Bademeister nach Todesdrama um Vierjährige: Wir brauchen endlich Ehrlichkeit

Es war ein gewöhnlicher Nachmittag in Hamburg-Niendorf. Ein Schwimmkurs, zehn Kinder, eine erfahrene Lehrerin. Eltern sitzen auf der Tribüne, winken, lächeln, fotografieren. Es riecht nach Chlor, die Luft ist warm, vertraut. Nichts deutet darauf hin, dass sich in wenigen Minuten alles verändern wird. 

Ein Mädchen verliert seine Schwimmhilfe, gerät unter Wasser. Niemand bemerkt es. Drei Minuten lang bleibt das Kind unbemerkt am Boden des Beckens, bis die Lehrerin es entdeckt. Sie zieht es heraus, beginnt mit der Reanimation, doch es ist zu spät. Das Mädchen stirbt am nächsten Tag an Sauerstoffmangel.

Zwei Jahre später fällt das Urteil: zehn Monate auf Bewährung – fahrlässige Tötung durch Unterlassen. Ein Urteil, das Schuld benennt, aber keine Lösung bietet. Denn wer genauer hinsieht, merkt: Nicht nur eine Lehrerin steht hier vor Gericht, sondern ein ganzes System.

Wenn Verantwortung allein bleibt

Die 39-jährige Lehrerin war allein mit ihrer Gruppe. Kein zweiter Aufsichtsposten, keine Hilfe am Beckenrand. Zehn Kinder, alle unterschiedlich sicher, manche ängstlich, manche übermütig. Wer einmal mit Nichtschwimmern gearbeitet hat, weiß, wie schnell der Überblick verloren gehen kann. Diese Frau hat Fehler gemacht, ja – aber sie hat getan, was viele täglich tun müssen: Sie war allein. Allein verantwortlich, allein entscheidend, allein überfordert.

Und genau hier liegt das Problem. Nicht im Einzelfehler, sondern in einer Struktur, die Überforderung zulässt, weil Personal fehlt, Geld fehlt und klare Regeln fehlen.

Der gefährliche Betreuungsschlüssel

In Deutschland gibt es keinen einheitlichen Betreuungsschlüssel für Schwimmunterricht. Jedes Bundesland regelt es anders, meist über vage Empfehlungen. In Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz heißt es, mehr als 15 Nichtschwimmer gelten als grenzwertig, dann „sollte“ eine zweite Aufsicht dabei sein. In Nordrhein-Westfalen liegt die Grenze bei rund 20 Kindern – egal, ob Schwimmer oder Nichtschwimmer.

Aber wer einmal wirklich am Beckenrand stand, weiß: 15 Nichtschwimmer allein zu beaufsichtigen, geht nicht. Ertrinken ist still. Kinder sinken, ohne Geräusch, ohne Vorwarnung. Eine Lehrkraft kann nicht gleichzeitig alle im Blick haben. Es reicht ein einziger Moment, eine abgelenkte Sekunde, ein falscher Blick – und alles ändert sich.

Erfahrene Schwimmlehrer sagen: Mehr als acht bis zehn Kinder sind nur dann sicher zu betreuen, wenn eine zweite Aufsicht im Wasser ist. Alles darüber ist kein Unterricht mehr, sondern Risiko.

Ein System, das Menschen überfordert

Deutschland kämpft mit einem massiven Personalmangel im Schwimmbereich. Über 3.000 Fachkräfte fehlen. Viele Kurse werden von Einzelpersonen geleitet – teils privat, teils im Auftrag von Schulen oder Vereinen. Oft gibt es keinen Rettungsschwimmer, keine zweite Person, keine Absicherung.

Eltern glauben, ihre Kinder seien dort sicher, aber viele wissen nicht, dass private Schwimmkurse nicht denselben Regeln unterliegen wie öffentliche Bäder. Dort entscheidet der Betreiber selbst, wie groß eine Gruppe sein darf. Und wenn dann etwas passiert, steht nicht das System vor Gericht, sondern der Mensch, der mittendrin steht.

Ralf Großmann wuchs im Schwimmbad auf und lebt Bäderbetrieb seit Kindheitstagen. Auf H2ohero.de teilt er seine Erfahrung aus deutschen Bädern – authentisch, alltagsnah und mit Herz für Sicherheit und Qualität. Er ist Teil unseres Experts Circle. Die Inhalte stellen seine persönliche Auffassung auf Basis seiner individuellen Expertise dar.

Überforderung hat viele Gesichter

Die Lehrerin in Hamburg hat ihren Beruf aufgegeben. Seit dem Unfall steht sie unter psychologischer Betreuung. Sie war keine Nachlässige, keine Gleichgültige – sie war eine, die an ihre Grenzen kam.

Viele, die im Wasser arbeiten, kennen dieses Gefühl: den Druck, alles im Griff haben zu müssen, die Angst, etwas zu übersehen, die ständige Anspannung, weil jeder Fehler Konsequenzen haben kann. Aber kaum jemand redet darüber. Über die Angst, die Verantwortung, die Lücke zwischen Vorschrift und Wirklichkeit. Man funktioniert. Bis etwas passiert.

Wie viele Kinder sind zu viele?

Die traurige Wahrheit ist: Wir haben uns daran gewöhnt, dass Schwimmunterricht auch mit zu wenig Personal „irgendwie läuft“. Dass ein Erwachsener mit einer ganzen Gruppe im Wasser steht – und dass es schon gutgehen wird.

Aber das ist kein Konzept, das trägt. Nicht, wenn es um Kinder geht. Nicht, wenn es um Sicherheit geht. Sicherheit braucht Struktur. Sicherheit braucht Grenzen. Und sie braucht den Mut, auszusprechen, was alle wissen: 15 Nichtschwimmer allein gehen nicht.

Was bleiben muss

Der Tod dieses Kindes darf kein tragischer Einzelfall bleiben, den man irgendwann verdrängt. Er muss Anlass sein, unser Verständnis von Verantwortung zu überdenken. Schwimmen zu lehren heißt, Leben zu schützen. Das kann niemand allein – nicht mit zehn Kindern, nicht mit fünfzehn, und schon gar nicht mit achtundzwanzig.

Wir brauchen verbindliche Betreuungsschlüssel, verpflichtende Zweitkräfte, klare Standards. Und wir brauchen endlich Ehrlichkeit. Denn Wasser verzeiht keine Fehler – und hinter jedem Unfall steht nicht nur ein Schicksal, sondern eine Struktur, die längst nicht mehr trägt.