„Jahrelange Zerstörung und Zermürbung“: Wird die Ukraine zum zweiten Afghanistan?
Der Zermürbungskrieg in der Ukraine erinnert manche an den Abzug aus Afghanistan. Experten machen unterdessen drei mögliche Kriegsziele aus und mahnen die Politik.
Berlin – Das Ende kam plötzlich: Nach 20 Jahren Krieg verließ der Westen 2021 Afghanistan. Innerhalb weniger Monate zogen die USA ihre Truppen ab, die anderen NATO-Staaten folgten dem Beispiel – und die Taliban übernahmen das Land. In diesen Tagen werden bei manchen Beobachtern Erinnerungen daran wach, wenn sie auf die Ukraine blicken.
Ukraine-Krieg dauert an: Unterstützung und Waffenlieferungen zu zögerlich, sagen Kritiker
Der Krieg dort dauert an, Kritiker mahnen: Der Westen unterstützt die Ukraine im Kampf gegen Putins Invasionstruppen zu zögerlich und überlässt das Land sich selbst. Macht der Westen dieselben Fehler wie in Afghanistan? Die Vorzeichen seien zwar gänzlich andere, sagen Experten, aber die Regierungen müssten sehr viel entschlossener handeln, um eine Katastrophe zu verhindern.
„Auch wenn sich beide militärische Konfrontationen zeitlich anschließen, da das Scheitern in Afghanistan und der folgenschwere Abzug aus Kabul nicht zuletzt auch durch die Kriegshandlungen in der Ukraine aus dem öffentlichen Gedächtnis gedrängt wurden, drängen sich mir doch eher signifikante Unterschiede zwischen beiden Kriegssituationen auf“, sagt David Leupold, Soziologe am Leibniz-Zentrum Moderner Orient in Berlin. Denn beim Krieg in Afghanistan müsse man weniger von einem militärischen als vielmehr von einem politischen Scheitern sprechen: Der Westen habe es nicht geschafft, einen von der afghanischen Bevölkerung anerkannten Staat aufzubauen.
Krieg in der Ukraine: „Vergleich zum Vietnamkrieg drängt sich regelrecht auf“
Der gegenwärtige Ukraine-Krieg ähnele weniger dem Krieg in Afghanistan, sondern sei eher in einer Kontinuität zu länger anhaltenden Stellvertreterkriegen zu begreifen: „Nämlich solche, wie wir sie während des Kalten Kriegs beispielsweise in Korea oder Vietnam beobachten konnten“, so Leupold. Spätestens seit Eintreten des Ukraine-Kriegs in die Phase des Zermürbungskriegs dränge sich ein Vergleich zum Vietnamkrieg regelrecht auf, der trotz massiver militärischer Ausgaben und menschlicher Verluste von den USA nicht gewonnen werden konnte und ein vollständig verwüstetes Land hinterließ.
Anna Veronika Wendland erkennt unterdessen gewisse Lehren, die sich jetzt aus der Afghanistan-Erfahrung ziehen ließen. Die Osteuropa- und Technikhistorikerin forscht am Herder-Institut in Marburg und sagt: „Militärische Aktivitäten mit dem Ziel, einen Konflikt zu befrieden und ein Territorium zu kontrollieren, scheitern, wenn die Akteure sich nicht über ihre Ziele im Klaren oder nicht willens sind, ihre Mittel dem jeweils erklärten Ziel anzupassen.“
Meine news
Will der Westen, dass die Ukraine gewinnt – oder dass Putin verliert?
Es gebe drei mögliche Kriegsziele: Will der Westen, dass die Ukraine nicht verliert, dass die Ukraine gewinnt oder aber, dass Russland verliert? „Das erste impliziert ein jahrelanges Weiter so auf dem heutigen Level“, konstatiert Wendland. Es könne sich ein jahrzehntelanger Partisanenkrieg entwickeln, in dem Russland immer nur einen Teil des Landes kontrolliere: „Aber die gesamte Ukraine als Beute Russlands ist eher ausgeschlossen.“ Für das zweite Ziel müsse der Westen die Ukraine viel stärker mit Munition, Waffensystemen und Finanzhilfen unterstützen, so die Expertin. Beim dritten Ziel gehe es nebenbei noch um einen Regimewechsel in Russland, um auch bei einem Sieg der Ukraine einen neuen Angriff Russlands zu verhindern: „Das ist gewissermaßen die Zweite-Weltkriegs-Variante“, so Wendland; damals strebten die Alliierten das Ende des Nazi-Regimes in Deutschland an.
Jetzt laviere der Westen zwischen Ziel eins und zwei – und das sei ein Problem: „Wer öffentlich sagt, die Ukraine müsse siegen, muss seine Aktionen diesem Ziel besser anpassen“, so Wendland. „Es droht sonst eine jahrelange Zerstörung und Zermürbung der Ukraine.“ Sprich: Die Regierungen müssen entschlossener handeln. „Eine Herausdrängung der russischen Besatzer aus der Ukraine und die Wiederherstellung der völkerrechtlichen Ordnung ist immer noch möglich, wenn sich die westlichen Akteure nach dem Vorbild USA zu einer neuen Anstrengung zusammenfinden und realisieren, dass sie auf Kriegswirtschaft umstellen müssen.“
Sprecher der Union: Deutschland muss „Wertepartner Ukraine“ auch nach dem Krieg intensiv unterstützen
Florian Hahn, verteidigungspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, warnt vor Vergleichen mit dem Afghanistan-Krieg. Dazu seien die Unterschiede in nahezu allen Bereichen, wie etwa Kultur, Bevölkerung und politischer Führung, zu groß. Aber er sagt: „Die zögerliche Unterstützung der Ukraine gefährdet in der Tat den Fortbestand des Landes und insbesondere seiner territorialen Integrität.“
Die gesamte Kriegsführung Putins sei darauf ausgerichtet, den Staat Ukraine vollends zu unterwerfen. „Die westliche Unterstützung konnte dazu beitragen, zunächst den Kollaps der ukrainischen Staatlichkeit zu verhindern und das Vorrücken russischer Kräfte aufzuhalten und sogar zurückzudrängen“, so Hahn. Wichtig sei dabei: Auch nach Abschluss der Kampfhandlungen werde der Westen dem „Wertpartner Ukraine“ massive Unterstützung zukommen lassen müssen: „Um ihn folgend an uns zu binden und damit auch dem überwiegenden Wunsch der ukrainischen Bevölkerung zu folgen.“
Hahn nimmt dabei die Bundesregierung in die Pflicht: Sie sei „eine Antwort schuldig geblieben, wie sie die dauerhafte Unterstützung der Ukraine und parallel die Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr im Zuge der Zeitenwende mit der Ausrichtung auf Bündnis- und Landesverteidigung gewährleisten kann“. Ein strategisches Gesamtkonzept fehle.