Deutschlands Corona-Lockdown war der größte Fehler, sagt Gesundheitsminister Lauterbach. Die Auswirkungen auf Kinder sind überraschend, aber hart.
+++ 12. März 2020: Fast alle Bundesländer schließen Schulen und Kitas. +++
München – Die Corona-Lockdowns an Schulen waren hart – und womöglich der schwerwiegendste Fehler, den Deutschland in der Pandemie gemacht hat. „Der größte Fehler war, dass wir mit den Kindern zum Teil zu streng gewesen sind“, gesteht der damalige Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach im März 2024 dem Spiegel.
Die Auswirkungen dieser Maßnahmen sind weitreichend und betreffen insbesondere die psychische Gesundheit der Heranwachsenden.
„Ganz harter Tobak“: Corona-Lockdown traf vor allem Kinder
„Für Kinder war der Lockdown ganz harter Tobak. Schule, Vereine, Sport – ihr ganzer Sozialbereich wurde dichtgemacht. Diese Erfahrungen fehlen jetzt“, betont Lehrerverbandspräsident Stefan Düll bei IPPEN.MEDIA.
Die Auswirkungen der Corona-Schließungen auf den Lernfortschritt der Schülerinnen und Schüler sind bis heute nicht quantifizierbar. Die Pisa-Studie 2022 zeigt zwar, dass deutsche Jugendliche so schlecht abschnitten wie noch nie, jedoch ist der Einfluss des Lockdowns in den Jahren zuvor nicht eindeutig nachzuweisen.
Düll beobachtet eine mangelnde Aufmerksamkeitsspanne, die sich unter Kindern und Jugendlichen ausbreitet. Aber: „Ob das jetzt an der Corona-Pandemie oder an der Mediennutzung während Corona liegt, lässt sich nicht sicher sagen. Auch Erwachsene sind mittlerweile immer mehr am Handy.“ Schule sei ohnehin so angelegt, dass immer „ein bisschen was aus dem Lehrplan nicht stattfinden kann.“ Düll betont, man müsse die Basics vermitteln und das sei auch während der Pandemie gelungen.
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Auch laut der Pisa-Studie 2022 waren die Auswirkungen des Distanz-Unterrichts offenbar nicht dramatisch. Stattdessen zeigen sich andere Probleme an deutschen Schulen.
Lern-Lücke wegen Corona? „Psychologisch fallen die Folgen deutlicher aus“
Gerhard Brand, Bundesvorsitzender im Verband Bildung und Erziehung (VBE) unterstreicht bei IPPEN.MEDIA: „Psychologisch fallen die Folgen deutlicher aus.“
Phänomen seit Corona-Lockdowns: Schüler öfter aggressiv – „Zimmerlinge“ sitzen fest
„Wir sehen durchaus auffällige Veränderungen im Sozialverhalten. Schüler werden schneller und öfter aggressiv, Höflichkeitsformen sind eingeschränkter“, erklärt Brand. Lehrerverbandspräsident Düll bestätigt diese Beobachtung: „Seit der Corona-Pandemie nehmen wir verstärkt Schüler mit psychischen Auffälligkeiten wahr.“
Die Erfahrungen der Kinder während der Pandemie waren einschneidend. Lockdown, alleine im Zimmer, die Welt stand kopf. „Die Anfangszeit war für Kinder vielleicht noch spannend, aber dann kam die psychische Belastung. Das hat einige brutal geschlaucht“, sagt Düll. Besonders betroffen waren Kinder aus sozial schwächeren Familien, die zu Hause weniger Unterstützung erhalten konnten, sowie Grundschulkinder, die erst lesen und schreiben lernten und alleine vor dem PC überfordert waren. „Das ist sehr ernüchternd gewesen“, erinnert sich der Lehrerpräsident. Zwar gab es Unterschiede. Aber: „Sicher ist: Getroffen hat es sie alle.“
Während der Pandemie entstand der unschöne Begriff „Zimmerling“: Er bezeichnet ein Kind, das sein Kinderzimmer gar nicht mehr verlässt – Schule, Freunde, Freizeit, alles passierte im Lockdown vor dem Bildschirm. Brand stellt fest: „Manche haben nach Corona nicht wieder herausgefunden, ihr Leben findet immer noch online statt. Das ist nicht weg.“
IPPEN-Serie: Fünf Jahre Corona
In der Serie zum fünften Jahrestag der Corona-Pandemie spricht IPPEN.MEDIA mit Menschen, die die Pandemie aus verschiedenen Blickwinkeln erlebt, durchlebt und größtenteils noch lange nicht abgeschlossen haben. Auf der Suche nach Folgen, Lehren und der Aufarbeitung.
Kinder haben seit Corona-Pandemie mehr Ängste
Trotz des Lockdown-Endes sind Ängste auch bei denen, die wieder im echten Leben angekommen sind, immer noch spürbar –sogar mehr denn je. „Die heile Welt ist abhandengekommen“, sagt Brand. Das liege allerdings bei weitem nicht alleine an der Pandemie. Weitere belastende Faktoren sind Konflikte in der Ukraine und Gaza, außerdem besorgt der voranschreitende Klimawandel viele jungen Menschen enorm. Brand fasst zusammen: „Wir spüren: Den Kindern fehlt Halt.“
Die Sorgen der Jugendlichen haben sich in den fünf Jahren seit Corona enorm vergrößert. Auf die Frage, warum sich das Phänomen bei ihnen stärker zeigt als unter Erwachsenen, antwortet Lehrerpräsident Düll: „Jungen Menschen fehlt die Lebenserfahrung, dass lange Phasen auch gut laufen.“
Schlimme Folgen des „größten Fehlers“ während Corona – „War eine Ausnahmesituation“
Aggressive Schüler, Kinder mit Ängsten. Trotz der negativen Auswirkungen betonen VBE-Vorstand Brand und Lehrerpräsident Düll, dass sie niemandem einen Vorwurf machen wollen. Brand sagt: „Die Corona-Pandemie war eine Ausnahmesituation und man wusste nicht, was die Konsequenzen einzelner Entscheidungen sein werden.“
„Heute kann man die Schulschließungen durchaus als Fehler bezeichnen. Damals wusste man es aber eben nicht besser“, sagt Düll. Die Entscheidung sei hart gewesen, habe damals aber eine Logik gehabt. „In dem Moment waren Schulkinder keine entscheidenden Konsumenten oder Steuerzahler und schon gar keine Wähler.“
Als besonders problematisch bewertet Düll die Regelung, dass Schülerinnen und Schüler ihre Kameras während der Unterrichtsstunden ausschalten durften. Lehrer sahen dunkle Kacheln im Chatroom, anstatt der gewohnten Gesichter. „Gegen eine ‚Schwarze Wand‘ zu sprechen, hat vielen Lehrenden schwer zu schaffen gemacht. Das war wahrlich deprimierend“, erinnert sich der Lehrerpräsident. Inzwischen wurden die Schulordnungen angepasst, sodass künftig im Distanzunterricht ein Bild verlangt werden darf. Trotzdem sollte der Online-Unterricht geübt werden, fordert Düll.
Corona-Folgen auffangen: VBE-Chef lobt und fordert Maßnahmen
Zur Aufarbeitung der Corona-Pandemie gehören, so VBE-Chef Brand, Programme zur Lernförderung und sozialem Miteinander. Bereits existierende Sommercamps oder betreutes Lernen zeigen positive Wirkungen. „Programme wie ‚Lernen mit Rückenwind‘ helfen enorm“, lobt Brand und wünscht: „Ich hoffe sehr, dass die Mittel weiter zur Verfügung gestellt werden. Wir sind noch lange nicht durch. Es braucht Pädagogen und Sozialarbeiter in den Schulen für die Kinder. Wir können das nicht alleine auffangen.“
Lehrerpräsident Düll hofft, dass Deutschland künftig besser auf eine vergleichbare Ausnahmesituation vorbereitet sein wird. „Im Sommer 2020 war man blauäugig“, hält er fest, „eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Modellen für den Unterricht hat nicht stattgefunden. Konzepte wurden immer erst entwickelt, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen war. Im Nachgang hat vieles etwas von Slapstick.“ Anstatt diese Fehler anzuprangern, empfiehlt Düll: „Es wäre logisch, Fehler aufzuarbeiten und jetzt einen Pandemie-Plan zu erstellen.“
„Mit den Auswirkungen der Lockdowns werden wir noch lange zu tun haben.“
Zusammenfassend plädieren VBE und Lehrerverband für eine gründliche Aufarbeitung der Entscheidungen während Corona und für nachhaltige Unterstützung der Schülerinnen und Schüler. Für Brand besteht kein Zweifel: „Mit den Auswirkungen der Lockdowns werden wir noch lange zu tun haben.“ (moe)