Wie Giulia Gwinn unsere Nationalmannschaft und mich von vorne bis hinten mitreißt

12.54 Uhr: Los geht die Reise in die Schweiz. Am Münchner Hauptbahnhof fährt der Zug nach Zürich ein, der mich nach St. Gallen bringt. Die erste Überraschung wartet schon im Abteil – alles ist ein bisschen enger als in einem ICE. Naja, dafür haben die SBB-Züge den Ruf, deutlich pünktlicher als ihre deutschen Pendants zu sein.

15.28 Uhr: Eigentlich sollte ich gerade in St. Gallen aus dem Zug steigen. Sie merken es schon: Ich sitze noch. Eine gute halbe Stunde hat der EuroCity Express Verspätung. In der Schweiz ist man gastfreundlich und hält sich an deutsche Gepflogenheiten.

18.30 Uhr: Nach dem Check-In steht Gang zum Accreditation Centre an. Der ist normalerweise eine echte Tortur, die EM in Deutschland lässt grüßen. Dank nicht angegebenem zweiten Vornamen dauerte es geschlagene 45 Minuten, bis die Änderung vermerkt und der Ausweis gedruckt waren. Und in der Schweiz? Bin ich nach zwei Minuten raus aus dem Haus. 1:40 Minuten gingen dabei für den Druck drauf – die Schweizer sind also doch schneller als wir.

Plötzlich dreht die Uefa den Journalisten das Wasser ab - das wird teuer

20.10 Uhr: Das Stadion, in dem Deutschland sein Auftaktspiel bestreitet, ist ein echtes Schmuckstück, klein, nah, ja ein bisschen familiär. Kann man so nicht lassen, dachte sich wohl die Uefa und lässt den Kühlschrank leer. Der Verband will erst in der Halbzeit wieder Wasser für die Journalisten liefern. Vorher können sie sich ja welches kaufen, kostet ja nur schlappe fünf Franken (etwa 5,35 Euro) für den halben Liter. Bei gefühlt 30 Grad, knallender Sonne und einer Luftfeuchtigkeit von über 60 Prozent ist das kein Spaß – Gelbe Karte, Uefa.

20.44 Uhr: Großzügiger ist der Verband mit dem Wasser für den Rasen – als die Spielerinnen den Rasen verlassen, wird großzügig gewässert. Vielleicht auch weil der Stadion-DJ on fire ist und einen Klassiker nach dem anderen raushaut. Von wegen a little less conversation.

Deutsche Fans in St. Gallen.
Deutsche Fans in St. Gallen. Imago

Selten hat die deutsche Hymne ein Stadion so mitgerissen

20.52 Uhr: Locker das halbe Stadion ist weiß, der Rest rot oder rosa. Die Deutschen erkennt man trotzdem sofort an ihren schwarz-rot-goldenen Hüten, wahlweise im Stile eines Maurers oder als sogenannten Seppelhut. Und natürlich: Immer schön die Fahnen schwenken. Beim Thema Flagge hat Deutschland jetzt schon deutlich gewonnen.

20.57 Uhr: Als die deutsche Hymne erklingt, nimmt sich die ganze deutsche Bank in den Arm. Alle Spielerinnen singen, das Stadion ebenfalls – und als die Hymne rum ist, dröhnt tosender Applaus aus dem deutschen Block. Gänsehaut vor dem Anpfiff – wer da Tränen in den Augen hat, muss sich nicht schämen. Selten hat eine Hymne das Stadion so mitgerissen.

Alle Augen auf Giulia Gwinn - erst im Kreis, dann am Boden

20.59 Uhr: Cringe wird es nur Sekunden später. Beide Mannschaften bilden einen Kreis, um sich anzufeuern. Die Uefa verkündet indes die Schweigeminute für die am Donnerstag verstorbenen Diogo Jota und André Silva. Plötzlich ist Giulia Gwinn im stillen Stadion laut zu hören, ehe sie sich verwirrt umblickt und ebenfalls verstummt.  Ein ganz komisches Bild, diese stillen Kreise.

21.40 Uhr: Wieder Stille. Aber diesmal ist auch Gwinn nicht zu hören, nur zu sehen. Die deutsche Kapitänin liegt am Boden, schlägt die Hände vors Gesicht. Nach 40 Minuten ist ihr Auftaktspiel vorbei – und das ganze Stadion leidet mit ihr. Unter Tränen verlässt sie das Feld. Ich möchte fast mitweinen.

Das Auftaktspiel bei der EM endet für Giulia Gwinn früh
Das Auftaktspiel bei der EM endet für Giulia Gwinn früh dpa

Deutschland trifft, alle jubeln - nur der Typ neben mir ist ein Kühlschrank

22.12 Uhr: Wenn du nicht weißt wohin, dann rinn! Jule Brands Kracher lässt das Stadion explodieren. Ich balle die Faust, der Kollege neben mir schaut irritiert. Keine Ahnung welcher Landsmann er ist, vielleicht ja Pole. Es ist mir egal – und dem jubelnden Stadion erst recht.

22.24 Uhr: Jetzt macht ihn doch rein! Bitte! Erst Senß und dann Schüller köpfen aus ein paar Metern daneben – ich köpfe mit, aber treffe natürlich auch nicht. Wenn sich das nicht rächt.

22.26 Uhr: TUT ES NICHT! Wieder Schüller, diesmal drin – und die Erlösung ist greifbarer als die teuer erkaufte Wasserflasche. Und die steht 20 Zentimeter vor mir. Der Typ neben mir befindet sich übrigens immer noch auf dem emotionalen Level eines Kühlschranks.

Eine Geste zeigt, dass Giulia Gwinn auch nach dem Spiel alle bewegt

22.55 Uhr: Schlusspfiff? Wen juckt das noch, die deutschen Fans feiern und lassen die Fahnen wehen. Und der Stadion-DJ ist einfach ne coole Sau, auch wenn Major Tom nach einem deutschen Sieg ein Selbstläufer ist.

23.00 Uhr: Das deutsche Team bildet einen Kreis – und nach fünf Sekunden löst sich dieser auf und die ganze Mannschaft rennt in die Kabine, vorneweg Trainer Christian Wück. Wenig später kommen fast alle wieder, lassen sich feiern drehen eine Stadionrunde. Und Selina Cerci trägt das Trikot von Giulia Gwinn mit der 7 nach vorne gedreht. So ein Team kann alles schaffen.