Wissenschaftler sicher: „Wokeness kann keine zehn Jahre mehr durchhalten“
Der Wissenschaftler Norbert Bolz sieht einen „kulturellen Bürgerkrieg“ in Deutschland, der von linksgrün ausgehe. Gleichzeitig glaubt er ans Ende der „Wokeness“, wie er im Interview erklärt.
Normal. Was ist schon normal? Der Medienwissenschaftler Norbert Bolz widmete dieser Frage ein ganzes Buch und fordert in seinem neuesten Werk die Rückkehr „zur Normalität“. Laut Bolz hat sich das Normale in jüngster Vergangenheit verändert. „Wer Ansichten vertritt, die vor 20 oder 30 Jahren selbstverständlich waren, gilt heute als krank oder rechtsextrem“, sagt der 72-Jährige. im Interview mit dem Münchner Merkur von Ippen.Media. Der Grund: „Alle Themen der Political Correctness und der Wokeness.“

Medienwissenschaftler Bolz: „Plötzlich gilt das als toxische Normalität“
Herr Bolz, Ihr Buch heißt „Zurück zur Normalität“. Was ist für Sie normal?
Normal ist das, was sich in der Evolution der modernen Gesellschaft bewährt hat. Es ist das, worauf man sich verlassen kann, was zur Selbstverständlichkeit geworden ist und was funktioniert. Im Wesentlichen ist Normalität eine kulturelle Errungenschaft. Wir werden nicht in die Normalität hineingeboren, sondern wir müssen sie uns über Jahrhunderte und Jahrtausende erarbeiten. Lange Zeit war der Begriff auch nicht diskussionswürdig, weil es eben um Selbstverständlichkeiten ging. Erst in jüngster Zeit hat man begonnen, diese Selbstverständlichkeiten der Normalität infrage zu stellen.
Welche Selbstverständlichkeiten werden denn konkret infrage gestellt?
Das berühmteste kontroverse Beispiel ist die Zweigeschlechtlichkeit. Daran hat bis vor Kurzem niemand gerüttelt. Mittlerweile gilt die Annahme von zwei Geschlechtern als engstirnig, borniert oder bösartig. Die Grundthese meines Buches ist, dass die Normalität selbst pathologisiert wird. Die Grünen sprachen sogar von „toxischer Normalität“. Damit werden alle Formen von Bürgerlichkeit als giftig oder gefährlich dargestellt. Da gibt es etliche andere Beispiele.
Welche?
Zum Beispiel das Gendern. Die Selbstverständlichkeit im Umgang mit dem generischen Maskulinum wurde in der deutschen Sprache jahrhundertelang kaum infrage gestellt. Plötzlich gilt auch das als toxische Normalität. Im Grunde haben alle Themen der Political Correctness und der Wokeness diesen gemeinsamen Nenner: die Pathologisierung des Normalen.
Sie sprechen von Pathologisierung. Werden diese Ansichten auch als „rechts“ bezeichnet?
Ja, mittlerweile gilt das als dasselbe. Wer Ansichten vertritt, die vor 20 oder 30 Jahren selbstverständlich waren, gilt heute als krank oder rechtsextrem.
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Woke, Gendern, LGBTQ: „Solche Entwicklungen werden kollabieren“
Gewisse gesellschaftliche Ansichten sind im Wandel, neben Sprache etwa auch die Rolle der Frau. Ist es nicht grundsätzlich gut, dass selbstverständliche gesellschaftliche Dinge hinterfragt werden und wir uns dadurch weiterentwickeln?
Klar ist es das. Man könnte hier auch die Normalisierung und Gleichstellung von Homosexuellen nennen. Vor nicht allzu langer Zeit war Homosexualität noch ein Straftatbestand. In einem langwierigen Prozess, ähnlich der Emanzipation der Frau, entwickelte sich das Allgemeinbewusstsein zu der Einsicht, dass die bisherige Handhabung eine Fehleinschätzung war und man es zukünftig anders machen wird. Das ist ein positives Beispiel für Veränderung. Die Negativ-Variante wäre die Perversion dieser Entwicklung.
Was meinen Sie damit?
Die Queer-Theorie oder die Idee von unendlich vielen Geschlechtern. Das ist ein zentrales Thema des Wokeismus. Modernisierung wird zur Perversion, was man auf vielen gesellschaftlichen Ebenen beobachten kann. Denken Sie an den Umweltschutz. Die Grünen haben ihn als politische Idee etabliert. Aber daraus wurde die Perversion dieser Idee: eine absurde, unbegründete Energiewende und die große grüne Transformation. Ähnliches gilt für den Sozialstaat, eine der großartigsten Ideen Nachkriegsdeutschlands. Doch auch hier wurde aus der Idee eine Perversion, bis hin zu den heutigen Formen des Bürgergelds.
Sie sprechen von Perversion, aber werden die Dinge, die Sie beschrieben haben, etwa queere Lebensformen, nicht auch irgendwann „normal“ sein?
Das glaube ich nicht. Solche Entwicklungen, wie auch der überforderte Sozialstaat, werden irgendwann kollabieren. Der Wokeismus ist meiner Meinung nach schon über seinen Zenit hinaus und befindet sich im Niedergang. Die zunehmende Lautstärke der Bewegung ist ein Zeichen der Verzweiflung darüber, dass es nicht funktioniert und die Hegemonie der Linken schwindet.
Wenn Sie sagen, die Linke sei am Ende, wie passt das zu den Wahlergebnissen, wo die Linke bei der Bundestagswahl stark zugelegt hatte?
Man muss zwischen parlamentarischen und gesellschaftlichen Vorgängen unterscheiden. Das Parlament bildet unsere Gesellschaft meiner Meinung nach schon lange nicht mehr ab. Die Parteien haben ein Eigenleben entwickelt und teilen die Macht unter sich auf, oft unter Ignorierung des Wählerwillens. Die letzten Wahlen hatten eine eindeutige rechte Mehrheit, die sich aber aufgrund des Verhaltens der CDU politisch nicht abbildet. Das führt dazu, dass sich immer mehr Leute fragen, was sie überhaupt noch wählen sollen. Man muss also Parteien von den Wählern trennen.

Sie haben lange Medienwissenschaften gelehrt. Decken die Medien das „normale“ Bild ab, das Sie in Ihrem Buch zeichnen?
Eben nicht. Das gehört zu den bedrückenden Entwicklungen. Die beiden Instanzen, die kritisch sein müssten – Journalisten und Wissenschaftler – machen ihren Job schon lange nicht mehr. Es gibt brillante Journalisten, vor allem außerhalb des öffentlich-rechtlichen Systems, aber immer mehr verstehen sich als politische Aktivisten und Erzieher der Nation. Das Gleiche gilt zunehmend für Wissenschaftler.
Sie schreiben in Ihrem Buch: „Normal ist das, was sich von selbst versteht“. Wer entscheidet denn, was sich von selbst versteht?
Sehr gute Frage: niemand. Deshalb ist der Begriff der evolutionären Errungenschaft zentral. Es sind Dinge, die sich in der gesellschaftlichen Evolution im Gebrauch bewähren.
Das heißt, dass Normalität immer das ist, was sich für die Mehrheitsgesellschaft bewährt. Ist es dann nicht gut, dass es Menschen gibt, die sich für Minderheiten einsetzen?
Natürlich. Aber diese Minderheiten müssen mit ihren Anliegen mehrheitsfähig werden. Das werden sie, wenn es vernünftige und produktive Ideen sind. Zudem gibt es in einer Gesellschaft so etwas Sittlichkeit, die dafür sorgt, dass wir Dinge gut finden, die uns nicht persönlich nutzen.
Zum Beispiel?
Nehmen Sie unseren vorbildlichen Umgang mit Behinderten: Wir räumen Menschen, mit denen wir persönlich meist nichts zu tun haben, Privilegien als Kompensation für ihr Unglück ein. Solche Haltungen gibt es gegenüber vielen Minderheiten. Aber man kann nicht durch Klagen und Jammern – dem Kern der Wokeness – einen bestimmten Status erzwingen, wie es in diesem fanatischen kulturellen Bürgerkrieg der Fall ist.
Wer führt diesen angeblichen „kulturellen Bürgerkrieg“?
Den kulturellen Bürgerkrieg führen spätestens seit der Entwicklung der Political Correctness die Linken, die sich heute Woke oder Linksgrüne nennen. Sie führen ihn auf der Ebene der Sprache, aber auch durch eine Politik der Angst, etwa mit apokalyptischen Drohungen wie der Klima-Apokalypse oder einem neuen Weltkrieg. Im Kern ist es ein Angriff auf den gesunden Menschenverstand, auf die Normalität.
Ist das wirklich ein einseitiger Kulturkampf oder gibt es nicht auch konservative oder rechte Akteure, die ebenfalls polarisieren?
Allmählich formiert sich so etwas wie ein rechter Widerstand, sicher auch durch die sozialen Medien. Konservative hatten lange das Gefühl, in der Öffentlichkeit nicht mehr vorzukommen. Das hat sich geändert, nicht zuletzt durch Trump, der eine radikale Anti-Links-Politik betreibt. Das gibt den Rechten in Europa Auftrieb.
Sie schreiben: „Am Ende wird die Wokeness die Provokation gewesen sein, die zu einer Wiedergeburt der Bürgerlichkeit geführt hat.“
Ich glaube, Wokeness ist über ihren Zenit weit hinaus und geht in die Implosionsphase über, einfach aufgrund der Absurditäten, die sich häufen. Oft ist Wokeness von ihrer Parodie nicht mehr zu unterscheiden. Wenn eine verrückte Bewegung kaum noch von ihrer Parodie zu unterscheiden ist, kann man sicher sein, dass sie nicht mehr lange läuft.
Das heißt?
Wenn das mit einem weiteren wirtschaftlichen Niedergang in Europa gekoppelt ist, könnte das zu einer neuen Besinnung bei jungen Leuten führen, ähnlich der „skeptischen Generation“ nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine Besinnung nach dem Motto: Schluss mit den Utopien und den Verrücktheiten. Lasst uns etwas Vernünftiges tun, lernen und arbeiten. Ich bin ziemlich sicher, dass die Wokeness keine zehn Jahre mehr durchhalten kann. Eher wird die Zeit knapper sein. (Interview: Andreas Schmid)