"Warteliste ist voll" - Nico war der Klassen-Schlechteste – heute hilft er anderen Kindern beim Lernen

Ab und zu bei den Hausaufgaben nicht weiter zu wissen, das erleben viele Schüler. Mal im Unterricht nicht mitzukommen – auch das ist keine Seltenheit und kann durchaus mal vorkommen. Ist es aber die Regel und nicht die Ausnahme, sind der tägliche Schulbesuch und das Lernen nur noch mit Frust behaftet, weil man einfach nicht mitkommt – dann kann Nico Gentner helfen.

Der 28-Jährige ist Lerntherapeut und weiß selbst genau, wie sich das anfühlt, wenn alle in der Klasse mitkommen, nur man selbst versteht nicht, wie es gehen soll. „Ich hatte selbst Lernschwierigkeiten“, erzählt er freimütig, nur mit viel Unterstützung seiner Eltern und „von tollen Lehrern“ habe er den Hauptschulabschluss geschafft. Lernen sei für ihn immer mit Stress und Misserfolg verbunden gewesen. Seine Eltern haben ihm dann eine Lerntherapie vermittelt. „Eigentlich war das Thema Lernen schon für mich abgehakt, ich dachte, ich kann das eben nicht“, erinnert er sich. „Aber ich hab’ mich dann drauf eingelassen.“ Die Lerntherapeutin habe ihm „wie nie zuvor“ erklärt, was er zum Lernen braucht. „Das war der erste positive Wendepunkt“, erinnert sich Gentner. „Ich war davor immer der Schlechteste in der Klasse.“

Als Lerntherapeut selbstständig gemacht

Jetzt, wo er wusste, wie er gut lernen kann, fing er erst richtig damit an: Gentner begann eine Lerntherapie-Ausbildung, arbeitete parallel als Erzieher in einer Kindertagesstätte und machte auch noch eine Weiterbildung zum Jugend- und Heimerzieher. Als Lerntherapeut hat er sich dann im Nebenerwerb selbstständig gemacht: „Ich möchte gerne das, was mir selbst geholfen hat, weitergeben.“

Im ersten Jahr, erinnert sich Gentner, „habe ich ein Kind begleitet, bei der Familie zu Hause.“ Dann zog er in eine größere Wohnung um und konnte die Lerntherapie dort anbieten. Es läuft gut: Neun Kinder betreut Nico Gentner neben seiner Arbeit im Kindergarten aktuell, außerdem hat er eine Mitarbeiterin angestellt, die ebenfalls vier Kinder betreut. Die Warteliste ist voll. Die meisten Kinder in der Lerntherapie besuchen die dritte oder vierte Klasse, es sind aber auch Ältere dabei. „Es ist nie zu spät“, sagt Gentner bestimmt. „Egal, wo genau man sich schwertut: Wenn man die Basis legt, kann sich alles andere entwickeln, und die Basis lässt sich immer legen.“

Sehr wichtig ist ihm zu vermitteln, dass die Kinder nichts falsch gemacht haben: „Es geht nicht darum herauszufinden, was bei den Kindern falsch läuft. Ich sage zu den Kindern: Wir schauen, was du brauchst, damit wir dir das Richtige geben können.“ Gentner unterrichtet die kybernetische Methode nach Hariolf Dreher, die ihm auch selbst geholfen hat.

Die lange Warteliste legt nahe, dass es immer mehr Kinder gibt, die Hilfe beim Lernen brauchen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung gibt sogar an, jedes dritte Schulkind habe Schwierigkeiten beim Lesen, Schreiben und Rechnen. „Es geht ja darum, wie man unterschiedliche Kinder in ihren unterschiedlichen Lernfähigkeiten fördern kann“, sagt Nico Gentner dazu. „Man könnte mit Lerntherapeuten an den Schulen kooperieren“, schlägt er vor: für Selbstregulation oder Gedächtnistraining gäbe es relativ einfache Übungen und Spiele, die man in der Pause anbieten könnte. „Und davon profitieren alle Kinder.“ Solche Übungen funktionierten aber auch schon im Vorschulalter, so Gentner: „Da kann man den Kindern viel mit auf den Weg geben, damit sie einen guten Einstieg ins Lernen finden.“ Die Ängste einiger Eltern, dass schon aus dem Kindergarten eine Schule gemacht würde, möchte er entkräften: „Man kann spielerisch schon vieles erreichen.“

Kleine Erfolge sichtbar machen

Sein liebster Moment in der Lerntherapie? „Es ist einfach super mitzubekommen, wenn es bei dem Kind klick macht“, erzählt Gentner. Dieser Aha-Moment sei es dann auch, der ihm extra Motivation verschaffe. Wenn das Kind dann flüssig rechnen, fehlerfrei einen eigenen Aufsatz schreiben kann: „Das sind wirklich sehr coole Momente.“

Aber mit dem ersten Aha ist es noch nicht getan: „In der Schule sind die anderen meist weit voraus. Wenn es dann erste, kleine Erfolge gibt, sieht das Kind diese oft nicht. Ich bin dann dafür da, dem Kind diese Erfolge sichtbar zu machen.“ Wie beginnt er eine Lerntherapie mit einem neuen Kind? „Ich erzähle meistens erst einmal meine Geschichte, dann wird die Stimmung häufig locker. Ich versuche, dem Kind zu erklären: In der Schule ist es schwer für dich, das weiß ich, aber hier geht es darum, dass es für dich leichter wird – die Lerntherapie soll nicht zusätzlich belasten.“

Was rät er all jenen Kindern, die beim Lernen an eine Wand stoßen? „Es ist wichtig zu verstehen, dass Schule ein wichtiger Teil des Lebens ist, aber eben nur ein Teil, nicht das ganze Leben“, sagt Gentner. Bei ihm war es Sport, der Handball, „da war ich gut, das hat mich gestärkt“. Seine Kindheit, erzählt er, sei trotz des Lernstresses glücklich gewesen. „Man muss den Fokus auf das Talent des Kindes setzen“, sagt er, „das kann, aber muss eben nicht die Schule und das Lernen sein.“

Wenn das Lernen zum Frust wird

Zur Person
 Nico Gentner, Jahrgang 1996, teilt seine Zeit zwischen der Arbeit im Kindergarten, die ihm eine „Herzensanlegenheit“ ist, und der Arbeit als freier Lerntherapeut auf. Weiteres steht auf seiner Internetseite www.lerntherapienicogentner.de.

Methode
 Gentner unterrichtet die kybernetische Methode nach Hariolf Dreher. Beispielsweise werden hier Mengen mit dem Körper spürbar gemacht, also etwa mit den Fingern auf dem Tisch. Buchstaben werden anfangs über Mundbilder erfasst. Wahrnehmung und Bewegung sollen Basisfähigkeiten für schulisches Lernen sein. Weitere Informationen dazu finden sich auf www.kybernetische-methode.de. 

Von Rebecca Anna Fritzsche

Das Original zu diesem Beitrag "Vom Schlechtesten in der Klasse zum Lerntherapeuten" stammt von Stuttgarter Zeitung.