinte Kroth in der "Frankfurter Rundschau". Natürlich mit Blick auf die WM. Es wäre Neuers fünfte nach 2010, 2014, 2018 und 2022.

Deshalb folgende Prognose: Wenn ter Stegens Wette auf sich selbst nicht aufgeht, ist Neuer beim Turnier in den USA, Mexiko und Kanada erneut die deutsche Nummer eins.