Hirschhausen über Medikamentenmissbrauch: „Man geht zu den Dealern in Weiß“

Deutschland ist eines der Länder mit dem höchsten Konsum von Schmerzmitteln weltweit. Nie war der Verbrauch an Schmerzmitteln so hoch wie heute. In den vergangenen 25 Jahren hat er sich mehr als verdreifacht: Ibuprofen, Diclofenac, Voltaren sind, selten war der Ausdruck so gerechtfertigt, in aller Munde.

„Das tut weh“, stöhnt der Fernseharzt Eckart von Hirschhausen in der ARD-Sendung „Hirschhausen und der Schmerz“. Er sieht aber auch den Unterschied: „Wenn der Schmerz bleibt und alles bestimmt, wird es unerträglich.“ Hirschhausen trifft in der Sendung Menschen, die das Unerträgliche jeden Tag ertragen.

Schmerzmittel in mörderischer Dosierung

„Wie nah sind wir in Deutschland an – fast – kriminellen Verschreibungen?“, fragt Hirschhausen. Er trifft eine alte Frau, die über Jahre von der Hausärztin mit Fentanyl zugeballert war – in einer Dosis, die schwer nachvollziehbar ist, aber für die Patientin Tagesroutine war.

„Was würde passieren, wenn ich das jetzt nehmen würde?“, will Hirschhausen von einem Schmerzmediziner wissen. „Sie würden nicht mehr atmen“, gibt der trocken zur Antwort. „Das würde reichen, um uns beide umzubringen.“ Das ist ein Extremfall. Ein Schmerzmittel hat die Schmerzempfindlichkeit gesteigert und damit die Dosierung in fast mörderische Höhen getrieben. Doch auch im Alltag beschreibt Hirschhausen Kopfschmerzen, die durch zu viel Schmerzmitteleinnahme erst ausgelöst werden. 

Seine Empfehlung klingt einfach. Sie heißt: 10-zu-20-Regel. Von 30 Tagen im Monat an nicht mehr als zehn Tagen ein Schmerzmittel einnehmen, dann 20 Tage Pause, um keinen Teufelskreis auszulösen.

Über Medikamentenmissbrauch

In Deutschland nehmen schätzungsweise 2,7 Millionen Menschen zwischen 18 und 60 Jahren Medikamente in schädlichen Mengen ein oder sind von ihnen abhängig. Von einer Abhängigkeit sprechen Mediziner, wenn mindestens drei der folgenden sechs Kriterien innerhalb des zurückliegenden Jahres erfüllt waren:

  • starker Wunsch und/oder Zwang, das Medikament zu konsumieren
  • Verlust der Kontrolle über Beginn, Menge und/oder Ende der Einnahme
  • körperliche Entzugssymptome, wenn der Konsum beendetet oder verringert wird
  • Bedarf von zunehmend höheren Dosen, damit die gewünschte Wirkung des Medikaments erzielt wird
  • Vernachlässigung anderer Interessen zugunsten des Substanzkonsums, auch durch den den erhöhten Zeitaufwand, um die Substanz zu beschaffen oder sich von den Folgen des Konsums zu erholen
  • anhaltender Substanzkonsum trotz eindeutiger und bewusster körperlicher oder psychischer Schäden

Um einer Medikamentensucht vorzubeugen gibt es zwei hilfreiche Regeln:

  • korrekte Dosierung: Verwenden Sie das Medikament möglichst in der kleinsten Packungsgröße und nehmen Sie es in der für Ihre Erkrankung empfohlenen Dosis ein.
  • kurze Anwendung: Nehmen Sie das Medikament nur so lange ein, wie es wirklich nötig ist – am besten so kurz wie möglich. Eine längerfristige Behandlung sollte immer gut überlegt sein.

Hirschhausen: „Menschen vergiften sich mit Schmerzmitteln“

Und was ist die Hitliste der Schmerzpillen in Deutschland? Marktführer ist Ibuprofen mit 48 Millionen verkaufter Packungen im Jahr. Es folgt Paracetamol mit etwa der Hälfte. Bei dem warnt Hirschhausen deutlich vor möglichen Organschäden, vor allem bei der Leber. „Aus Unwissenheit vergiften sich Menschen mit frei verkäuflichen Schmerzmitteln“, sagt er.

Als Beispiel präsentiert er den Ex-Fußballprofi Ivan Klasnic. Seine Mannschaftsärzte bei Werder Bremen hatten ihn mit Diclofenac versorgt – über Jahre. „Ich glaube, dass ohne Schmerzmittel kein professioneller Sport gemacht werden kann“, sagt Klasnic. Es hat ihn seine Nieren gekostet. „Die verschreiben einem, was man möchte“, urteilt eine Medikamentenabhängige über ihre Ärzte.

Wie der Löwenbiss auf die Beine hilft

Hirschhausen probiert seine körpereigenen Schmerzmittel. Auf dem Trainingsfahrrad quält er sich, damit sein Körper Endorphine ausschüttet. Dann wird seine Schmerzempfindlichkeit getestet. Bewegung hilft. Der Mensch hat „sein hemmendes System“, mit dem er Schmerz reduzieren kann. Ein Fachmann erklärt ihm das drastisch. Wenn einer vom Löwen gebissen wird, kann er liegenblieben und wird gefressen. Oder sein Körper nimmt ihm den Schmerz, damit er weglaufen kann.

Dieses System haben wir seit der Vorzeit verinnerlicht – auch ganz ohne Löwenbiss. Allerdings, so stellt es die ARD-Sendung dar, gebe es erhebliche wirtschaftliche Interessen. Hirschhausen stellt Professor Christoph Maier vor. Und der behauptet: „Wir haben auch in Deutschland Medikamente auf den Markt bekommen, die niemals wirklich geprüft worden sind, die aber durch den Einfluss wichtiger Pharmafirmen eine Popularität bekommen haben, die sich mit den harten Daten, die man irgendwann erhoben hat, nicht rechtfertigt.“

Macht Lobby-Arbeit Millionen krank?

Schafft Lobbyismus also Suchtkranke? Hirschhausen stellt es so dar. Er nennt die Schmerzmittel Tramadol und Tapentadol, entwickelt vom deutschen Hersteller Grünenthal. „Sie führen weltweit zu millionenfacher Abhängigkeit“, formuliert es der Fernseharzt. Die nächste Szene nimmt den Zuschauer direkt mit ins „Drob Inn“ in Hamburg, wo sich Süchtige Heroin spritzen können. Das macht den Vorwurf noch drastischer. „Man geht zu den Dealern in Weiß“, beschreibt ein Ex-Abhängiger die Ärzte, die ihm Opiate auf Rezept verschaffen – eine gute Patientengeschichte genügt. Hirschhausen lacht dazu. Und sagt: „Die beiden Welten sind sich manchmal näher, als man denkt.“

So finden Sie Hilfe bei Medikamentenabhängigkeit

Wenn Sie das Gefühl haben, Ihren Medikamentenkonsum nicht unter Kontrolle zu haben, sollten Sie sich in jedem Fall Hilfe Suchen. Es gibt verschiedene Anlaufstellen:

  • Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen betreibt eine Online-Suchthilfeverzeichnis, über das sie Beratungsstellen in der Nähe Ihres Wohnorts finden können. Auf der Seite finden Sie auch Informationen zu Medikamentensucht.
  • Die Initiative "Stille Sucht" bietet Informationen und Tipps zum Weg aus der Medikamentenabhängigkeit. Die Plattform bietet bietet auch einen anonymen Selbsttest an, um das eigene Konsumverhalten einzuschätzen. Stille Sucht ist Initiative der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitäts­klinikum Tübingen und bietet auch Informationsn zur Weiterbildung von Ärztinnen und Ärzten zu dem Thema an.
  • Das Bundesministeriums für Gesundheit informiert bei "gesund.bund.de" über Medikamentenmissbrauch und Medikamentenabhängigkeit und Hilfsangebote.

Bei akuten Krisen können sie folgende Anlaufstellen kontaktieren

  • Bundesweite Sucht- und Drogen Hotline
    01805 313031
    täglich von 0 bis 24 Uhr
  • Info-Telefon der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
    0221 892031
    Mo. bis Do. von 10–22 Uhr
    Fr. bis So. von 10 bis 18 Uhr
  • Telefonseelsorge
    0800 1110111
    0800 1110222
    täglich von 0 bis 24 Uhr