Neue Details zur Ahrtal-Flut mit 135 Toten - Als die Fluten immer höher steigen, macht der Landrat einfach Feierabend

Das ist die Kernfrage, die Bevölkerungsschutzexperten, Krisenforscher, Anwälte, die Staatsanwaltschaft und die Medien seit zweieinhalb Jahren beschäftigt und Angehörige in die Verzweiflung treibt. „Wir wollen Gerechtigkeit“, sagt Johanna Orths Vater Ralph zu FOCUS online Earth. Die Entscheidung, ob Anklage wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung erhoben wird, hat Signalwirkung für ganz Deutschland.

Die verflixte 99-Prozent-Frage

Die gesamten bisherigen Ermittlungen in der Schuldfrage sind für Außenstehende kaum nachvollziehbar. Der Bevölkerungsschutzexperte Dominic Gißler aus Berlin sagt als Gutachter vor dem Untersuchungsschuss in Mainz : „Für Bad Neuenahr-Ahrweiler und Sinzig wären mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Maßnahmen möglich gewesen, die Menschen gerettet hätten.“ Aber eine „99,9-prozentige Sicherheit“ dafür gebe es nicht.

Schuld am Tod von 135 Menschen habe das Führungssystem des Kreises Ahrweiler, in dem es an allem gemangelt habe: Einsatzpläne, Verwaltungsstäbe, Handyempfang, Hubschrauber, Kommunikation, Personal. Und vor allem: am „Beistand“ des obersten Katastrophenschützers Jürgen Pföhler, der die Menschen hätte evakuieren müssen - nach einem Pressefoto um 19.30 Uhr in der Einsatzzentrale in Ahrweiler aber wie vom Erdboden verschluckt war.

Ein anderer Gutachter, der Kieler Krisenforscher Frank Roselieb, sieht die Schuld nicht im System, sondern im "Systemsprenger“ Pföhler, der mutwillig gegen alles verstoßen habe, zu dem er nach dem Landesbrand- und Katastrophenschutzgesetz (LBKG) verpflichtet gewesen wäre: Anwesenheit, Einsatzpläne, Erreichbarkeit, Übungen, die Liste ist endlos. Wieviel Menschen jedoch bei einer rechtzeitigen Evakuierung gerettet worden wären, darauf wollte er sich nicht festlegen - das sei technisch nicht möglich. 99 Prozent sei jedenfalls Quatsch. „Ich kenne keinen Katastrophenfall, der 99 Prozent verlangt.“

"Eine einzige Überlebende reicht für die Anklage"

Der Koblenzer Rechtsanwalt Christian Hecken hat genug von diesem Streit der Gelehrten: Er vertritt die Eltern von Johanna Orth und weitere Angehörige, darunter auch den Bruder einer getöteten Frau aus dem Haus der Lebenshilfe in Sinzig, in dem noch um zwei Uhr morgens zwölf Menschen ertranken. „Johanna Orth hätte überlebt, wenn sie rechtzeitig evakuiert worden wäre“, sagt Hecken gegenüber FOCUS online Earth. „Mit Sicherheit, und nicht nur mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit. Eine einzige Überlebende reicht für die Anklage." Für seine Argumentation könnte er nun entscheidende Unterstützung bekommen.

Es ist 20.17 Uhr, als Johanna Orth ihren Eltern am 14. Juli 2021 ein Video aus ihrer Wohnung schickt, das FOCUS online Earth vorliegt: Es zeigt ihre Erdgeschosswohnung an der Jülichstraße 1 von innen. Vor der Balkontür prasselt der Regen nieder, wie seit Tagen schon. Ein Feuerwehrwagen fährt an dem Haus vorbei, aus den Lautsprechern dröhnt eine blecherne Durchsage: „Hier spricht die Feuerwehr. An der Ahr ist die Hochwassergefahr sehr hoch. In den nächsten 24 Stunden ist mit Überflutungen, Stromausfällen und Verkehrsbehinderungen zu rechnen. Halten Sie sich nach Möglichkeit nicht in Kellern, Tiefgaragen oder tieferliegendem Gelände auf. Sichern Sie Ihre Gebäude und entfernen Sie Ihre PKWs.“

Fatale Durchsagen

Für Christian Hecken ist diese Anweisung absurd: „Verkehrsbehinderungen? Um 16.20 Uhr lag der Pegel in Altenahr bei 5,50 Meter. Nach dem Jahrhunderthochwasser von 2016 wurde ein Pegelstand von 4,15 Meter in Altenahr als Extrem-Hochwasser angenommen. Auf Bad Neuenahr-Ahrweiler kam eine Katastrophe zu. Das mussten alle wissen, vor allem die Einsatzleitung und die Feuerwehr.“ Hecken fragt daher: „Wer hat den Auftrag zu dieser Durchsage gegeben?“

Eine berechtigte Frage. Der Landrat kann es ja nicht gewesen sein. Er hatte seine Aufgaben an den ehrenamtlichen Brand- und Katastrophenschutzinspekteur „abgegeben“, wovon noch die Rede sein wird; er selbst war nach 19.30 Uhr nur noch bedingt erreichbar. „Welche Kenntnis über die Lage gab es? Wusste überhaupt jemand in Bad Neuenahr-Ahrweiler Bescheid, was auf die Menschen zukam?“, fragt Hecken.

Wer war für diese Durchsage zuständig? "Aufgrund der allgemein angekündigten Gefahrensituation warnten die Feuerwehr und das Ordnungsamt in Bad Neuenahr-Ahrweiler am 14. Juli 2021 bereits ganztägig die Bevölkerung", heißt es in einer Antwort der Stadt Bad Neuenahr-Ahrweile auf eine Anfrage von FOCUS online Earth. "Entsprechend wurde die Durchsage an der Jülichstraße von der städtischen Feuerwehr in den ahrnahen Bereichen im Stadtgebiet eigeninitiativ ausgesendet. Als kreisangehöriger Stadt obliegt Bad Neuenahr-Ahrweiler die Einsatzleitung einer Katastrophenlage bis zur Gefahrenstufe 3. Ab Gefahrenstufe 4 wechselt die Einsatzleitung auf den Kreis; dies war am 14. Juli ab 17:40 Uhr der Fall.“

Zur Frage, wann und mit welchem Ergebnis vor dem Hintergrund der extremen Gefahrenlage in Bad Neuenahr-Ahrweiler erstmals eine Evakuierung diskutiert wurde, nahm die Stadt mit Verweis auf die laufenden staatsanwaltlichen Ermittlungen keine Stellung.

Johanna legte sich nach der Durchsage schlafen. Die Konditorin musste am nächsten Tag früh raus. Eine fatale Entscheidung. Rechtsanwalt Hecken zieht daraus den Schluss: „Den Menschen an der Ahr wurde nicht nur nicht geholfen, sie wurden auch in falsche Sicherheit gewogen.“ Das beweist auch ein Fall in Marienthal: Auch dort fuhr um kurz nach 20 Uhr ein Feuerwehrwagen vorbei und warnte davor, „in den Keller zu gehen“, erinnert sich „Dorfkümmerer“ Rolf Schmitt.

Zwei Männer, Vater und Sohn, beide selbst Angehörige der Freiwilligen Feuerwehr in Dernau, blieben im Erdgeschoss ihres Hauses, obwohl die Nachbarn ihnen rieten, ein Stockwerk höher zu gehen. „Es wird schon nicht so schlimm“, sagten die beiden. Als es dann noch viel schlimmer wurde, konnten sie die Tür zur Freitreppe in die obere Etage nicht mehr öffnen und ertranken.

Verzweifelte Bürgermeisterin fleht um Ausrufung des Katastrophenfalls

Die Frage, die bis heute niemand beantworten kann: Warum hat der Landrat die Menschen nicht evakuiert? Wo war der Mann überhaupt an diesem Tag und in dieser Nacht? Die heutige Landrätin Cornelia Weigand schildert in einem bemerkenswert offenen Interview mit FOCUS online vom Ende des Jahres 2021 ihre Verzweiflung als damalige Bürgermeisterin von Altenahr: „Gegen 16.20 Uhr habe ich versucht, Herrn Dr. Pföhler anzurufen, doch der Landrat war nicht zu erreichen. Sein Fachbereichsleiter hat das Gespräch entgegengenommen. Ich habe gesagt: Die grafische Prognose steht bei 5,50 Meter. Kaum zu glauben, aber wir müssen davon ausgehen, dass wir mindestens einen Wasserstand wie beim Jahrhunderthochwasser wie 2016 bekommen, wahrscheinlich deutlich höher. Bitte lassen Sie den Katastrophenfall ausrufen.“

Sie hoffte, „frühzeitig Hubschrauber zu bekommen, um Menschen evakuieren zu können“. Schon beim Hochwasser 2016, das vom Landesumweltministerium als „Jahrhundertflut“ eingestuft wurde, wurden die Menschen an der Ahr aus der Luft gerettet. Damals starb niemand. Der Pegel bei Altenahr stand am 2. Juni 2016 bei 3,71 Meter – rund vier Meter tiefer als 2021. Weigand rechnete mit dem Schlimmsten - zu Recht, wie sich herausstellen sollte.

Der Fachbereichsleiter wollte zunächst „Rücksprache“ halten. „Nach 20 Minuten rief er wieder an und sagte, dem Krisenstab würden noch Informationen fehlen, das würde noch etwas dauern. Den Rest der Geschichte kennen sie“, erzählte Weigand. Was kaum bekannt ist: Wie intern auf Weigands Alarmierung reagiert wurde. Pföhlers Sekretärin erzählte der Staatsanwaltschaft laut dem Nachrichtenportal T-Online , was der Fachbereichsleiter von einem Telefonat mit Pföhler berichtet hatte: Pföhlers Reaktion sei gewesen, dass „Weigand wie immer übertreiben und sich anstellen“ würde.

„Weigand übertreibt wie immer“

Die ARD-Dokumentation „Chronik des Versagens“ zeigt Weigand, wie sie am 14. Juli 2021 stundenlang vergeblich in ihrem Büro in Altenahr auf eine Entscheidung des Landrates wartet. Damit verschenkt auch sie wertvolle Stunden: Denn am frühen Nachmittag des 14. Juli hätte sie als Bürgermeisterin selbst noch evakuieren dürfen. 17 Kilometer flussaufwärts war dies schon nicht mehr möglich: In Schuld stürzen ab 17 Uhr Häuser in die Flut, Wohnwagen und Autos werden unter Brücken durchgequetscht; um 17.30 gibt es auf dem Campingplatz Stahlhütte bei Dorsel sechs Tote.

Um 17.40 Uhr sieht sich die Kreisverwaltung Ahrweiler offenbar zum Handeln gezwungen und gibt in einer Pressemitteilung bekannt: „Die technische Einsatzleitung unterstützt den Brand- und Katastrophenschutz-Inspekteur des Kreises, Michael Z., der um 17:40 Uhr die überörtliche Einsatzleitung übernommen hat, da Alarmstufe 4 ausgerufen wurde.“

Landrat dachte wohl, er habe Feierabend

Bemerkenswert: Lediglich die zweithöchste Warnstufe wird ausgerufen, und nicht der Landrat ist der Einsatzleiter, sondern der ehrenamtliche Feuerwehrmann Z. Gegen ihn ermittelt die Staatsanwaltschaft Koblenz seit mehr als zwei Jahren wegen des Anfangsverdachts der fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Körperverletzung ermittelt, genau wie gegen Pföhler.

Recherchen von FOCUS online Earth bringen eine schier unfassbare Haltung des damaligen Landrats ans Licht: Er erklärte bei einer Durchsuchung durch die Staatsanwaltschaft im August 2021, die Aufgabe des Einsatzleiters schon Jahre zuvor an den ehrenamtlichen Brand- und Katastrophenschutzinspekteur Z. delegiert zu haben. Ihn selbst treffe daher keine Schuld. Eine Haltung, die er bis heute durchzieht. Über seinen Anwalt ließ er mehrfach erklären, dass er sich in den Medien zu Unrecht vorverurteilt sehe.

Die Menschen im Ahrtal berichten FOCUS online Earth, dass er sich arglos in der Öffentlichkeit zeige, etwa in Restaurants gehe. Warum auch nicht, mag er denken. Pföhler dachte offenbar am 14. Juli 2021 um 17.40 Uhr, dass er „Feierabend“ habe, wie es ein Ermittler gegenüber FOCUS online Earth formuliert hat, der anonym bleiben möchte. Akten des Landeskriminalamtes, die FOCUS online Earth vorliegen, bestätigen dies: Danach trifft Pföhler am Abend des 14. Juli 2021 zwischen 20.30 und 20.45 bei einem Spaziergang mit seinem Hund und seiner Frau an der Ahr seinen Nachbarn und warnt ihn, dass dieses Hochwasser schlimmer als 2016 werde. Für die Einsatzleitung in Ahrweiler war Pföhler zu diesem Zeitpunkt nicht zu erreichen. Sie hätte ihn dringend gebraucht: Um 20.45 Uhr brach der Pegel in Altenahr ab. Die Einsatzleitung war seitdem im Blindflug.

Staatsanwalt:  „Man kann nicht sein gesamtes Amt übertragen“

Der damalige Leitende Oberstaatsanwalt Harald Kruse, der heute Generalstaatsanwalt in Koblenz ist, sagte in einem Interview: “Wir halten Herrn Pföhler für grundsätzlich verantwortlich. Die politisch-administrative Komponente, die es geben muss, ist nicht delegierbar.“ Sein Nachfolger als Leitender Staatsanwalt, Mario Mannweiler, bestätigt dies gegenüber FOCUS online Earth: „Man kann einzelne Aufgaben übertragen, aber nicht sein gesamtes Amt. Das würde bedeuten, dass man das Amt leer laufen lassen würde. Je größer das Ereignis, desto höher ist die Gesamtverantwortung.“

Der Landrat hatte eine sogenannte „Garantenstellung“: Er war gesetzlich als oberster Katastrophenschützer für die Sicherheit der 130.000 Menschen an der Ahr verantwortlich. Gegen dieses Gesetz hat er mit der Abwälzung der Verantwortung laut Gerd Gräff (70) gleich mehrfach verstoßen: Der pensionierte Ministerialrat und ehemalige stellvertretende Leiter der Katastrophenschutzabteilung im rheinland-pfälzischen Innenministerium hat in einem 400 Seiten starken Kommentar zu den „Befugnissen der Einsatzleitung“ detailliert dargelegt, welche fatalen Fehler und Pflichtverletzungen vor allem der Landrat begangen hat. Der Kommentar erscheint Ende März im Neckar-Verlag in Villingen-Schwenningen und liegt FOCUS online Earth vorab exklusiv in Auszügen vor.