Top-Soziologe verrät den "größten Fehler im Umgang mit der AfD"
Wahrscheinlich kein ARD-Sommerinterview sorgte in den vergangenen Tagen für so viel Wirbel wie der Talk mit AfD-Chefin Alice Weidel. Nicht wegen der Inhalte - sondern, weil Mitglieder der Gruppe "Zentrum für Politische Schönheit" das Gespräch störten.
In unmittelbarer Nähe des Interview-Ortes am Berliner Spree-Ufer hatte das Künstlerkollektiv einen ehemaligen Gefangenentransporter zu einer mobilen Soundanlage umgebaut. Die Musik war so laut, dass ein normales Gespräch kaum möglich war.
Soziologe Nassehi: "Für Weidel hätte es nicht besser laufen können"
Das ARD-Sommerinterview hat die Debatte über den Umgang mit der AfD neu entfacht. Die "Welt am Sonntag" sprach darüber mit dem Soziologen Armin Nassehi, der ab Oktober Vizepräsident der Ludwig-Maximilians-Universität München sein wird.
"Ich fand die Aktion etwas pubertär. Es ist aufschlussreich, was Weidel sagt – und wie sie es sagt", so Nassehi. Die AfD-Chefin hatte seiner Meinung nach inhaltlich wenig zu bieten. Was sie zum Besten gab, sei jedoch durch den Protest übertönt worden. "Besser hätte es für Weidel gar nicht laufen können", findet der Soziologe.
Generell kommt die AfD in seinen Augen mit wenigen Argumenten aus - ein Vorteil für die Partei. "Sie macht eine emotionalisierte Form von Politik, etwa beim Thema Migration. Und sie lebt davon, Systemkritik zu betreiben", sagte Nassehi der "Welt am Sonntag".
Nassehi erklärt "größten Fehler im Umgang mit der AfD"
Dann erklärte er, was er bei der Auseinandersetzung mit der Partei für problematisch hält. "Der größte Fehler im Umgang mit der AfD liegt darin, ihre Diagnose zu übernehmen, in diesem Land gehe alles den Bach herunter."
Viele Menschen in Deutschland seien laut Studien mit ihrem Leben "eigentlich ganz zufrieden". Allerdings schwindet laut Nassehi das Vertrauen in die Demokratie, den Staat und die Regierung.
Der Blick auf aktuelle Umfragen bekräftigt diese These. In einer Erhebung der Bertelsmann-Stiftung unter 18- bis 30-Jährigen gab mehr als jeder zweite junge Erwachsene an, der Regierung nicht zu vertrauen. 45 Prozent der Befragten misstrauten dem Parlament.
AfD mit bestem Umfrage-Wert seit April
Dazu kommt: Die schwarz-rote Koalition ist seit rund 80 Tagen im Amt. Das aktuelle ZDF-Politbarometer der Forschungsgruppe Wahlen zeigt aber, dass schon jetzt die Zufriedenheit mit der Bundesregierung sinkt.
49 Prozent der Deutschen bewerteten die Arbeit von Schwarz-Rot als "eher gut". Ende Juni waren es noch 60 Prozent. Interessant ist, dass die vielfach kritisierte Ampel-Regierung nach der gleichen Zeit im Amt besser abschnitt. Im Februar 2022 zeigten sich 64 Prozent der Befragten zufrieden mit der Arbeit der Koalition.
Und noch ein weiterer Umfrage-Wert dürfte Bundeskanzler Friedrich Merz und seine Regierung beunruhigen. Denn wenn nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre, würden 24 Prozent der Befragten bei der AfD ihr Kreuz machen.
Für die Partei ist das der beste Wert seit April. Gleichzeitig verliert die Union an Zustimmung und kommt auf nur noch 27 Prozent. Der Abstand zwischen beiden politischen Lagern schrumpft also zusehends.
Entzauberung durch Einbindung oder Abgrenzung?
Die Frage nach dem Umgang mit der AfD ist letztlich nicht erst seit dem ARD-Sommerinterview mit Alice Weidel ein vieldiskutiertes Thema. Immerhin sitzen im neuen Bundestag 152 AfD-Abgeordnete. Im Mittelpunkt steht die Frage: Was ist besser, klare Abgrenzung oder politische Entzauberung?
Der Historiker Martin Sabrow sprach sich Ende April gegen eine Entzauberung durch Einbindung der AfD aus. Er begründete seine Sicht mit aktuellen politischen Entwicklungen. "Wer hätte gedacht, dass Trump nach seiner ersten Amtszeit wiedergewählt werden könnte?", sagte Sabrow der "Tagesschau".
Trotzdem forderte er eine "souveräne Gelassenheit" im Umgang mit der AfD. Heißt beispielsweise, die Brandmauer bei kommunalen Themen nicht um jeden Preis aufrechterhalten - vor allem dann nicht, wenn man eigentlich die gleiche Position vertritt wie die Partei mit dem blau-weiß-roten Logo.