„Ist nicht so“: Verband warnt vor teurer Wissenslücke bei Kosten im Pflegefall

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Droht der Pflegekollaps? „Deutschland hat in der Zukunft ungefähr ein Drittel mehr Menschen zu pflegen als heute“, sagt der Arbeitgeberverband Pflege im Interview.

Isabell Halletz und Thomas Greiner haben einen Kurzen mitgebracht. „Lauterbacher Tropfen“ steht auf dem Etikett des giftgrünen Magenbitters mit 40 Prozent Alkohol. Die Führungsspitze des Arbeitgeberbands Pflege bezieht sich auf diese Weise auf die Pflegepolitik der Ampel rund um Gesundheitsminister Karl Lauterbach. Mit der waren sie alles andere als zufrieden. „Den Schnaps ansetzen, schnell runterspülen und weg damit“, sagt Geschäftsführerin Halletz.

„Frohes Fest wünscht der Arbeitgeberverband Pflege“: Isabell Halletz und Thomas Greiner verschenken einen „Lauterbacher Tropfen“
„Frohes Fest wünscht der Arbeitgeberverband Pflege“: Isabell Halletz und Thomas Greiner verschenken einen „Lauterbacher Tropfen“. Das Interview führten wir vor Weihnachten. © Jon Lasse Schmitt/IPPEN.MEDIA

Halletz und Verbandspräsident Thomas Greiner sprechen im Interview mit IPPEN.MEDIA über die „organisierte Unverantwortlichkeit“ im Gesundheitssystem und die Lösungen, die die Politik dazu parat hat. Der SPD attestieren sie einen „Horrorkatalog“, mit den Ideen der Grünen würden die Kosten weiter steigen. Braucht es stattdessen eine neue Pflichtversicherung?

Ein Drittel mehr Pflegende in Deutschland – und „ein kaum beachtetes Problem“

Was wünschen Sie sich für die Pflegepolitik im neuen Jahr?

Halletz: Nach der nächsten Bundestagswahl muss Pflege an erster Stelle stehen. Wir brauchen endlich den Fokus auf die Pflegeunternehmen. Denn ohne gesunde und gut wirtschaftliche Pflegeunternehmen gibt es auch keine gute Versorgung in Deutschland.

Greiner: Wir fordern daher ein eigenes Pflegeministerium, losgelöst vom Gesundheitsministerium. Im Gesundheitssystem gibt es eine organisierte Unverantwortlichkeit von zig Akteuren – von den Kassen zu den Ländern und dem Bund – die sich selbst blockieren. Das System ist nicht mehr steuerbar. Und das in einer Zeit, in der es immer mehr Pflegende geben wird.

Können Sie da konkrete Zahlen nennen?

Greiner: Deutschland hat in der Zukunft ungefähr ein Drittel mehr Menschen zu pflegen als heute. Heute werden 5,1 Millionen gepflegt, bis 2030/2035 werden es mehr als sieben Millionen sein. Es wird nicht ohne stationäre Versorgung gehen. Das verdrängt die Politik gerne. Ein kaum beachtetes Problem bei Bedarfsanalysen sind die vielen Single-Haushalte.

Weil Singles keine Familienangehörigen haben, die sich um sie kümmern?

Greiner: Ja, oder weil sie woanders, weiter weg leben. Derzeit gibt es etwa 40 Prozent Single-Haushalte in Deutschland. Die Politik tut sehr viel für die Pflege von Angehörigen, zum Beispiel mit dem Pflegegeld. Das ist wunderbar. Aber was ist, wenn die Angehörigenpflege nicht möglich ist. Das verdrängt die Politik völlig.

Dann muss es die stationäre Pflege richten. Wie viel kostet ein Pflegeplatz?

Greiner: Aktuell sind wir bei einem Eigenanteil von etwa 3100 Euro im Monat im Bundesschnitt. In der stationären Pflege fallen zwar viele Kosten weg, etwa für die Miete oder Lebensmittel. Trotzdem kann sich das nicht jeder leisten.

Halletz: Viele denken: Die Pflegekasse übernimmt alle Kosten im Pflegefall. Das ist nicht so, sie übernimmt nur einen Teil. Den anderen Teil muss man aus privaten Mitteln tragen.

Beitrag für Pflegekasse steigt: „Armutszeugnis“

Zum Jahreswechsel soll der Beitragssatz in der Pflegeversicherung von 3,4 auf 3,6 Prozent steigen. Zu viel? Zu Wenig?

Halletz: Es ist ein Armutszeugnis, dass die Politik nur eine Antwort auf die steigenden Kosten hat: Beiträge erhöhen. Es war ja absehbar, dass die Kosten und die Ausgaben für Pflege weiter steigen werden. Man hätte sich also viel früher über eine echte Pflegereform Gedanken machen müssen.

Im Wahlprogramm der Parteien geht es auch um die Pflegeversicherung. Die Union will ein dreistufiges Pflegemodell, inklusive „mehr individueller Eigenvorsorge“. Wie finden Sie diesen Ansatz?

Halletz: Das Umlageverfahren wird in Zukunft nicht mehr finanzierbar sein, allein schon wegen der sich umkehrenden demografischen Pyramide. Weil immer mehr Menschen pflegebedürftig werden, wird es die erwerbstätige Bevölkerung gar nicht mehr schaffen, diese hohen Kosten auch zahlen zu können. Es wird künftig nicht mehr ohne Eigenleistung gehen.

„Egal, ob freiwillig oder durch eine Pflicht“: Pflegeverband für neue Versicherung

Wie viel sollten junge Menschen im Monat für die Pflege weglegen?

Greiner: Mit zehn Euro im Monat für eine private Zusatzversicherung ist die Pflege in Zukunft ausreichend abgesichert. Egal, ob das nun freiwillig passiert oder durch eine Pflicht.

Durch eine Pflicht? Also eine zusätzliche Pflegeversicherung?

Halletz: Ja, eine neue, zusätzliche Absicherung. Die CDU schlägt aber auch eine betriebliche Pflegeversicherung vor. In dem Fall sorgt der Arbeitgeber dafür, dass zusätzliches Geld in die private Pflegevorsorge eingezahlt wird. Unabhängig davon kann man laut unseren Berechnungen die Kosten für die stationäre Pflege um bis zu 1.000 Euro Eigenanteil senken, etwa wenn die medizinische Behandlungspflege von der Krankenkasse gezahlt wird, sowie es für die Pflege im eigenen Zuhause geregelt ist, oder die Länder und Kommunen die Investitionskosten übernehmen und auch die Ausbildungskosten.

Die Führungsriege des Arbeitgeberverbands Pflege im Interview mit IPPEN.MEDIA.
Die Führungsriege des Arbeitgeberverbands Pflege im Interview mit IPPEN.MEDIA. © Jon Lasse Schmitt/IPPEN.MEDIA

Bundestagswahl-Programm zu Pflege: „SPD-Horrorkatalog“, Grünen-Plan „zu teuer“

Die SPD will die Eigenanteile sogar auf 1000 Euro deckeln.

Greiner: Ja, wunderbar. Nur: Wer bezahlt den Rest? Da finden Sie keinerlei Aussagen dazu in diesem SPD-Horrorkatalog, der garantiert zu mehr Wartelisten führt. Wer ein Pflegeheim baut, soll bei der SPD nur 80 Prozent der Kosten bezahlt bekommen. Mir fehlt da die Ehrlichkeit. Alle Leistungen in der Pflege müssen bezahlt werden, das wird systematisch verschleiert.

Die Grünen sprechen in Ihrem Wahlprogramm von einer „Pflegebürgerversicherung mit einem Ausgleich zwischen gesetzlicher und privater Pflegeversicherung“. Kern ist, dass reiche Menschen mehr für Pflege und Gesundheit zahlen als ärmere. Wäre das ein Modell?

Halletz: Nein, das wäre zu teuer. Die Zahl der Erwerbstätigen sinkt. Sowohl die Deckelung des Eigenbeitrags als auch eine Pflegebürgerversicherung ist mit Blick auf die demografische Entwicklung nur Wunschdenken, aber nicht umsetzbar. Die nächste Erhöhung des Pflegeversicherungsbeitrags wurde erst beschlossen und ist keine nachhaltige Lösung für die davongaloppierenden Kosten in der Pflege. Wie hoch soll die Abgabenlast der Beschäftigten noch werden, um die Versorgung der rasant wachsenden Zahl pflegebedürftiger Menschen finanzieren zu können? Darauf muss die Politik endlich eine Antwort finden, damit sich das Arbeiten in Deutschland überhaupt noch lohnt.

Greiner: Die Grünen denken immer von der Erlösseite, nie von der Kostenseite. Hauptsache mehr Geld ins System. Irgendwo wird es schon versickern. Sie fordern auch einen höheren Personalschlüssel. Ich übersetze das mal: Durch mehr Personal werden die Kosten weiter steigen. Das muss ja auch jemand bezahlen. Mehr Personal ist nicht die Lösung.

Die überarbeitete Pflegekraft würde mit Sicherheit widersprechen.

Halletz: Pflegekräfte wollen hier entlastet werden. Dazu braucht es nicht zwingend mehr Personal, sondern die Pflege muss von fachfremden Aufgaben entlastet werden.

Greiner: Wir werden nie mehr mehr Personal und mehr Geld in Pflege haben als heute. Deshalb weg mit Personalschlüsseln und Quoten. Fokus auf Ergebnisqualität. Wir setzen z.B. das Personal falsch ein. Wir müssen die Arbeit anders organisieren. Eine Fachkraft hat nicht Essen zu reichen, Leute zu waschen oder Menschen beim Toilettengang zu begleiten. Dafür brauche ich keine dreijährige Ausbildung. Durch Flexibilität und weniger Bürokratie werden wir mit weniger Personal mehr alte Menschen pflegen müssen. Auf diese Art müssen wir auch Personal abbauen.

Und zwar?

Greiner: In Deutschland arbeiten über 6.000 Pflegekräfte beim medizinischen Dienst und bei der Heimaufsicht. Sie machen im Grunde dasselbe, dabei könnte man beide Organisationen zusammenlegen. Diese Pflegekräfte könnten ans Bett und würden nicht andere vom Arbeiten abhalten.

Interview: Andreas Schmid

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