Ende September teilte sich die Welt einmal mehr in jene zwei Lager, die seit der Corona-Zeit verbissen um das Wahrheitsmonopol in der Medizin streiten. US-Präsident Donald Trump gab bekannt, was er großspurig als "die wichtigste medizinische Nachricht in der Geschichte des Landes" angekündigt hatte: "Ich meine, wir haben die Antwort auf Autismus gefunden." Als Hauptverantwortlichen für die massive Zunahme von Autismus-Diagnosen nannte er ein Medikament, das in den USA jeder kennt und fast jeder zweite regelmäßig einnimmt: das Schmerz- und Fiebermittel Tylenol.
Bei uns ist der Wirkstoff als Paracetamol und unter Markennamen wie Ben-u-ron seit den 1950er Jahren im Handel. Die präsidiale Warnung an die Schwangeren dieser Welt war laut und deutlich: "Don’t take Tylenol. Fight like hell not to take it!" (auf Deutsch: "Nehmen Sie kein Tylenol. Kämpfen Sie mit aller Kraft gegen die Einnahme an!")
Die US-Arzneimittelbehörde FDA verschickte noch am selben Tag eine Warnmeldung an alle Ärzte und teilte mit, dass die Hersteller von Paracetamol-Präparaten künftig in den Gebrauchsinformationen auf ein möglicherweise erhöhtes Risiko für neurologische Störungen wie Autismus und ADHS hinweisen müssten.
Über den Kolumnisten
Alexander S. Kekulé ist Virologe, Epidemiologe und ehemaliger Berater der Bundesregierung. Zu aktuellen Fragen der Wissenschaft schreibt der studierte Mediziner regelmäßig an dieser Stelle und auf "X" unter @AlexanderKekule.
BfArM-Sprecher: "Da ist natürlich nichts dran"
Die Reaktion medizinischer Fachgesellschaften, betroffener Pharmafirmen und von Gesundheitsbehörden (außerhalb der USA) kam prompt und fiel, erwartungsgemäß, vernichtend aus: Für einen Zusammenhang zwischen der Einnahme von Paracetamol in der Schwangerschaft und neurologischen Entwicklungsstörungen gäbe es nicht den geringsten Hinweis, die Warnungen der Trump-Administration seien aus der Luft gegriffen.
Der Tylenol-Hersteller Kenvue erklärte: "Unabhängige, verlässliche Forschungsergebnisse zeigen eindeutig, dass die Einnahme von Acetaminophen keinen Autismus verursacht" (Acetaminophen ist die in den USA gebräuchliche Bezeichnung für Paracetamol).
Der Sprecher des deutschen Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) sieht das offenbar genauso. Die Warnung seiner US-Kollegen von der FDA kommentierte er mit den Worten: "Da ist natürlich nichts dran. Solche Aspekte werden selbstverständlich in der gesamten EU gemeinsam durch alle Gesundheits- und Arzneimittelbehörden engmaschig überwacht". Die Studienlage bei dem Thema sei eindeutig.
Paracetamol-Debatte: Ganz so eindeutig ist die Sache nicht
Ist das Thema damit also erledigt, als weiterer Exzess eines irrlichternden US-Präsidenten und seiner unfähigen Administration?
Ganz so eindeutig ist die Sache leider nicht. Der zwar maßlos übertriebene, verantwortungslose Alarmismus des Donald Trump hatte – wie viele propagandistische Übertreibungen – einen wahren Kern. Um diesen herauszufiltern, muss man das Problem von zwei Seiten beleuchten.
Die eine Seite ist schnell erklärt: Paracetamol ist nicht der Grund dafür, dass Autismus-Diagnosen in den USA – und allen anderen Industrieländern – seit Beginn des Jahrtausends deutlich zugenommen haben. Die Zunahme beruht in erster Linie auf einer Änderung der Definition der Erkrankung, die neuerdings als Autismus-Spektrum-Störung (ASS) auch atypische Autismus-Formen und das Asperger-Syndrom sowie leichtere Formen kommunikativer Entwicklungsstörungen umfasst.
Zudem hat dieses Gebiet in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit bei Fachleuten und Laien erfahren, wodurch insbesondere mildere Verlaufsformen häufiger erkannt und statistisch erfasst werden. Daneben vermuten Neurobiologen, dass – für einen kleinen Anteil der Autismus-Diagnosen – auch Medikamente und schädliche Umwelteinflüsse während der Schwangerschaft eine Rolle spielen könnten.
Weil sich hinter dem Sammelbegriff Autismus-Spektrum-Störung unterschiedliche neurologische Störungen verbergen, die durch mindestens einhundert bereits identifizierte genetische Faktoren beeinflusst werden, ist es bislang nicht gelungen, für einzelne Medikamente oder andere Umweltfaktoren einen kausalen Zusammenhang herzustellen. Dass Trump und seine Leute "die Antwort auf Autismus gefunden" hätten ist also – mit Verlaub, Herr Präsident! – ausgemachter Bullshit.
Paracetamol in der Schwangerschaft – erster Verdacht vor 25 Jahren
Auf der anderen Seite darf die Sorge um möglicherweise selten auftretende neurologische Entwicklungsstörungen durch Einnahme von Paracetamol in der Schwangerschaft nicht nur deshalb vom Tisch gewischt werden, weil sie von Donald Trump und seinem notorischen Schwurbler-Team geäußert wird. Im Gegensatz zur Darstellung des für die Arzneimittelsicherheit zuständigen BfArM ist die Studienlage bei dem Thema nämlich alles andere als "eindeutig".
Der Verdacht, dass die Einnahme von Paracetamol in der Schwangerschaft neurologische Entwicklungsstörungen auslösen könnte, kam vor rund 25 Jahren auf. Damals wurde deutlich, dass bestimmte Chemikalien subtile hormonelle (endokrine) Veränderungen während der Schwangerschaft bewirken, die ihrerseits zu neurologischen Entwicklungsstörungen führen.
Zu diesen, inzwischen als "endokrine Disruptoren" bezeichneten Chemikalien gehören beispielsweise Phthalate, die als Weichmacher in vielen Verpackungen, Babyprodukten und Kosmetikartikeln enthalten waren und seit 2005 in der EU verboten sind. Diese Stoffe zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass sie sowohl die Placenta- als auch die Blut-Hirn-Schranke passieren können. Das trifft auch auf Paracetamol zu. Zudem stellte sich heraus, dass das vermeintlich altbewährte Hausmittel in Tierexperimenten als endokriner Disruptor wirkt.
Mehrheit der Studien kam zu eindeutigem Ergebnis
Deshalb wurde, im Hinblick auf die beobachtete Zunahme von ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung), Autismus und anderen kindlichen Entwicklungsstörungen, in mehreren Studien untersucht, ob die Einnahme von Paracetamol während der Schwangerschaft mit einem erhöhten Risiko kindlicher Entwicklungsstörungen assoziiert ist.
Die überwiegende Mehrheit dieser Studien kam zu einem eindeutigen Ergebnis: Bei Kindern von Frauen, die während der Schwangerschaft Paracetamol genommen haben, werden ADHS, Autismus und verzögerte Sprachentwicklung etwas häufiger diagnostiziert. Das zusätzliche Risiko ist jedoch minimal und die meisten Störungen sind nur mit besonders empfindlichen Testverfahren feststellbar.
Ergebnisse immer wieder angezweifelt
Eine statistische Korrelation bedeutet nicht, dass auch ein kausaler Zusammenhang vorliegt. Zudem wird die Interpretation der Daten dadurch erschwert, dass auch gut gemachte epidemiologische Studien nicht alle Faktoren berücksichtigen können, die das Ergebnis theoretisch beeinflussen könnten.
Ein solcher "Confounder" könnten die Symptome sein, derentwegen Schwangere Paracetamol nehmen: Von manchen Virusinfektionen und schweren fieberhaften Erkrankungen während der Schwangerschaft ist bekannt, dass sie das Risiko für Entwicklungsstörungen erhöhen. Denkbar also, dass nicht das Medikament, sondern die zugrunde liegende Erkrankung das Risiko für eine Autismus-Spektrum-Störung beeinflusst. Natürlich haben alle Studien versucht, diesen und andere Confounder herauszurechnen. Da dies nicht hundertprozentig möglich ist, wurden die Ergebnisse – insbesondere von den Medikamentenherstellern – immer wieder angezweifelt.
Experten frustriert
Schließlich befasste sich im März 2019 die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) mit der Problematik. Deren Experten mussten frustriert feststellen, dass keine der epidemiologischen Studien einen klaren Beweis für oder gegen einen Zusammenhang zwischen der Einnahme von Paracetamol während der Schwangerschaft und kindlichen Entwicklungsstörungen lieferte. Deshalb empfahlen sie, im Hinblick auf die nicht auszuschließenden Gefahren und den unvollständigen Stand der Wissenschaft, die Einfügung zweier zusätzlicher Warnhinweise, die seitdem in den Fachinformationen für Paracetamol-Präparate stehen:
- "Epidemiologische Studien zur Neuroentwicklung von Kindern, die im Uterus Paracetamol ausgesetzt waren, weisen keine eindeutigen Ergebnisse auf. Falls klinisch erforderlich, darf während der Schwangerschaft Paracetamol eingenommen werden, aber es sollte in der geringsten wirksamen Dosis über einen möglichst kurzen Zeitraum und so selten wie möglich eingenommen werden."
- "Es sind keine konventionellen Studien verfügbar, in denen die aktuell akzeptierten Standards für die Bewertung der Reproduktionstoxizität und der Entwicklung verwendet werden."
Paracetamol so sparsam wie möglich in der Schwangerschaft
Mit anderen Worten: Paracetamol soll nur bei dringender Indikation und so sparsam wie möglich in der Schwangerschaft verwendet werden, weil es keine zuverlässigen Daten über mögliche Entwicklungsstörungen gibt. Damit wäscht die EMA (und ebenso die US-Behörde FDA, die bereits 2015 eine ähnliche Empfehlung gab) ihre Hände in Unschuld: Die behandelnden Ärzte sollen entscheiden, wann eine klinische Notwendigkeit besteht.
Dabei geht es letztlich um die Abwägung, ob das mögliche Restrisiko durch Paracetamol geringer ist als die Gefahr von Schwangerschaftsproblemen oder kindlichen Entwicklungsstörungen durch hohes Fieber oder starke Schmerzen. Nicht wenige Ärzte dürften damit überfordert sein.
Zudem erfolgt der größte Teil der Paracetamol-Einnahmen ohne ärztlichen Rat, weil die Medikamente (bis zu einer bestimmten Packungsgröße) nicht verschreibungspflichtig sind. Schätzungen zufolge nehmen in den Industrieländern mehr als die Hälfte (in den USA bis zu 70 Prozent) der Schwangeren Paracetamol, und zwar meistens ohne ärztliche Verschreibung.
Aktuelle Studien aus Schweden und Japan
Aus diesem Dilemma bringen auch zwei aktuelle Studien aus Schweden und Japan keinen Ausweg, die derzeit häufig als angeblicher Beweis für die Sicherheit von Paracetamol während der Schwangerschaft zitiert werden. Beide Studien bestätigen zunächst die – sehr geringe, aber statistisch signifikante – Erhöhung des Risikos für Entwicklungsstörungen bei Kindern von Frauen, die in der Schwangerschaft Paracetamol eingenommen haben. Diese Korrelation verschwindet jedoch, wenn man nur Geschwisterkinder miteinander vergleicht.
Daraus wollen Pharmafirmen und manche Experten schließen, dass unbekannte Confounder (etwa genetische Unterschiede) durch den Vergleich von Geschwistern ausgemerzt wurden – dann gäbe es tatsächlich keinen Zusammenhang zwischen Paracetamol und neurologischen Störungen.
Allerdings haben beide Studien methodische Schwächen, die den versuchten "Freispruch" für Paracetamol vereiteln. Insbesondere werten sie nur die Ausstellung ärztlicher Rezepte aus und berücksichtigen weder die tatsächliche Anwendung der verschriebenen Präparate noch die Einnahme von Paracetamol, das ohne Rezept in der Apotheke erworben wurde.
In der größeren, schwedischen Studie bekamen nur 7,49 Prozent der Schwangeren Paracetamol verschrieben, was weit unterhalb der bekannten Einnahmequote von rund 50 Prozent liegt. Ein großer Teil der Frauen dürfte sich das Mittel demnach selbst aus der Apotheke besorgt haben, ohne dass dies in der Studie erfasst wurde.
Wenn Mütter mehrerer Kinder sich das Paracetamol bei einer Schwangerschaft vom Arzt verschreiben ließen und bei einer anderen Schwangerschaft selbst besorgten, würde dies die fehlende Korrelation zwischen der Verschreibung von Paracetamol und Entwicklungsstörungen bei der Untersuchung von Geschwistern erklären. Die Frage nach einem möglichen Zusammenhang zwischen Paracetamol und Entwicklungsstörungen ist also nach wie vor offen (Einzelheiten dazu bespreche ich in meinem Podcast beim MDR).
Noch keine brauchbaren Studien für Schwangere
Dass es 70 Jahre nach der Einführung eines globalen Pharma-Bestsellers noch keine brauchbaren Studien für Schwangere gibt, ist ein Armutszeugnis für die Aufsichtsbehörden. Der US-Präsident und sein Gefolge übertreiben die Gefahren durch Paracetamol, das BfArM und viele Fachjournalisten ignorieren das mögliche Restrisiko. Im Ergebnis werden schwangere Frauen und ihre Ärzte mit der Entscheidung alleine gelassen.
Besser wäre es, die unsichere Datenlage offen einzuräumen und von einer Selbstmedikation für Schwangere strikt und unmissverständlich abzuraten. Ärzte sollten konkrete Empfehlungen an die Hand bekommen, wann Fieber oder Schmerzen in der Schwangerschaft dringend therapiert werden müssen. Denn zwei Dinge stehen leider fest: Es gibt keine wirksamen Arzneimittel ohne Nebenwirkungen. Und: Paracetamol ist, allen Unkenrufen zum Trotz, auf jeden Fall das sicherste Schmerz- und Fiebermittel, das derzeit für Schwangere zur Verfügung steht.