„Ein ernstes Problem“: Nachschub für Putins Truppen durch neue Bahnstrecke zur Krim
Bahn frei für eine neue Offensive: Die Krim wird wieder an Russland angebunden durch eine Strecke nördlich des Asowschen Meeres. Der Nachschub rollt.
Mariupol – „Still und heimlich, ohne Ankündigungen und rote Bänder, wurde die Eisenbahn in Betrieb genommen“, sagte Petro Andrjuschtschenko – für den Berater des Bürgermeisters von Mariupol ein schwarzer Tag, wie die Kyiv Post berichtet. Die weiterhin umkämpfte Stadt in der Provinz Donezk im Osten der Ukraine hat jetzt einen Eisenbahn-Anschluss. Gelegt von Wladimir Putin. Um seine Position im Ukraine-Krieg zu verbessern. Für die Ukraine bedeutet das: Russlands Truppen können noch mehr Menschen und noch mehr Material noch viel zügiger nachführen. Dadurch wird eine neue Offensive Russlands im kommenden Jahr wahrscheinlicher.
Notwendig geworden ist die Eisenbahnverbindung vermutlich dadurch, dass Russland zusehends die Kontrolle über die Kertsch- beziehungsweise Krim-Brücke verliert; das zieht Schwierigkeiten der Versorgung der russischen Truppen in den besetzten Gebieten nach sich. Deshalb will Russland das Asowsche Meer nördlich umfahren können: mittels einer Eisenbahnlinie zwischen dem russischen Rostow am Don und der Krim über die Landenge von Dschankoi. „Die ukrainische Armee geht davon aus, dass dieses Eisenbahnnetz noch in diesem Jahr in Betrieb genommen wird und eine Schlüsselrolle in der militärischen Logistik des Eindringlings spielen wird“, schreibt die spanische Zeitung El Pais.
Putins schwache Flanke: Keine Laster, kein Nachschub, keine Brücke, keine Offensive
Der erste Abschnitt zwischen Rostow und Mariupol scheint inzwischen fertiggestellt zu sein, wie die Kiyv Post erfahren haben will. „Ähnlich wie in der Sowjetunion und auch im Russischen Reich stütze sich die Logistik der heutigen russischen Armee auf den Eisenbahnverkehr“, berichtet das ZDF: „Die sowjetische beziehungsweise russische Armee zog es daher stets vor, Offensivoperationen entlang von Eisenbahnlinien durchzuführen, um einen ununterbrochenen Logistikfluss zu gewährleisten“, schreiben die politischen Analysten Christian Mölling und András Rácz.
„Das Ziel ist, den Tod durch tausend Schnitte zu bringen.“
„Tavrida-2“ soll der Name dieser neuen Eisenbahnlinie sein, wie Denis Chistikow El País gegenüber angegeben hat; laut den ukrainischen Offiziellen für die besetzten Gebiete der Krim werde die Trasse mindestens 500 Kilometer lang sein und als alternative Route die seit 2014 besetzte Krim mit russischem Territorium verbinden. Aufgrund der verschiedenen Drohnen- und Marschflugkörper-Angriffe der Ukraine auf die Krim-Brücke ist dieser Weg für russischen Nachschub offenbar zu unsicher geworden.
Allerdings hatte Dmytro Pletenchuk gegenüber El País erwähnt, dass weniger als ein Viertel des russischen Nachschubs tatsächlich über die Brücke rolle. Das Gros liefe über die Fährverbindung – die allerdings auch immer wieder unter Feuer stehe, wie der Sprecher der ukrainischen Marine ausführte. Nachdem die Ukraine vier als Fähren genutzte Landungsschiffe der Russen versenkt hatte und die Versorgung der Besatzungstruppen auf der Krim akut gefährdet geschienen hatte, musste also eine Alternative gefunden werden, wie Mölling und Rácz berichten.
Meine news
Russlands Alternative zur Kertsch-Brücke: Die Hälfte der Eisenbahnstrecke ist fertig
Die künftige Strecke bietet allerdings zwei weitere immanent wichtige Vorteile: Erstens soll die nördliche Trasse an die Fronten um gut 200 Kilometer kürzer sein; zweitens lässt sich eine zerstörte Trasse leichter wiederherstellen als eine beschädigte Brücke. „Das könnte für uns ein ernstes Problem darstellen“, sagte Kirill Budanow gegenüber dem britischen Magazin National Security News. Der Sprecher des ukrainischen Verteidigungsministeriums sieht der Eröffnung der Trasse mit Schrecken entgegen. Bis Mariupol ist der Bau immerhin schon rund 200 Kilometer fortgeschritten, nähert sich also immerhin der Hälfte der Distanz.
„Ich bin sicher, dass die Russen die Eisenbahnlinie vor Jahresende fertigstellen können“, sagte Dmytro Pletenchuk Mitte Juni gegenüber dem Magazin Ukrainian National News (UNN), „zumindest von Rostow am Don bis zur Landenge von Dschankoi“ – ihm zufolge hätte Russland damit eine Verbindung geknüpft zwischen der Krim und den besetzten Gebieten in der Provinz Cherson.
Ukraine sieht sich erfolgreich: Russland gestehe ein, dass die Kertsch-Brücke verloren sei
Die übermäßige Abhängigkeit von der Eisenbahn für groß angelegte Truppeneinsätze scheint einer der größten Stolpersteine Russlands in diesem Krieg gewesen zu sein, schrieb Emily Ferris bereits zu Beginn der fehlgeschlagenen „Spezialoperation“, die stattdessen zu einem vernichtenden Krieg aufwuchs. Der Armee sei misslungen, wichtige logistische Knotenpunkte in der Ukraine wie die Stadt Charkiw einzunehmen, um die lokale Eisenbahninfrastruktur zu beschlagnahmen und für die eigenen Transporte zu nutzen, um schnell in zu besetzendes Territorium vorzustoßen, wie die Analystin des britischen Thinktank Royal United Services Institute (RUSI) geschrieben hat.
„Tavrida-2“ soll jetzt ein Jahr im Bau sein und die alten Fehler offenbar schleunigst wieder ausbügeln. Die möglichen Erkenntnisse aus dem Projekt fallen unterschiedlich aus, wie National Security News berichtet. Als möglichen Erfolg ukrainischer Aktionen gegen die Kertsch-Brücke sieht das Dmitri Pletentschuk: „Die Eisenbahn entlang des ‚Landkorridors‘ ist eigentlich ein Eingeständnis der russischen Besatzer, dass die Krim-Brücke dem Untergang geweiht ist. Sie suchen nach einer Möglichkeit, sich abzusichern, weil sie wissen, dass sie früher oder später ein Problem haben werden“, wie der Marine-Sprecher sagt.
Die neue Brücke zur Krim: Mögliches Zeichen einer russischen Offensive in 2025
Das Problem liege aber vor allem auf Seiten der Ukraine, glaubt Michael Clarke: Der Analyst des RUSI vermutet eher, „dass die neue Eisenbahnstrecke ein mögliches Zeichen dafür sei, dass Russland sich auf eine künftige Offensive im Jahr 2025 logistisch vorbereite“, wie ihn die National Security News wiedergeben. Wahrscheinlich wird der Ukraine deshalb wenig anderes bleiben, als sich weiter auf Guerilla-Taktiken zu versteifen. „Wir müssen den Feind zermürben“, hatte gegenüber der National Security News beispielsweise Sergei Brachuk betont – die Logistik sei die Ressource des Feindes, philosophierte der ukrainische Militärsprecher.
Den großen Vorteil der Ukraine gegenüber Russland hatte bereits kurz nach Kriegsausbruch das Magazin Forbes ausgemacht: „Der russischen Armee gingen vor Monaten die zuverlässigen Versorgungslastwagen aus. Da es keine Lastwagen gibt, ist die Armee an ihre Endhaltestellen gebunden“, schrieb Autor David Axe. Diese Schwäche zieht sich durch den Ukraine-Krieg wie ein roter Faden. Mit ihrer Übermacht an Drohnen zerstört die Ukraine russische Kolonnen zusätzlich lange bevor die ihre Ziele erreichen.
Große Hoffnung der Ukraine: Erfolgreiche Guerilla-Aktionen gegen die Bahnlinie
Befreiung aus dieser Klemme bietet beispielsweise China; zwischen 2019 und Ende 2023 habe sich die monatliche Zulassung von 6.000 auf 14.000 Lastkraftwagen entwickelt. Laut Recherchen der Süddeutschen Zeitung hatte China vor Ausbruch des Ukraine-Krieges praktisch keine Lkw nach Russland exportiert, nach der Invasion dafür um so mehr, wie Autor Markus Zydra schreibt. Dennoch scheinen die Lkw-Kapazitäten bei weitem zu knapp zu sein.
„Tavrida-2“ verläuft lediglich eingleisig, wie El País berichtet – stellenweise ergänzt durch Parallelgleise, damit entgegenkommende Züge ausweichen können. Eine Straße soll parallel zum Gleis verlaufen. Zudem will das Magazin Defense Express erfahren haben, dass Russland seine Lastwagen auf rollende Plattformen setzt, anstatt die Güter in Waggons umzuladen. Im Falle zerstörter Gleise sollen die Fahrzeuge dann leichter wieder auf die Straße gesetzt werden können El País fragt gleichzeitig, wie denn wohl die Taktik der ukrainischen Guerillas aussehen könnte. Bombardierungen, beispielsweise durch Raketen, scheinen ineffektiv, weil Gleise zu schnell wieder geflickt werden könnten, um den Aufwand zu lohnen.
Gezielte Drohnenattacken benötigten präzise Planung von Sabotage-Einheiten vor Ort. „Der Krieg in der Ukraine verändert sich gerade, da die Ukraine die Zahl ihrer Guerilla-Operationen gegen russische Streitkräfte erhöht und konventionelle Operationen einschränkt“, sagt Seth G. Jones in der New York Times. Der Analyst am Center for Strategic and International Studies und ehemalige Berater des US-Kommandos in Afghanistan setzt auf die Macht der Zeit: „Das Ziel ist, den Tod durch tausend Schnitte zu bringen.“