Vor Friedensverhandlungen: Putin hat den „Festungsgürtel“ der Ukraine im Visier

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Gnadenlos umkämpfte Ruinen: Russische Soldaten üben den Häuserkampf – in den Gefechten um den „Festungsgürtel“ in Donezk schickt Russland jetzt Trupps von bis zu fünf Soldaten los, weil die den Drohnen schlechtere Ziele bieten sollen. © IMAGO / Evgeny Biyatov

In Donezk sammelt Russland Kräfte, um den Verteidigern das Rückgrat zu brechen; Beobachter sehen das kritisch. So kritisch wie die Lage der Ukraine.

Kostjantyniwka – „Die Entwicklungen an den Frontlinien deuten auch darauf hin, dass Russland kein ernsthaftes Interesse an der Umsetzung von Friedensabkommen hat“, schreibt The New Voice of the Ukraine. Anlass sind Bemühungen der Invasionstruppen Wladimir Putins im Bezirk Donezk wieder Druck auszuüben auf Städte, die noch unter Kontrolle der Ukraine stehen. Kostjantyniwka, Druschkiwka, Slowjansk und Kramatorsk sollen im Fokus liegen – in der Ukraine gelten diese Städte als „Festungsgürtel“ und ihr Fall würde den Verteidigern im Donbas das Rückgrat brechen.

Die Angst davor besteht schon seit mehr als einem Jahr, aber offenbar hat Wladimir Putin jetzt genügend Kräfte massieren können, um weiter nach Osten vorzustoßen. Die Offensive hatte ja in den vergangenen Wochen geruht, weswegen die Ukraine ihren Druck auf Kursk erhöhen konnte. Im Frühjahr und Sommer dieses Jahres soll Russland aber wieder verstärkt vorgehen, wie der Thinktank Institute for the Study of War (ISW) prophezeit: Laut dem ISW hätten sich die russischen Vorstöße südlich und südwestlich von Pokrowsk in den vergangenen zwei Wochen verlangsamt; die Analysten sehen darin Anzeichen, „dass das russische Militärkommando im Frühjahr und Sommer 2025 offensive Operationen gegen Kostjantyniwka – den südlichsten Punkt des ukrainischen Festungsgürtels in der Oblast Donezk – priorisieren könnte“, wie sie schreiben.

Ukraine-Krieg: „Mehrjähriger Versuch“ Russlands, weiter im Donbas voranzukommen

Das ISW spricht von einem „mehrjährigen Versuch“ Russlands, weiter im Donbass voranzukommen – Frieden wird damit immer unwahrscheinlicher. Die Verlegung bedeutender russischer Streitkräfte in die Richtung von Kostjantyniwka deutet das ISW dahingehend, dass das russische Militärkommando dem Angriff auf Kostjantyniwka in demnächst folgenden Offensiven den Vorrang einräumen wird. Allerdings bezweifelt das ISW nach eigener Darstellung, dass der russische Druck auf diese Städte oder gar den gesamten „Festungsgürtel“ ausreichen würde, Teile davon zu sprengen oder den Gürtel im Ganzen einzudrücken. Dafür seien die ukrainischen Kräfte offenbar zu schwer.

Ich muss sagen, die Lage verändert sich dramatisch. An der gesamten Frontlinie gibt es Bewegung. Jeden Tag.

Den „Festungsgürtel“ der Ukraine beschreibt das Magazin Newsweek als eine 50 Kilometer lange Verteidigungslinie der ukrainischen Kräfte in der Ostukraine zwischen den Städten Slowjansk, Kramatorsk, Druschkiwka und Kostjantyniwka. Mitte vergangenen Jahres sollen die Städte entlang dieses „Festungsgürtels“ zwischen zwölf und 30 Kilometer von der Frontlinie entfernt gelegen haben, wie Newsweek-Autorin Maya Mehrara schreibt. Dieser Abstand könnte schnell schmelzen.

Russland rücke in der Ostukraine mittlerweile kleinschrittig vor, wie Markus Reisner im ZDF erklärt hat. „Grundsätzlich ist es so, dass das Militär unterschiedliche Angriffsgeschwindigkeiten kennt. Im Angriff geht man von 1,5 Kilometern pro Stunde aus; wenn der Druck des Gegners nachlässt, kann man erhöhen auf zehn Kilometer pro Stunde. Und eine normale Marschgeschwindigkeit liegt bei etwa 30 Kilometern pro Stunde“, sagt der Oberst des österreichischen Bundesheeres. Das sei auch das Tempo gewesen, mit der Wladimir Putin diesen Krieg begonnen hatte und vor allem gern beendet hätte.

Putin hat es eilig: Offenbar gewinnt Putins Invasionsarmee auch wieder an Tempo

Offenbar gewinnt Putins Invasionsarmee jetzt wieder an Tempo – laut dem ISW sind Russlands Kräfte ihn Ostukraine Ende vergangenen Jahres so schnell vorgerückt wie nicht im gesamten Jahr 2023. „Die Vorstöße der russischen Streitkräfte in der Südostukraine sind größtenteils das Ergebnis der Entdeckung und taktischen Ausnutzung von Schwachstellen in den ukrainischen Linien“, zitiert die Nachrichtenagentur Reuters die Angaben des ISW. Der Schwung des vergangenen Jahres hatte sich im Januar fortgesetzt.

Allerdings hat er sich in Pokrowsk verlangsamt, weil offenbar das Interesse weiter auf den Festungsgürtel umgeschwenkt ist. Der ukrainische Oberbefehlshaber Oleksandr Syrskyi hatte zuletzt die Verteidigungsbemühungen der Ukraine gelobt. In der jüngsten Zeit soll Russland um Pokrowsk herum rund 15.000 Kräfte verloren haben. Allerdings drückt auch diese Zahl lediglich die Geschwindigkeit des russischen Vormarsches, anstatt ihn zum Halten zu bringen.

Laut einem russischen Militärblogger soll die Ukraine um die Ortschaft Selydove herum so erfolgreich mit Drohnen operieren, dass alle dortigen Straßen für russische Kräfte unpassierbar seien und ihnen verunmöglicht würde, Fronttruppen entweder rotieren zu lassen oder sie überhaupt zu versorgen. Selydove liegt weit hinter der Front um Pokrowsk, sodass Russland dorthin weder Truppen noch Material nachziehen könne.

Russlands nächste große Offensive: Ziel ist, die Ukraine zu umgehen, sie einzukesseln und zu besiegen

Allerdings seien Drohnen- und Artillerieangriffe auch lediglich bedingt erfolgreich, hat Major Ivan Sekach der New York Times gegenüber zugegeben. Die Russen seien inzwischen zu kleinteiligeren Infanterieangriffen übergegangen, sagt der Pressesprecher der 110. Brigade des ukrainischen Militärs, die ebenfalls in dem Gebiet verteidigt. „Unsere Drohnen und Artillerie haben daran gearbeitet, sie auszuschalten, aber Drohnen können Keller nicht vollständig zerstören und Artillerie erfordert oft mehrere Versuche, um das Ziel genau zu treffen.“

Laut dem Institute for the Study of War bewegt Russland offenbar erhebliche Verbände in die Nähe des „Festungsgürtels“: beispielsweise Elemente der 8. Kombinierten Armee des südlichen Militärbezirks aus der Richtung Kurachowe in die Richtung Torezk (Kostjantyniwka), wahrscheinlich auch Elemente des 102. und 103. motorisierten Schützenregiments, des 163. Panzerregiments und des 381. Artillerieregiments (alle zur 150. motorisierten Schützendivision, 8. Kombinierte Armee gehörend) sowie Einheiten des 96. Regiments, das ebenfalls Teil der 150. motorisierten Schützendivision sein soll – diese Verbände bewegten sich, laut ISW, wohl aus Richtung Kurachowe in Richtung Kostjantyniwka.

Das russische Militärkommando ist möglicherweise gerade dabei, die 8. Kombinierte Armee neu zu gruppieren, oder beabsichtigt, sie zwischen den Richtungen Kurachowe und Kostjantyniwka aufzuteilen, bis die russischen Streitkräfte den kleinen ukrainischen Frontvorsprung westlich von Kurachowe zerstört haben“, schreibt das ISW. Ähnliches vermutet Kostyantyn Mashovets, wie ihn Newsweek zitiert. Der auf Telegram publizierenden Militärbeobachter vermute, dass die umfangreichen Umgruppierungen dazu dienten, die taktische Gruppe der ukrainischen Streitkräfte, die sich südlich von Konstantinovka im Gebiet zwischen Alexandropol und Tarasovka verteidige, zu umgehen, sie einzukesseln und zu besiegen, wie Newsweek wiedergibt.

Frieden unwahrscheinlich: „An der gesamten Frontlinie gibt es Bewegung. Jeden Tag.“

Dies führt ihm zufolge zu „einem Durchbruch in beide Richtungen (von Südwesten und Südosten) in das Gebiet Stepanowka – Berestok – Pleshcheyewka – Jablonowka“ und zu einem gleichzeitigen Angriff auf Konstantinovka beziehungsweise auch von der Seite von Chasov Yar. Wie Newsweek schreibt, rechnet Mashovets mit einer Offensive der 8. Armee zusammen mit der 51. Armee sowie der 3. Armee und Luftlandetruppen.

Klar ist, dass Russland jetzt kurzen Prozess machen will, bevor er von den USA in einen für ihn möglicherweise ungünstigen Frieden hineinmanövriert würde. „Es wird viel über Verhandlungen geredet, aber das ist eine Illusion“, sagte Anfang des Jahres Mychajlo Podoljak. Der Berater des Bürochefs des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zweifelt an einem beide Seiten zufrieden stellenden Frieden, weil auf Russland kaum Druck aufgebaut werden könne.

Auch der Aufmarsch der Truppen entlang des „Festungsgürtels“ verheiße kaum Hoffnung darauf, dass Putin die Ukraine zu Atem kommen lassen will; ohne dass er aber selbst zum entscheidenden Schlag ausholen könnte. Die interessante Frage wird sein, was wäre, wenn er sich wieder festbeiße, wie das ISW prognostizierte; wie lange er auch eine Zange gegenüber den ukrainischen Truppen aufrechterhalten könne. Auch Wladimir Putin äußerte sich eher kryptisch auf seiner Jahrespressekonferenz Ende Dezember, wie ihn die BBC zitierte: „Ich muss sagen, die Lage verändert sich dramatisch. An der gesamten Frontlinie gibt es Bewegung. Jeden Tag.“ (Karsten Hinzmann)

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