Hohe Verluste für Russland: Putins Armee blutet bis 2026 wohl aus

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Bis nur noch ein Mann übrig bleibt: Estnischer Soldat während einer Übung – der baltische Staat setzt jetzt auf Härte und rechnet vor, dass pro Monat rund 10.000 Russen sterben müssten, um zu gewinnen (Symbolbild). © NurPhoto/Imago

Estland wagt sich aus der Deckung mit der Formel des Sieges in der Ukraine: Kämpfen, bis kein Russe mehr steht. Tallinn rechnet mit 10.000 Opfern pro Monat.

Tallinn – Die estnische Regierung rechnet in Gefallenen. Darin liegt für sie die Lösung des Ukraine-Kriegs – und dessen baldiges Ende. In einem Diskussionspapier setzt Estland darauf, dass im Kräftemessen mit Russland am Ende mehr ukrainische Soldaten auf dem Schlachtfeld übrig bleiben würden und Wladimir Putins Armee somit besiegt wäre – das berichtet jetzt die Kiew Post. Die Esten berufen sich auf einen im Westen bestehenden Konsens, dass Russland nach spätestens zwei Jahren militärisch zu geschwächt wäre, um eine akute Gefahr für die Nato darzustellen. Darin sehen sie die Leitlinie von künftigem militärischen Handeln des Westens.

„Das Ziel sollte daher darin bestehen, eine dauerhafte Abnutzungsrate von mindestens 50.000 getöteten und schwer verwundeten russischen Truppen alle sechs Monate herbeizuführen, um die Qualität der russischen Streitkräfte kontinuierlich zu verschlechtern und Russland daran zu hindern, seine Offensivkampfkraft zu regenerieren – was der Ukraine bisher erfolgreich gelungen ist“, wie die Kiew Post aus dem öffentlich zugänglichen Bericht zitiert. Das baltische Land ist seit 2004 Partner des nordatlantischen Verteidigungsbündnisses – und hat Angst vor Russland. Deshalb zeigt das estnische Verteidigungsministerium in seinem Papier, auf das sich die Kiew Post bezieht, dem Aggressor Wladimir Putin die Zähne.

Das Papier folgt einer konkreten Waffenlieferung des kleinen Nato-Mitglieds: Das jüngste Hilfspaket im Wert von fast 80 Millionen Euro umfasst eine große Menge Javelin-Panzerabwehrraketen und Maschinengewehre, Munition für Kleinwaffen, verschiedene Land- und Wasserfahrzeuge sowie Tauchausrüstung. Wie das estnische Verteidigungsministerium mitteilt, hatte Verteidigungsminister Hanno Pevkur dem ukrainischen Verteidigungsminister Rustem Umjerow in dem Zusammenhang zugesichert, die Ukraine in den nächsten vier Jahren pro Jahr in Höhe von 0,25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu unterstützen; das Land erwirtschaftet von den drei baltischen Staaten mit 29 Millionen Euro das geringste Bruttoinlandsprodukt. Nach eigenen Angaben hat Estland der Ukraine zusammen mit dem jüngsten Paket seit 2022 Militärhilfe im Wert von fast 500 Millionen Euro oder mehr als 1,3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes gewährt.

Kontroverse Strategie: Estland will mit Härte die Weltordnung stützen

Rückenwind verschafft der Regierung in Tallinn ihre Überzeugung, der russische Verteidigungsetat sei fürchterlich aufgebläht und Russland überspiele vor der Welt seine militärische Kurzatmigkeit. Estlands Premierministerin Kaja Kallas gibt sich mit ihrem Papier als Freundin einer harten Haltung der Nato gegenüber Russland – sie plädiert dafür, nach dem aktuellen Kriegswinter alles daranzusetzen, Wladimir Putins Invasionsarmee zu pulverisieren.

Kallas widerspricht damit westlichen Beobachtern. Markus Reisner, Historiker und Oberst des österreichischen Bundesheeres, betont immer wieder, der Westen liefere der Ukraine zwar genug Waffen, um die Frontlinie gegen Russland zu halten, aber nicht genug, um die Russen zu besiegen. Ihm zufolge ist das dem strategischen Interesse des Westens geschuldet, die Eskalation in Grenzen zu halten: Der Westen wolle Russland nicht niederschlagen, sondern in die Schranken weisen.

Deshalb hangele sich der Westen von einer Lieferung zur nächsten. Reisner zufolge „moderiert und temperiert“. Würde Russland mit seinem Überfall durchkommen, weil jedes Land, das hätte eingreifen können, seine eigenen Interessen verfolgt, indem es sich isoliert oder auf Sanktionen gegen Russland verzichtet, wie China, Brasilien, Indien oder Pakistan, stünde die Weltordnung auf dem Spiel. Kallas schätzt die russische Kriegswirtschaft allerdings auch klar schwächer ein, als das westliche Experten beurteilen.

Kontroverse Einschätzung: Wie viel Soldaten kann Putin tatsächlich ausheben?

Der deutsche Politikwissenschaftler Carlo Masala rechnet nach einer Wiederwahl Wladimir Putins mit einer erneuten Mobilisierungswelle in Russland. Masala schätzt, dass zwischen 300.000 und 400.000 Mann erneut ausgehoben werden könnten; damit hätte Putin wieder eine runderneuerte Streitmacht für die Ukraine zusammen. Carlo Masala äußert sich generell inzwischen vorsichtiger zum Verlauf des Ukraine-Krieges. Er sieht einen Wendepunkt heraufziehen oder zumindest das „Momentum“ des ukrainischen Angriffsschwunges gegen die Truppen von Wladimir Putin verblassen: „Russland hat auf Kriegswirtschaft umgestellt und fertig im großen Stil Panzer und Munition. Es ist in der Lage, jede Menge Material an die Front zu werfen. Das lässt zwar qualitativ zu wünschen übrig. Aber die alte russische Strategie besteht darin, dass Quantität mit der Zeit eine Qualität an sich wird“, schreibt der Politikwissenschaftler im Hamburger Abendblatt.

Tatsächlich haben selbst russische Kommentatoren nachgerechnet, dass angesichts der Verlautbarungen des Kreml über aktuell in der Ukraine eingesetzte Truppen und der Zahl der bereits vor dem Überfall dort stationierten Soldaten eine Lücke von rund 300.000 Soldaten klaffe. Diese Zahl müsste dann die tatsächlichen russischen Verluste beziffern. Das führe auch zwangsläufig zu einem moralischen Ausbluten von Putins Invasionsarmee.

Kaja Kallas will der Nato einen Denkanstoß vorlegen und bezieht zu westlichen Beobachtern eine klare Gegenposition: Kallas beschreibt Russlands Rekrutierungs- und Militärproduktionskapazität eher als begrenzt und daher sei unwahrscheinlich, dass es in der Lage sein wird, ausreichend Ausrüstung zu beschaffen, um Monat für Monat rund 10.000 Soldaten an die Front zu werfen. Russland habe in den zurückliegenden zwei Jahren schon einen derart hohen Blutzoll gezahlt, als dass das in dem sich realisierenden Abnutzungskrieg so weiter gehen könnte. In dem Papier resümiert Kallas, dass die Zeit für die Ukraine spiele: Je länger der Krieg dauere, desto weniger seien die Russen in der Lage, ihre Stellungen zu halten, geschweige denn Gegenoffensiven zu führen.

Kontroverse Diskussion: Militärs fordern gegen Russland „All In“ zu gehen

Kallas rechnet mit einem Ende des Ukraine-Krieges in 2026 – was sie mit westlichen Beobachtern eint; die bezweifeln ebenfalls ein Ende des Krieges im kommenden Jahr. Allerdings setzt Kallas ein verstärktes Engagement der Nato voraus. Das estnische Regierungspapier empfahl den westlichen Staaten, die geschätzten 330 Milliarden Euro an eingefrorenen russischen Vermögenswerten zu beschlagnahmen, um die Kriegsanstrengungen der Ukraine zu finanzieren. Das solle die Produktion militärischer Güter ankurbeln, High-Tech-Waffen in die Schlacht werfen und die ukrainische Armee schulen. Insofern setzt das estnische Papier dort an, wo die Nato-Verbündeten erste Anstrengungen unternommen haben.

Auch darin bietet das estnische Papier keine grundlegenden neuen Erkenntnisse – die stotternd wieder anlaufende westliche Rüstungsindustrie ist seit langem ein öffentlich kontrovers diskutiertes Thema – so wie der österreichische Oberst Markus Reisner bei tagesschau.de klipp und klar die Umstellung des Westens auf Kriegswirtschaft gefordert hat: „Ich habe das eigentlich schon relativ kurz nach Beginn des Krieges gesagt. Als klar war, dass die Russen beginnen, sich vom Schock des Misserfolgs am Anfang zu erholen. Schon damals konnte man erkennen, dass alle Voraussetzungen für einen Abnutzungskrieg geschaffen werden. Einen Abnutzungskrieg kann man nicht nebenbei führen, da muss man ,All In‘ gehen.“

Die Esten sind in ihrer Mathematik des Erfolgs ebenso glasklar: Allein die Produktion der Munition in den westlichen Ländern müsse um das zweieinhalbfache gesteigert werden, um den minimalen Bedarf der Ukraine zu decken. Denn wie Historiker erwartet hatten, hatte Russland bis zu diesem Winter darauf beharrt, dass die Invasion in der Ukraine noch stärker als bisher mit ver­alteten, hauptsächlich auf Masse beruhenden Konzepten von Kriegsführung fort­ge­setzt wird. Mit dem Eingraben der Russen vor der jetzt laufenden Gegenoffensive der Ukraine war dieses Konzept dann gescheitert.

Estlands Regierung geht davon aus, dass diese Taktik allerdings mit dem Ende des Winters fortgesetzt wird. Historiker bezeichnen dieses Verhalten mit Rückgriff auf den Ersten und Zweiten Weltkrieg als „Taktik der menschlichen Welle“ und meinen damit das Überrennen des Gegners mit der schieren Zahl an mehr oder weniger gut ausgerüsteten oder mehr oder minder gut ausgebildeten Soldaten. Mit den entsprechend hohen Zahlen an Gefallenen, die Russland bisher in Kauf genommen hat.

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