Untersuchungsausschuss zur Flut - Warum starben 135 Menschen im Ahrtal? Experte fällt vernichtendes Urteil
Jurist: 87 Menschen hätten gerettet werden können
Dies und weitere schwere Defizite führten zur Katastrophe. Roselieb wird darin von Gerd Gräff bestätigt. Der Jurist hat den Kommentar zum „Brand- und Katastrophenschutzrecht“ in Rheinland-Pfalz geschrieben und wurde auch bereits als Experte vor dem Untersuchungsausschuss zur Flut angehört. Er schreibt in seinem Kommentar, dass viele der 87 Menschen, die in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 allein zwischen 23 und 2 Uhr starben, gerettet werden können, wenn rechtzeitig gewarnt und evakuiert worden wäre.
Insgesamt verloren bei der Flut allein an der Ahr 135 Menschen ihr Leben. Landrat Pföhler hatte erst um 23.09 den Katastrophenalarm ausgerufen, obwohl er, wie aus polizeilichen Ermittlungen hervorgeht, bereits um 20.45 Uhr wusste, dass ein größeres Hochwasser als 2016 drohte, das als „Jahrhunderthochwasser“ bezeichnet wurde.
„Wir haben kein Systemproblem, wir haben einen Systemsprenger“
Roselieb widersprach der Aussage von Gißler, dass es sich um ein „Systemproblem“ im Kreis Ahrweiler handelte: „Das Katastrophenmanagement in Rheinland-Pfalz ist durchschnittlich. Wir haben im Kreis Ahrweiler kein Systemproblem, wir haben einen Systemsprenger, der gesagt hat: Wir machen jetzt alles ganz anders. Wir schaffen einfach einen Bereich wie den Verwaltungsstab ab. Hier hat eine einzige Person das System umgebaut, ohne dass klar ist, dass er es darf und dass es besser so ist.“ Gemeint ist der damalige Landrat Jürgen Pföhler.
In der Katastrophen-Dienstvorschrift 100, auf die sich Roselieb bezog, und die es in einer „Vorversion“ seit 2019 gab, ist festgelegt, wie der Katastrophenschutz aussehen muss. Danach muss laut Roselieb der Landrat alle drei Jahre an einer halbtägigen Katastrophenübung teilnehmen. „Wenn er es jedes Jahr macht, ist er ein sehr fleißiger Landrat“, sagt Roselieb. Davon konnte im Kreis Ahrweiler keine Rede sein, so Roselieb. „Der Kreis Ahrweiler hatte keinen Landrat, der präsent war. Der Kreis Ahrweiler hatte keinen Verwaltungsstab.“
Roselieb kritisierte auch die Auftragsvorgabe durch die Koblenzer Staatsanwaltschaft: Von einem außergewöhnlichen Ereignis könne bei der Flut an der Jahr im Juli 2021 nicht ausgegangen werden. Die Fluten im Juni 1804 und im Juli 1910 seien vergleichbar gewesen, auch 2016 gab es eine starke Flut an der Ahr. „Außergewöhnlich war, dass es kein Katastrophenmanagement gab.“
Roselieb legte sich fest: „Um 18.30 Uhr hätte an der Ahr Katastrophenalarm ausgerufen werden müssen.“ Dann hätten viele Menschen überlebt.
„Es gab keinen Landrat, bestenfalls für ein Pressefoto“
Der Landrat selbst war in der Flutnacht für Bürgermeisterinnen und Bürgermeister wie für die TEL nach Recherchen von FOCUS online Earth und laut polizeilicher Ermittlungen nicht zu erreichen. Frank Roselieb betonte in der Anhörung: „Es gab keinen Verwaltungsstab, es gab keinen Landrat, bestenfalls für ein Pressefoto.“ Roselieb spielte damit darauf an, dass Landrat Pföhler zusammen mit dem damaligen Innenminister Roger Lewentz (SPD) am 14. Juli 2021 um 19.20 Uhr in die Einsatzzentrale der Kreisverwaltung Ahrweiler kam. Um kurz nach 19.30 Uhr verließen Pföhler und Lewentz den Einsatzraum wieder - und wurden danach in offizieller Funktion nicht mehr gesehen.
Lewentz soll damals sinngemäß gesagt haben, dass er sich davon überzeugen konnte, dass das Katastrophenmanagement an der Ahr funktioniere. Wie polizeiliche Ermittlungen ergaben, traf Pföhler um 20.30 bei einem Spaziergang mit seiner Frau und seinem Hund einen Nachbarn, den er davor warnte, dass ein größeres Hochwasser als 2016 droht.
„Wenn die Justiz sich blamieren will, stellt sie das Verfahren ein“
Mit der 46. Sitzung vom Freitag sind Ermittlungen zur politischen Verantwortung bei der Hochwasserkatastrophe abgeschlossen. Ausschussvorsitzender Martin Haller (SPD) teilte mit, dass der Abschlussbericht des Ausschusses noch vor der Sommerpause im August veröffentlicht werde. Er soll 2000 Seiten umfassen. Im September wird der Landtag über den Bericht diskutieren. Die Abgeordneten sollen bis dahin Zeit haben, sich intensiv mit dem Bericht befassen, sagte Haller. „Wir wollten der Aufgabe, der Sache tief nachzugehen, gerecht werden. Das sind wir den Menschen an der Ahr schuldig.“
Ob die Staatsanwaltschaft Anklage erhebt, wird sich wohl danach zeigen. Tut sie es nicht, sei dies ein entscheidender Fehler, sagt der Fraktionsvorsitzender der Freien Wähler und Obmann im Untersuchungsausschuss, Stephan Wefelscheid, zu FOCUS online Earth: „Wenn die Justiz sich blamieren will, dann stellt sie ein.“ Es werde dann „Generationen von Juristen geben, die über dieses Versagen den Kopf schütteln werden“.
Der Untersuchungsausschuss wird seine Ermittlungen vermutlich noch am Freitag abschließen. Danach wird er einen Bericht schreiben, der im Landtag diskutiert wird. Er wird die politische Verantwortlichkeit des Landrates bewerten. Die strafrechtlichen Konsequenzen obliegen der Staatsanwaltschaft: Nach Informationen von FOCUS online Earth hat sie einen Beobachter zur Sitzung im Mainzer Landtag entsandt.