Faule Deutsche? Weniger Überstunden, mehr Teilzeit – „Psychologisch macht das Sinn“

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Ein höheres Bruttoinlandsprodukt, weniger Arbeitslose, dafür mehr Krankheitstage und weniger Überstunden: Ist die heutige Arbeitnehmerschaft wirklich faul?

Sie sind nicht mehr bereit Leistung zu erbringen, überhaupt faul und dauernd machen sie Blau: Welche Phrasen stimmen denn, wenn sich Politiker wie Christian Lindner, Robert Habeck oder Kanzler in spe Friedrich Merz über die Entwicklung der deutschen Arbeitnehmer-Gesellschaft auslassen. Auf Anfrage des Münchner Merkur hat das Institut für Wirtschaft in Köln seine gesammelten Daten zu Zahlen rund um Arbeitnehmer in Deutschland vorgelegt.

Neuerdings faul? In den 1990ern versprachen sich Arbeitnehmer von ihrer Arbeit ein gutes Leben

Vor 30 Jahren waren rund 34 Millionen der 81 Millionen Menschen in Deutschland als Arbeitnehmer beschäftigt. Die Wochenarbeitszeit für Vollzeitbeschäftigte lag bei knapp 38 Stunden die Woche. Es gab durchschnittlich 30,9 Urlaubstage und im Durchschnitt waren die Arbeitnehmer 13 Tage im Jahr krankgemeldet. Von den 73 Überstunden blieben damals pro Arbeitgeber um die 28 Stunden unbezahlt. Im Vergleich zu 2024: Die Überstunden liegen im Durchschnitt nur bei insgesamt 28 Stunden.

Jahr 1995 2005 2015 2024
Beschäftigte Arbeitnehmer 34,24 Millionen 34,94 Millionen 38,72 Millionen 42,3 Millionen
Arbeitslose 3,61 Millionen 4,86 Millionen 2,79 Millionen 2,78 Millionen
Wochenarbeitszeit (Vollzeit) 38,31 Stunden 38,05 Stunden 38,21 Stunden 38,19
Urlaubstage 30,9 Tage 30,5 Tage 31 Tage 31 Tage
Krankheitstage 13 Tage 9,2 Tage 10 Tage 14,8 Tage
Überstunden 45,2 Stunden bezahlt/ 28,6 Stunden unbezahlt 22,1 Stunden bezahlt/ 29,7 unbezahlt 22,2 Stunden bezahlt/25,7 unbezahlt 13,1 Stunden bezahlt/ 15,1 Stunden unbezahlt
Bruttoinlandsprodukt 1899 Milliarden Euro 2325 Milliarden Euro 3085 Milliarden Euro 4305 Milliarden Euro

Johannes Dorn, Diplom-Psychologe und Partner des Rheingold-Instituts, sagt zu den Werten: „Eine universelle Antwort auf das ‚Wieso?‘ gibt es nicht. Aber ich denke, dass es eine andere Haltung in den 90ern gab.“ Zu dieser Zeit sei das Verhältnis von Arbeitnehmern zu vorhandenen Stellen noch umgekehrt gewesen. „Ich erinnere mich, dass man einfach glücklich war, überhaupt einen Arbeitsplatz bekommen zu haben.“

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Damals sei es das „Versprechen vom guten Leben“ gewesen, auf das die Arbeitnehmer hingearbeitet hätten. „Das hat sich in den vergangenen Jahren geändert. Und das meine ich nicht wertend“, erklärt Dorn. In der jetzigen Zeit müssten sich Arbeitnehmer fragen: „Lohnt sich der Aufwand überhaupt? Den Lebensstandard meiner Eltern werde ich nie erreichen.“

Teilzeit-Arbeit nimmt zu: Mütter und Arbeitnehmer, die sich nebenbei noch selbstständig machen

Auch andere Werte haben sich deutlich verändert. Es arbeiten acht Millionen Menschen mehr. Die Bevölkerung ist in Deutschland seit den 90er-Jahren gewachsen. Und gerade die Zahl der Teilzeitarbeitnehmer ist um zehn Millionen gestiegen.

„Hier gibt es ebenfalls unterschiedliche Gründe“, sagt Dorn. Wenn das Rheingold-Institut mir Studien-Teilnehmerinnen und -Teilnehmern spricht, seien es etwa Mütter, die zusätzlich in Teilzeit arbeiten – um es finanziell über die Runden zu schaffen. „Aber natürlich auch viele Eltern, die von Vollzeit in Teilzeit gehen, um die Kinderbetreuung sicherstellen zu können.“

Was die viel diskutierte Arbeitsmotivation der Gen Z angeht, habe er Ähnliches wie bei den Überstunden gehört. „Der Fokus liegt jetzt auf der Frage: Was ist mir wichtig.“ Teilweise seien die jungen Arbeitnehmer zwei- oder dreifach gefordert, weil sie sich nebenher selbständig machen oder zusätzlich in einem Start-up arbeiten.

Arbeit in Deutschland: „Dienst nach Vorschrift“ steht immer wieder in der Kritik

Die durchschnittliche Zahl der Krankheitstage will indes seit der Corona-Pandemie nicht sinken: „Ich glaube, dass wir in der Pandemie etwas eingeübt und erfahren haben“, sagt Dorn. Krisen belasteten die Menschen – auch wenn die Problemlagen nicht immer ein persönliches Problem bedeuten müssten.

„Psychologisch ergibt das Sinn, dass sich die Menschen auf sich selbst, ihr nahes Umfeld oder auf ihre eigene Befindlichkeit fokussieren und so mit den Krisen umgehen, die sie als nicht beeinflussbar erleben.“ Für diesen Umstand gebe es keine universelle Antwort. Arbeitgeber oder auch die FDP hatten den Krankenstand der Möglichkeit der telefonischen Krankschreibung zugeschrieben.

Marktforscher zur Arbeitsmoral: Früher war nicht alles besser – früher war einfach vieles anders

Einer Studie des Instituts Gallup aus dem Frühjahr 2025 hatte aber auch den „Dienst nach Vorschrift“ auf dem Vormarsch gesehen – eine wachsende Zahl an Arbeitnehmern fühle sich nicht emotional an Arbeitgeber und -plätze gebunden. Das sei wirtschaftlich schädlich.

Der Psychologe sagt dazu: „Ich habe diese Studie so verstanden, dass man noch mehr Ertrag haben könnte, wenn man nicht die hohen Kosten des Recruitings aufbringen müsste.“ Es sei richtig, dass Arbeitnehmer heutzutage höhere Ansprüche an die Flexibilität des Arbeitsplatzes stellen. „Optionen für Homeoffice, Remote, Workation oder ein Sabbatical. Die Befragten erleben, dass sie nicht absehen können, was die Zukunft oder auch der nächste Tag bringt. Darum braucht es hohe Flexibilität.“

Dass weniger Arbeitnehmer angeben, emotional an den Arbeitgeber gebunden zu sein, liegt aus Dorns Sicht nicht am fehlenden Wunsch nach einer solchen Bindung. „Tatsächlich zeigen unserer Befragungen, dass vielen eine solche Einbindung in die Gruppe enorm wichtig ist.“ Das liege unter anderem an der Konfrontation mit dem Weltgeschehen, der Radikalität der Gesellschaft – etwa in der Politik oder in Kriegen – und der Schnelllebigkeit. „Da tun die Unternehmen gut daran, den Leuten die Einbindung anzubieten. Etwa durch innerbetriebliche Veranstaltungen, flache Hierarchien oder sinnlich erlebbare Symbole der Gemeinschaft.“

Ob früher wirklich alles besser war in der Arbeitnehmergesellschaft? „Früher war einfach vieles anders“, meint der Experte.

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