3.000 Tonnen täglich? – Großes Rätselraten über Putins Feuerkraft

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3.000 Tonnen täglich? – Großes Rätselraten über Putins Feuerkraft

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Feuer einstellen? Den Verteidigern im Ukraine-Krieg geht genauso die Munition aus, wie der Invasionsarmee Wladimir Putins. Analysten hoffen, dass Russland in zwei Jahren seine Ressourcen aufgebraucht hat. © IMAGO/Stanislav Krasilnikov

Der Krieg endet in zwei Jahren; eventuell. Analysten hoffen, dass sich Russlands Ressourcen bald erschöpft haben – an Granaten und an Lastwagen.

Moskau – Der Lastwagen wurde zum Motor des modernen Krieges. Ohne ihn hätten die Materialschlachten des Ersten Weltkriegs nie stattgefunden – 224.221 Granaten haben allein britische Soldaten innerhalb von einer Stunde zu Beginn der Somme-Offensive am 1. Juli 1916 verfeuert. Und für die Einnahme der Festung Sewastopol im Zweiten Weltkrieg beispielsweise sollen zwischen Anfang Juni und Anfang Juli 1942 täglich mehr als eine Tonne Artilleriemunition verschossen worden sein; allein am ersten Tag der Operation fast vier Tonnen, schreibt der ehemalige deutsche Wehrtechniker Michael Hiske.

Auch der Ukraine-Krieg entscheidet sich wahrscheinlich in der Logistik – laut Newsweek könnten nicht nur der Ukraine, sondern auch der Invasionsarmee Wladimir Putins bald die Granaten ausgehen; und die Mittel, diese an die Front zu verlegen.

Allerdings wartet die Welt seit längerer Zeit genau darauf – vor einem Jahr hatte das estnische Verteidigungsministerium ein Papier veröffentlicht, aus dem das ZDF berichtet hatte: Russland verschieße zwischen 20.000 und 60.000 Artillerie-Granaten pro Tag – bei einem Gewicht von rund 50 Kilo pro Granate einer 155mm-Haubitze ergäbe das einen Verbrauch von bis zu 3.000 Tonnen täglich; Raketen nicht mitgerechnet. Der moderne Krieg in der Ukraine steht also den Verheerungen des vorangegangenen Jahrhunderts offenbar in nichts nach. So bedauert die Neue Zürcher Zeitung: „Artillerie ist zudem die bevorzugte Waffe der Russen für ihren Vernichtungsfeldzug gegen dicht bewohnte Gebiete, der einem insbesondere in Mariupol in seinem ganzen Schrecken vor Augen geführt wird. Dieser scheint darauf abzuzielen, die für das Überleben der Bevölkerung notwendige Infrastruktur auszulöschen.“

Horrender Verbrauch: Russland rechnet mit vier Millionen Artilleriegranaten

Also drohen ähnliche Ergebnisse wie in den beiden großen Kriegen: die totale wirtschaftliche Erschöpfung wahrscheinlich beider Kriegsparteien. Das ist jedenfalls eine mögliche Schlussfolgerung aktueller Zahlen des britischen Royal United Service Institutes (RUSI) – demnach benötigt Russland 5,6 Millionen Artillerie-Granaten, um seinen bisherigen Angriffsschwung beizubehalten und ein schnelles Ende des Ukraine-Krieges zu erzwingen: „Um sein Ziel zu erreichen, im Jahr 2025 erhebliche Gebietsgewinne zu erzielen, hat das russische Verteidigungsministerium einen industriellen Bedarf zur Herstellung oder Beschaffung von etwa vier Millionen 152-mm- und 1,6 Millionen 122-mm-Artilleriegeschossen im Jahr 2024 ermittelt“, schreiben die RUSI-Autoren Jack Watling und Nick Reynolds.

Sie sehen genau darin die weiche Flanke der russischen Expansions-Bemühungen. Demnach ginge das russische Verteidigungsministerium davon aus, die Produktion von rund einer Million 152-mm-Granaten aus dem vorangegangenen Jahr auf 1,3 Millionen Granaten im Laufe des Jahres 2024 zu steigern und im gleichen Zeitraum 800.000 Granaten im Kaliber 122 mm herzustellen. Watling: „Darüber hinaus glaubt das russische Verteidigungsministerium nicht, dass es die Produktion in den Folgejahren deutlich steigern kann, es sei denn, es werden neue Fabriken errichtet und in die Rohstoffgewinnung mit einer Vorlaufzeit von mehr als fünf Jahren investiert.“

Kleine Chance: Wenn Russlands Trommelfeuer nachlässt, hat die Ukraine neue Optionen

Dennoch dürfte dieses Jahr für die Ukraine ein schwieriges Jahr werden. Newsweek erwartet, dass die russischen Offensiven fortgesetzt werden; in erster Linie um die Eroberung der gesamten östlichen Donbass-Region abzuschließen, also inklusive der Verwaltungsbezirke Luhansk und Donezk – „ungeachtet der hohen Kosten an Menschenleben und Ausrüstung“, wie Newsweek schreibt. Ein von von der Nachrichtenagentur Reuters im Dezember vergangenen Jahres zitierter freigegebener US-Geheimdienstbericht schätzte die Zahl der seit Februar 2022 getöteten und verletzten russischen Soldaten auf 315.000, was laut dieser Einschätzung etwa 90 Prozent der Mannschaftsstärke vor der Invasion ausmachen würde. Kiew behauptet, etwa 435.000 russische Soldaten ausgeschaltet zu haben.

Einerseits vermelden Putin und sein Propaganda-Apparat eine Rekordzahl nach der anderen, andererseits verlieren diese bei genauerer Betrachtung deutlich an Glanz.“

Die Artillerie sei die Göttin des Krieges, hatte Josef Stalin zwei Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs gesagt, Russland handelt auch im Ukraine-Krieg danach. Die britischen Militäranalysten rechnen damit, dass die russische Führung auch weiterhin beabsichtige, rund 16.000 Granaten pro Tag abzufeuern, wobei in dieser Summe noch keine Raketenartillerie inkludiert ist. Trotz der gescheiterten russischen Gegenoffensive glauben Analysten daran, dass auch allein der unaufhörliche Beschuss aus russischen Rohren die Bemühungen der Verteidiger niederhält. Je stärker das Trommelfeuer nachlässt, desto größere Flexibilität eröffnet sich der Ukraine für ihre militärischen Operationen.

Falscher Freund: Russische Artilleristen beschweren sich über Plunder aus Nordkorea

Nordkoreas Machthaber Kim Jong-un ist inzwischen der dienstbarste Verbündete von Diktator Wladimir Putin und dessen unerschöpflicher Quell von Munition. Die Tagesschau beruft sich aktuell auf Informationen des südkoreanischen Geheimdiensts NIS, wonach Nordkorea Russland inzwischen mehr als eine Million Artilleriegeschosse übergeben habe und im Gegenzug Unterstützung für die Entwicklung eines Spionagesatelliten erhalten hätte. Das britische Forschungsinstitut RUSI dokumentierte anhand von Satellitenbildern den Weg von 300 Containern aus dem nordkoreanischen Hafen Rajin nach Dunaj in Russland – und per Eisenbahn bis in die Nähe der ukrainischen Grenze. 

Allerdings soll die aus Nordkorea gelieferte Ware das Pulver nicht wert sein, wie beispielsweise DefenseExpress berichtet hatte: Die russischen Artilleristen beschweren sich beispielsweise über die „systematische Streuung in der Reichweite“ ihrer Granaten. Das heißt: Die Geschosse irrlichtern durch die Luft, was dazu führt, dass mehr Munition für die Erfüllung einer typischen artilleristischen Aufgabe aufgewendet werden muss und das Einschießen so lange dauert, bis die Stellung von den Gegnern ausgemacht und bekämpft wird.

Jedenfalls sehen die Autoren Watling und Reynolds, dass Russland, um die Streitkräfte angemessen auszustatten, kurzfristig seine Bestände von geschätzten drei Millionen Schuss gelagerter Munition weiter abbauen müsse, „obwohl ein Großteil davon in schlechtem Zustand ist“, wie die Wissenschaftler behaupten. Um diese Engpässe weiter auszugleichen, habe Russland Liefer- und Produktionsverträge neben Nordkorea mit Weißrussland, dem Iran und Syrien unterzeichnet. Obwohl die Zufuhr von etwa zwei Millionen 122-mm-Patronen aus Nordkorea Russland im Jahr 2024 helfen wird, wird sie einen erheblichen Mangel an verfügbarer 152-mm-Munition im Jahr 2025 nicht ausgleichen können. Inklusive der Munition für Mehrfachraketenwerfer wird vermutet, dass Russland pro Jahr insgesamt drei Millionen Schuss Artilleriemunition an die Front werfen könne.

Geduld gefragt: Der Westen hofft, dass Putin demnächst die Puste ausgeht

DefenceNetwork sieht die Zahlen kritischer: Soll und Ist stimmten keineswegs überein: „Einerseits vermelden Putin und sein Propaganda-Apparat eine Rekordzahl nach der anderen, andererseits verlieren diese bei genauerer Betrachtung deutlich an Glanz“, schreibt David Linnemann. Forbes beziffert die Steigerung des russischen Militärhaushalts auf mittlerweile 6,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Damit steigt der Militäretat in diesem Jahr um rund 70 Prozent gegenüber 2023 und beträgt ungefähr 108 Milliarden Euro. Die Etats der Nato-Staaten kommen insgesamt auf mehr als 1.200 Milliarden Euro; der Etat der Ukraine auf ungefähr 40 Milliarden Euro – fast die Hälfte des ukrainischen Haushalts.

Linnemann rechnet damit, dass alle Seiten auf Zeit spielen, bis Russlands Rüstungsindustrie die Puste ausgeht. Analysten gehen davon aus, dass das Land spätestens von 2026 an mit der Produktion von Munition an seine Grenzen kommt. Mit Blick auf die nackten Zahlen seien die Verbündeten der Ukraine besonders in Bezug auf ihre finanziellen Mittel Russland weit überlegen – nur: Die Produktion laufe hierzulande deutlich schleppender an und – wenn einzelne Positivbeispiele wie Dänemark und Deutschland außen vor bleiben – bunkern viele Staaten in der aktuellen sicherheitspolitischen Lage eher, als der Ukraine zur Verfügung zu stellen, was sie verfügbar hätten, klagt Linnemann in DefenceNetwork. „Was bringt es, von gestiegener Munitions-Produktion in Russland zu sprechen, wenn absolute Zahlen unter Verschluss bleiben und selbst das Bekannte nicht das Benötigte deckt?“

Das alte Kanonenrohr erlebt in der Ukraine jedenfalls eine unerwartete neue Blüte – die Artillerie spielt plötzlich wieder die Schlüsselrolle auf den mehrere Hundert Kilometer langen Frontabschnitten. Damit hat auch der schlichte Lastwagen ein neues Gewicht bekommen, wie die Neue Zürcher Zeitung bereits nach einem Jahr Krieg herausgehoben hatte. „2019 stellte ein schwedischer Bericht fest: Der russischen Armee mangle es zwar nicht an Feuerkraft für eine grosse militärische Expedition, aber an Transportkapazität. Kurz vor der Invasion rechnete der US-Militärexperte Alex Vershinin aus, dass sie sich nur eine Tagesfahrt von ihren Depots entfernen kann, bevor die Versorgung zusammenbricht. Der simple Grund: zu wenig Lastkraftwagen.

Laienhafte Logistik: Der Invasionsarmee fehlt die Transportkapazität für effizienten Nachschub

Laut RUSI funktioniere die Russen-Logistik so: Zivile, auf gute Straßen angewiesene Laster brachten den Nachschub von den Bahnhöfen bis zur rückwärtigen Front. Erst da übernahmen Militärlaster. Doch selbst so, berechneten schwedische Militärlogistiker, brauchten die Russen die Hälfte ihrer Fahrzeuge nur für den Munitionstransport von den Bahnhofsdepots zur Front. Laut der Süddeutschen Zeitung hat sich die Zahl der Zulassungen von LKW in Russland zwischen 2019 und Ende 2023 von 6.000 auf 14.000 erhöht. Den Bedarf deckt offensichtlich China.

Deshalb macht die Ukraine weiterhin Jagd auf Transportfahrzeuge. Der US-General Omar Bradley soll im Zweiten Weltkrieg gesagt haben: „Amateure reden über Strategie, Profis über Logistik.“ (kh)

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