"Vermeintliches Unrecht führt zu Rebellion": Kriminologen analysieren Münchner Killer

Schüsse aus einer selbstgebastelten Waffe, Sprengfallen, Feuer: Das Vorgehen von Martin P. war offenkundig durchdacht, als er am Mittwochmorgen  seinen Vater getötet, seine Mutter und die eigene Tochter schwer verletzt hat. Nach bisherigen Erkenntnissen der Ermittler gingen der Tat Familienstreitigkeiten voraus. Aus den bisher veröffentlichten Informationen erkennen Experten ein Muster.

Der Mord beziehungsweise Mordversuch an den Eltern und dem Kind sei schon für sich ein seltenes Phänomen, sagt Profiler Axel Petermann. Hinzu kämen im Münchner Fall die „sehr extremen Mittel“. Und weiter: "Der mutmaßliche Täter hat eine Menge Verhaltensweisen gezeigt, aus denen sich Rückschlüsse ziehen lassen", sagt er. 

Vaterschafts- und Erbschaftsstreit

P. trug zuletzt offenbar zwei Konflikte parallel aus. Zum einen wollte er trotz DNA-Tests die Vaterschaft für seine 21 Jahre alte Tochter nicht anerkennen. Zudem schwelte offenbar noch ein Erbschaftsstreit. Bezüglich der Vaterschaft setzte der 57-Jährige viele Hebel in Bewegung. In einer Petition an den Bayerischen Landtag aus November 2023 erfindet er eine „kriminelle Vereinigung von Personen“, an der Justiz, Polizei und das DNA-Labor der LMU München beteiligt gewesen sein sollen. Das Schreiben liegt FOCUS online exklusiv vor.

Mit seinen Vorstößen drang P. offenkundig nicht durch. "Die Reaktion, bei einer empfundenen Ungerechtigkeit weitere Stellen einzubeziehen, ist zunächst gewöhnlich". Problematisch werde es dann, wenn die Ablehnung nicht akzeptiert wird und immer weitere Stellen kontaktiert werden, analysiert Profiler Petermann. 

Irgendwann sei die Ablehnung jedoch offenbar in Feindseligkeit umgeschlagen. „Das offensichtliche oder vermeintliche Unrecht kann nicht verarbeitet werden und führt zur Rebellion gegen die Einschränkung“, sagt er. Für rationale Überlegungen seien Betroffene dann nicht mehr empfänglich, sie befänden sich in einem Tunnel: „Die eigene, nicht sehr reale Welt manifestiert sich und bestimmt das Denken.“ So könnte es auch beim Vaterschaftsstreit gewesen sein, den Martin P. erbittert führte.

Kampf gegen gefühlte Ungerechtigkeit

In anderen Kriminalfällen habe sich gezeigt, dass im Kampf gegen diese gefühlte Ungerechtigkeit der Adressatenkreis immer weiter wachse. Im Fall von Martin P. waren diese das Labor, die Polizei, Staatsanwaltschaften, Gerichte und der Landtag. Doch offenbar sah niemand außer P. dieses angebliche Unrecht. Daraus könne in der Denkweise P.s eine „Kollektivschuld“ entstanden sein, womit sich auch der Bezug zur Bombendrohung gegen das Oktoberfest erklären ließe. Also: Martin P. sah sich von Gegnern und an seiner Lage Schuldigen umzingelt.

Mit der Tat selbst hat er dann wohl die Gründe des empfundenen Leidens beseitigt wollen. „Aber anschließend gibt es keine Perspektiven“, sagt Petermann. Die drohende Gefängnisstrafe, die soziale Ächtung, das gescheiterte Leben: In dieser „Bankrotterklärung“ vor sich selbst finde sich ein möglicher Grund für den Suizid, als Polizisten P. stellen wollten.

Gefangen im Empfinden

Auch der Psychologe und Kriminologe Helmut Kury geht davon aus, dass sich Martin P. in einer „extremen – selbst erlebten – Lebenssituation“ befunden haben dürfte. Auffälligkeiten wie ein möglicher Alkohol- oder Drogenkonsum, psychische Probleme und der schwelende Familienkonflikt seien möglicherweise nicht rechtzeitig erkannt worden. Ein Mensch in dieser Lage könne völlig abwegige Gedanken haben, doch könne er es in seiner Lebenswelt als real empfinden. Diese Spannung könne für einen Betroffenen "eine heftige Kränkung sein“, sagt Kury.

Die Erfahrung zeige, dass viele Täter bereits vor der Tat Auffälligkeiten zeigten. Doch das zu erkennen, sei schwierig. Möglicherweise zeigten sich im Zuge der Ermittlungen zur Vorgeschichte des Falles entsprechende Anhaltspunkte.