Jobcenter-Chef erklärt, wie „mafiöser“ Bürgergeld-Betrug abläuft – und wie die Aufklärung von Zufällen abhängt
Kriminelle Banden begehen Bürgergeld-Betrug. Ein Fall in Berlin zeigt: Damit das auffällt, braucht es den Zufall. Ein Jobcenter-Chef erklärt das Muster – und den Reformbedarf.
Berlin – Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) will bei der Bürgergeld-Reform „mafiösen Strukturen“ Einhalt gebieten. Wie das aussehen kann, und wie die Aufklärung des strukturell-organisierten Sozialleistungsmissbrauchs von Zufällen abhängt, zeigt ein Fall aus Berlin.
Im Bezirk Mitte wollten sich 82 neue Bewohner anmelden. Nur: Die Eigentümerin will das Gebäude in der Habersaathstraße abreißen lassen, um dort neu zu bauen. Im großen Wohnkomplex leben nur noch einzelne Mieter mit alten Verträgen. Neuvermietungen sind angesichts der Pläne ausgeschlossen.
Debatte um Bürgergeld-Betrug: Fall in Berlin sorgt für Aufsehen
Trotzdem hatten sich innerhalb kürzester Zeit 82 Personen im selben Bürgerbüro um Anmeldungen unter dieser Adresse bemüht. Dabei hatten sie Wohnungsgeberbescheinigungen, die im Layout so aussahen, wie die Formulare der ehemals beauftragten Dienstleistnungsfirma. Dabei ist die nun nicht mehr zuständig.
Das Bezirksamt ermittelte daraufhin. Der zuständige Stadtrat Carsten Spallek (CDU) erklärte der Bild, die entsprechenden Personen hätten sich nicht unter der Meldeanschrift aufgehalten. Die Behörde hat die Anmeldungen storniert und damit mutmaßlich geplanten Sozialleistungsmissbrauch verhindert – wie er „in Deutschland häufiger vorkommt“, wie es Lutz Mania, Geschäftsführer des Jobcenters in Berlin-Mitte, erklärt. Das betroffene Gebäude liegt im Zuständigkeitsgebiet seines Jobcenters.
Bürgergeld-Betrug durch Verbrecher-Netzwerk – Wohnadresse als Schlüssel
Eine Meldeadresse ist für Betrüger deshalb entscheidend, weil sie wichtigen Zugang bietet: zu Jobs, Sozialversicherungen – und eben auch dem Bürgergeld. „Menschen werden mit verschiedenen Versprechungen angeworben und nach Deutschland gebracht“, erklärte Mania im Gespräch mit IPPEN.MEDIA. Betroffen seien vor allem Menschen aus Bulgarien oder Rumänien. Ihnen werde erzählt, dass sie in Deutschland Arbeit bekommen oder von Sozialleistungen leben können.
„Die Banden halten alle Fäden in der Hand“, sagte der Jobcenter-Chef. Sie kümmern sich um gefälschte Anmeldungen, auch um Arbeitsverträge, bei welchen sie selbst häufig auch Arbeitgeber sind. „Das sind ganz geringe Einkommen, es geht hauptsächlich um den Arbeitsvertrag“, sagte Mania. „Es soll klarmachen, dass die Menschen eigentlich rechtmäßig hier sind.“ Denn: Bulgarien und Rumänien sind EU-Mitglieder – dementsprechend gilt die Freizügigkeit. Deren Staatsbürger dürfen in Deutschland arbeiten. Wer rechtlich den Arbeitnehmerstatus hat, kann dann Bürgergeld beantragen.
Bürgergeld-Betrüger bringen Menschen in Ausbeutungsverhältnisse – durch falsche Versprechen
In Wohnungen wie in der Berliner Habersaathstraße leben die Betroffenen dabei nicht. Dort wäre das gar nicht möglich gewesen. Die tatsächlichen Unterkünfte liegen „in der Hand dieser Banden“, schilderte Mania. „Dort werden die Menschen auf sehr engem Raum untergebracht und haben dafür auch zu zahlen.“ Die Betroffenen müssen demnach ihr geringes Gehalt und das Bürgergeld an „diese Strukturen abtreten, die sie ins Land geholt haben“.
„Die Banden verdienen daran, sowohl an den paar Quadratmetern, die sie vermieten, an den Jobs, die sie vermitteln, und an den Sozialleistungen, die sie abgreifen“, erklärt Mania. „Im Gesamten ist es eine Abzocke des Sozialstaates.“ Das passiere in jeder größeren Stadt schon häufiger, wobei konkrete Zahlen zu dieser Form des Bürgergeld-Betrugs schwer zu erheben seien. „Man kann es nicht quantifizieren, weil kriminelle Strukturen dahinter stehen“, sagte Mania.
Aufdeckung von „mafiösen Bürgergeld-Betrugs“ geschieht „in Großteilen rein zufällig“
„Die Aufdeckung ist in Großteilen rein zufällig“, schildert der Jobcenter-Chef das Problem im Umgang mit den Betrugs- und Ausbeutungsverhältnissen. Dazu sind die Ermittlungen ein Problem – selbst wenn den Bezirksämtern wie im Fall der Habersaathstraße ein mutmaßlicher Betrug auffällt. Das Jobcenter arbeite zwar mit den Behörden zusammen, etwa der Bezirksverwaltung, Familienkasse, dem Finanzamt oder Sicherheitsbehörden. „Die Zusammenarbeit ist immer geprägt von Auskunftsersuchen, die mehr oder minder beantwortet werden dürfen“, beschrieb Mania die aktuelle Situation.
„Was wir nicht bekommen, obwohl es das Bezirksamt hat, sind die Namen derer, die sich dort angemeldet haben“, sagte Mania. „Ein automatisierter Austausch findet nicht statt, und kann auch nicht stattfinden, weil es keine geltenden Regelungen dafür gibt.“ Obwohl der Verdacht im Mai und Juni aufgekommen sei, prüfe das Jobcenter noch immer, ob Leistungen beantragt wurden. Der Jobcenter-Chef spricht davon „immer noch in der Warteposition zu sein, Informationen über Namen zu bekommen“. Ein genaues Bild davon, wer betroffen sei, gebe es nicht. Die Kollegen seien sensibilisiert worden. „Sollte die Adresse bei einem Antrag auftauchen, braucht es eine intensive Prüfung.“
Jobcenter-Chef hofft im Kampf gegen Bürgergeld-Betrug auf neue Regierung
Dementsprechend groß ist die Hoffnung der Berliner Jobcenter auf die Anpassungen von Bärbel Bas. Im Koalitionsvertrag kündigen Union und SPD einen „vollständigen Datenaustausch zwischen Sozial-, Finanz- und Sicherheitsbehörden“ an. Auch die Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) des Zolls soll gestärkt werden. Im Idealfall, so die Darstellung des Jobcenters, würde das System des Jobcenters mit dem Einwohnermeldesystem des Bezirksamts kommunizieren und angeben, dass die gespeicherte Adresse annulliert würde.
Das würde helfen, bei der kleinteiligen Ermittlung weiterzukommen, wenn den Jobcenter-Beschäftigten verdächtige Details in Dokumenten auffallen wie verschwommene Logos. Aber auch die Stärkung des Zolls als Ermittlungsbehörde sei nötig, um mit dem Zoll „noch intensiver und häufiger arbeiten zu können, um Leistungsmissbrauch zu verhindern“, erklärte Mania. Das Jobcenter kann dabei nur Einzelfälle prüfen – erst die dazugeschalteten Sicherheitsbehörden könnten dann Netzwerke aufdecken.
Behörden brauchen „automatisiert zusammenarbeitendes Netzwerk“ gegen „mafiöse Strukturen“
„Wir brauchen auch ein sehr gut automatisiert zusammenarbeitendes Netzwerk, das gegen diese mafiösen Strukturen arbeitet“, erklärte Mania. Das schließe Sicherheitsbehörden, Finanzämter, Familienkassen, aber auch Schulen, ein.
Daneben regt Mania ein, die Frage der Arbeitnehmereigenschaft von EU-Bürgern neu zu regeln. Teilweise würden derzeit schon 100 oder 150 Euro anerkannt. Hier könne es einen Sockelbetrag geben, statt es unbestimmt stehenzulassen, wie es derzeit der Fall ist.