„Können es uns nicht mehr leisten“ – Wieso Patienten nicht mehr so oft zum Arzt sollten
Das DRK fordert Umdenken in der deutschen Gesundheitspolitik. Das System stehe vor gravierenden Veränderungen, Patienten sollten künftig öfter auf Pfleger als auf Ärzte setzen.
Berlin – Joß Steinke ist Leiter der Bereiche Jugend und Wohlfahrtspflege im Generalsekretariat des Deutschen Roten Kreuz (DRK). Der Experte zeichnet ein düsteres Bild der künftigen Gesundheitsversorgung in Deutschland: Egal, was wir tun, unser Versorgungssystem werde schrumpfen. Doch trotz weniger Krankenhäuser und Ärzte gebe es auch künftig Aussicht auf ein funktionierendes System – wenn die Politik mitspiele.
Herr Steinke, die sozialen Sicherungssysteme wie Pflege- und Krankenkasse tun sich schwer, gute Leistung und Finanzierung unter einen Hut zu bekommen. Welche Lösungsansätze hat das DRK?
Die Demografie bedeutet für das Gesundheitssystem gravierende Veränderungen. Trotz politischer Anstrengungen der letzten Jahre spitzt sich die Lage in unserem Gesundheits- und Pflegesystem weiter zu. Mittel- bis langfristig sieht das DRK die Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit gefährdet beziehungsweise nicht zu gewährleisten. Das ist zwar allen bekannt, aber in der Tragweite noch nicht voll angekommen. Wir müssen unsere Gesundheitsversorgung anders aufstellen, mehr auf Arbeitsteilung setzen. Vor allem können wir es uns nicht mehr leisten, das gesamte System fast nur über Ärzte zu organisieren. Unser Gesundheitssystem ist so nicht zukunftsfähig und kann das nicht mehr lange tragen.
Rotes Kreuz will Gesundheitssystem rund um Ärzte und Pflege neu strukturieren
Wo liegt bei Ärzten das Problem?
Alles weiterhin über die niedergelassenen Ärzte abzuwickeln, wird nicht funktionieren. Auch die Ärzte stehen vor einer demografisch bedingten Ruhestandswelle. Gleichzeitig wollen viele jüngere Ärzte gerne in Teams arbeiten, immer öfter sogar Teilzeit. Es ist zweifelhaft, dass wir auf eine flächendeckende Versorgung mit Arztpraxen bauen können. Zumal gerade zusätzlich noch viele Krankenhäuser schließen müssen – deren wegfallenden Leistungen noch nicht vollständig kompensiert wurden.

Wenn Krankenhäuser und Ärzte fehlen – was bleibt unserer alternden Gesellschaft dann überhaupt?
Erstmal sollte die Gesundheitsversorgung nicht zerfallen und Leistungen nur noch für Menschen bieten, die über viele Ressourcen verfügen. Das ist für uns ein entscheidender Punkt. Ein Positivbeispiel ist das Konzept des Gesundheitskiosks, in dem vor allem Pflegekräfte arbeiten. Sie sind in der Mitte eines ganzen Netzwerks an Versorgung angesiedelt und können beispielsweise den Ärzten viel abnehmen. Dort kann den Menschen außerdem in verschiedenen Sprachen geholfen werden. Am Ende sind die Menschen gesünder und die Kosten niedriger.
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Krankenkassen schon jetzt am Limit
Ärzte, Therapeuten, Pfleger, alle koordinieren – kommt das unsere klammen Krankenkassen nicht noch teurer?
Unser Gesundheitssystem arbeitsteiliger zu strukturieren, würde die Kassen deutlich entlasten. Wir sehen das an Beispielen von Versorgungszentren, besonders auf dem Land. Dort werden teilweise schon Kompetenzen gebündelt, die Menschen werden gut versorgt – und nicht jeder Besuch muss automatisch eine medizinische Behandlung werden. Gerade in Regionen, wo ein Krankenhaus weggebrochen ist, sehen wir das: Die Menschen gehen alternativ zum ansässigen Arzt, der sich dann mit Dingen beschäftigen muss, die gar nichts mit seinem medizinischen Beruf zu tun haben.
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Die Last der Gesundheitsversorgung muss künftig also auf mehrere Schultern verteilt werden?
Anders funktioniert es bald nicht mehr. Auch mit Primärversorgungszentren können wir diese Schieflage mit weiteren Berufsgruppen neben dem Hausarzt auffangen. Natürlich spielen Ärzte dort weiterhin eine wichtige Rolle, aber eben auch andere, es geht um multiprofessionelle Teams. Danach habe ich im Koalitionsvertrag leider vergeblich gesucht. Grundsätzlich müssen wir uns als Gesellschaft aber auch ehrlich machen. Noch sind die professionellen Gesundheits- und Pflegestrukturen intakt. Aber das wird nicht so bleiben. Wir müssen grundlegende Fragen der Versorgung neu stellen.
DRK-Forderung: Politik muss sich von Ärztezentrierung lösen
Was wünschen Sie sich von der schwarz-roten Gesundheitspolitik?
Im Koalitionsvertrag stehen richtige Ansätze für das Gesundheitssystem – sie sind aber viel zu sehr auf die Profession Arzt konzentriert. Das wird der Zukunft und ihren Anforderungen nicht gerecht.
Sie plädieren stattdessen für breite Teams und Einrichtungen – die es ja schon gibt. Wozu braucht es dafür noch die Politik?
Viele gute Ansätze werden derzeit nur in Modellprojekten versucht und sind für die Akteure vor Ort deshalb schwer umsetzbar. Da geht es dann um komplizierte Verhandlungen mit den Kassen, unterschiedliche Finanzierungstöpfe und eine umständliche, aber zeitlich befristete Organisation. Die Dinge müssten einfacher laufen.
Ist es damit getan?
Nein. Wir müssen anderen Berufsgruppen mehr Kompetenzen geben. Allen voran Pflegekräften, die schon jetzt viele heilkundliche Aufgaben übernehmen könnten, sodass Ärzte nach Möglichkeit nur noch für die medizinische Behandlung zuständig sind. In den meisten westlichen Ländern ist das heute schon so, im restlichen Europa traut man seinen Pflegekräften deutlich mehr zu. Wir müssen unsere verfügbaren Kompetenzen über einzelne Berufsgruppen und Sektoren denken.
Vereinsamung als zunehmendes Problem – besonders auf dem Land
Aber auch bei Pflege und Co. fehlen längst die Fachkräfte. Das Problem bleibt also bestehen, oder?
Deshalb ist es zentral, dass die Menschen ihre Gesundheit stärker selbst in die Hand nehmen. Unser Versorgungssystem wird zwangsweise schrumpfen, weil uns die Leute dafür fehlen. Wir müssen deshalb mehr auf Prävention und Empowerment setzen.
Also Sport und eine gesunde Ernährung?
Ja, aber nicht nur. Besonders im ländlichen Raum sehen wir zunehmend auch Vereinsamung und andere soziale Probleme, die dann zu Krankheiten werden und somit zu Arztbesuchen führen. Das lässt sich durch soziale Unterstützung und Hilfsangebote verhindern. Genau da kommen Wohlfahrtsverbände wie das DRK zum Tragen – wenn genug Mittel und Helfer da sind.