Scholz oder Pistorius? - Welche Lehren die SPD aus zwei historischen Kanzler-Pleiten ziehen muss
Ein Gespenst geht um in der SPD. Nein, es ist nicht in erster Linie die Angst, aus dem Kanzleramt vertrieben zu werden. Vielmehr müssen 80 bis 90 der aktuell 207 sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten befürchten, ihr Mandat zu verlieren.
Da kann der gescheiterte Ampel-Kanzler Olaf Scholz noch so treuherzig versichern, man werde „gemeinsam“ die Bundestagswahl am 23. Februar gewinnen: Die Genossen sind von Scholz weitaus weniger überzeugt, als er von sich selbst. Zudem ist das eigene Mandat den meisten Politikern – unabhängig vom Parteibuch – näher als die Befindlichkeit ihrer Nummer eins.
Aktuelle Lage erinnert an 2021
Das Ganze erinnert an die Lage der CDU/CSU vor der Bundestagswahl 2021. Deren Kanzlerkandidat Armin Laschet schnitt in Umfragen schlecht ab. Ihr Vorsprung vom Juli – 31,5 Prozent gegenüber 16,5 Prozent für die SPD schmolz, je näher der Wahltag heranrückte, wie Schnee in der Sonne. Viele Abgeordnete gerieten regelrecht in Panik.
Die Mehrheit der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hätte Laschet, der neben anderen Fehlern auch noch an der falschen Stelle gelacht hatte, am liebsten gegen den in Umfragen ungleich besser abschneidenden bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) ausgewechselt. Der ließ keinen Zweifel daran, dass er kandidieren wollte.
Lehre für SPD: Uneinigkeit innerhalb der Partei schreckt Wähler ab
Die CDU-Granden, angeführt von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble und dem hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier, setzten jedoch durch, dass die Union an Laschet festhielt. Söder rächte sich mit ein paar „Schmutzeleien“; der Rest ist bekannt. Scholz und der SPD reichten 25,7 Prozent – zusammen mit den 25,7 von 2013 das zweitschlechteste Ergebnis seit 1949 – für das Kanzleramt.
Es war gar nicht so sehr Laschets verunglückter Wahlkampf, der die Union scheitern ließ. Vielmehr schreckt jede Partei, die uneinig in den Wahlkampf zieht, die Wähler ab. Da sind sich alle Wahlforscher einig: Einen zerstrittenen „Haufen“ bekommt nur noch die Stimmen der Treuesten der Treuen, aber keine einzige von Wechselwählern.
Scholz könnte doppelt beschädigt vor die Wähler treten
Genau das blüht der SPD und ihrem Noch-Kanzler. Noch nie hat eine Partei den amtierenden Regierungschef kurz vor der Wahl ausgewechselt. Die zwei wichtigsten und stärksten Männer in der SPD, Co-Parteichef Lars Klingbeil und der Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich, scheinen auch an Scholz festhalten zu wollen.
Falls das so kommen sollte, wird Scholz dennoch doppelt beschädigt vor die Wähler treten: als gescheiterter Ampel-Chef und als ein Kanzlerkandidat, den große Teile der eigenen Partei für einen „Loser“ halten.
Bei jeder für die SPD unerfreulichen Umfrage, bei jedem dieser peinlichen Auftritte, bei denen Scholz sich zum besten Kanzler aller Zeiten ausruft, wird er mit Boris Pistorius verglichen werden – mit sehr nachteiligem Ergebnis.
Boris Pistorius ist der populärste Spitzenpolitiker in Deutschland
Der Verteidigungsminister, seit eineinhalb Jahren der populärste Spitzenpolitiker, genießt in der SPD den Ruf, allenfalls er könne die Partei vor einem Desaster an der Wahlurne bewahren. Seine klaren Ansagen kommen bei der Bevölkerung einfach besser an als das Scholzsche Geschwurbel.
Was aus Sicht der um ihre Parlamentssitze bangenden Genossen jedoch noch wichtiger ist: Schon eine Verbesserung des SPD-Ergebnisses auf 18 Prozent bedeutete zwei Dutzend Mandate mehr als bei 15 Prozent. Freilich weiß niemand, ob Pistorius - vor dem Betreten der bundespolitischen Bühne ein respektabler niedersächsischer Innenminister - dem Druck einer Kanzlerkandidatur standhalten würde.
Achtung vor dem „Boris-Hype“! Der „Schulz-Zug“ entgleiste
Gleichwohl herrscht in der SPD ein gewisser „Boris-Hype“. So ähnlich war das 2017, als die Partei ihren europäischen Spitzenmann Martin Schulz ins Kanzlerrennen schickte. Der „Schulz-Zug“ nahm rasant Fahrt auf, der neue Heilsbringer schien drauf und dran, Angela Merkel (CDU) nach zwölf Jahren aus dem Kanzleramt zu vertreiben.
Plötzlich dümpelte die SPD in den Umfragen nicht mehr bei 15 Prozent herum. Im März 2017, zwei Monate nach der Kür von Martin Schulz zum Kanzlerkandidaten lag die SPD nur noch einen Prozentpunkt (33 zu 34 Prozent) hinter der CDU/CSU zurück. Die SPD konnte ihr Glück kaum fassen.
Doch je öfter Schulz den Wähler erklärte, wie er das Land führen wolle, je häufiger er sich in Widersprüche verstrickte oder sich wortgewaltig, aber inhaltsarm äußerte, umso schneller sank sein Stern. Man konnte dem „Schulz-Zug“ beim Entgleisen zuschauen.
Das Wahlergebnis von 20,5 Prozent war das schlechteste in der Nachkriegszeit. Die SPD war von ihrem Kurzzeit-Superstar so enttäuscht, dass sie ihm nicht einmal ein Ministeramt in der neuen schwarz-roten Regierung gönnte.
Pistorius scheint das Schulz-Schicksal nicht abzuschrecken. Ganz offensichtlich genießt er die Vorschuss-Lorbeeren, mit denen er geschmückt wird. Er hätte das Thema mit einem klaren „Ich stehe als Kanzlerkandidat nicht zur Verfügung“ abräumen können. Aber er steht eben doch zur Verfügung.
Da mag Eitelkeit eine Rolle spielen. Wer möchte nicht plötzlich die Hauptrolle spielen? Vielleicht ist es auch die Revanche dafür, dass der Kanzler ihn bei den Beratungen zum Bundeshaushalt hängen ließ und ihm die geforderten 10 Milliarden Euro für die Bundeswehr verweigerte – aller „Zeitenwende“-Rhetorik zum Trotz.
Als Kanzlerkandidat hätte Pistorius ein doppeltes Handikap
Ungeachtet aller Umfragewerte und der an der SPD-Basis festzustellenden Begeisterung hätte der Kanzlerkandidat Pistorius ein doppeltes Handikap. Zum einen ist er unbestritten ein Experte für Innere und Äußere Sicherheit, aber kein Generalist.
Das aber muss einer, der das Land regieren will, sein. Um sich auf Feldern wie der Wirtschafts- oder Sozialpolitik noch einen Ruf zu erarbeiten, dafür ist der Wahlkampf zu kurz. Mit dem Thema „Kriegstüchtigkeit“ allein kann er die SPD nicht aus dem Umfragetief holen.
Zum anderen ist Pistorius wegen seines klaren Eintretens für die Aufrüstung der Bundeswehr und eine umfassende Unterstützung der Ukraine der SPD-Linken und den für den Wahlkampf wichtigen Jusos suspekt. Für einen „Kriegskanzler“ werden die nicht im Morgengrauen Flugblätter vor Werkstoren verteilen.
Schließlich müsste Pistorius den Wähler erklären, was er anders und besser machen würde als der noch bis mindestens März im Kanzleramt sitzende Scholz. An dem Versuch, neben dem Regierungschef aus der eigenen Partei Profil zu gewinnen, ist schon Laschet gescheitert.
Ausgangslage könnte für die SPD nicht schlechter sein
Für die SPD könnte die Ausgangslage nicht schlechter sein. Ihrem Kanzler ist es nicht gelungen, die drei Ampel-Parteien zu einem produktiven Miteinander zu bewegen. Der „Fortschritts-Dreier“ entpuppte sich als „Trio infernale“.
Nichts würde das Scheitern der SPD drastischer dokumentieren als das Auswechseln ihres gescheiterten Kanzlers gegen einen populären Verteidigungsminister, den die eigenen Linken skeptisch beäugen und von dem die Wähler nicht wissen, wie er zu ganz vielen politischen Fragen steht.
Wird schon für die Wahl 2029 geplant?
Sollten Klingbeil und Mützenich das letzte Wort haben, wird es beim Kanzlerkandidaten Scholz bleiben. Dem Pazifisten Mützenich passt Pistorius wohl aus inhaltlichen Gründen nicht.
Bei Klingbeil dürfte eine andere Überlegung eine Rolle spielen. Ein Kandidat Pistorius, der zwar nicht das Kanzleramt rettet, aber für die SPD deutlich mehr Stimmen holt als Scholz, wäre der Favorit für die Kanzlerkandidatur 2029. Bei einem Scheitern von Scholz hingegen würde Klingbeil zur unbestrittenen Nummer eins der Sozialdemokraten aufsteigen.
Der Satz, „Erst das Land, dann die Partei, dann die Person“, geht allen Politikern flüssig von den Lippen. Man sollte ihn aber nicht wörtlich nehmen. Gehandelt wird sehr oft nach der gegenteiligen Maxime: Erst die Person…