Im Pioneer-Interview - Ex-Außenminister Gabriel warnt nach Assad-Sturz vor „nächster Flüchtlingsbewegung“
Nach 24 Jahren an der Macht musste der syrische Diktator Baschar al-Assad das Land über Nacht verlassen. Im syrischen Bürgerkrieg sind Schätzungen zufolge eine halbe Million Menschen gestorben. Der scheinbar ewige Krieg hinterließ seine Spuren in den Innenstädten und Narben in vielen Familien.
Assads Gewaltherrschaft mit ihren vielen Günstlingen und den noch zahlreicheren Opfern – darunter auch vom Giftgaseinsatz getötete Kinder – traf anfangs auf Duldung, schließlich entzündete sich der Unmut, der sich zum Bürgerkrieg steigerte.
Assads Regime produzierte laut UNHCR rund sieben Millionen Flüchtlinge, die heute überall auf der Welt – bevorzugt in der Türkei, im Libanon und in Jordanien – Unterschlupf fanden. Fast eine Million Menschen syrischer Herkunft halten sich in Deutschland auf.
Viele von ihnen würden gern zurück, aber in welches System kommen sie? Ist das Land wirklich schon befriedet? Wer ist der geopolitische Gewinner des Umsturzes und wer der Verlierer? Und was bedeutet das Geschehen in Damaskus, 2800 Kilometer von Berlin entfernt, für Europa?
Sigmar Gabriel zum Syrien-Umsturz: „Es gibt einen großen Gewinner“
Wenn einer gedankliche Ordnung in eine Welt in Unordnung bringen kann, dann Sigmar Gabriel, ehemaliger Vizekanzler und Außenminister, heutiger Vorsitzender der Atlantik-Brücke und Aufsichtsrat bei Siemens Energy, Deutsche Bank und Rheinmetall. Eine Kurzfassung des Pioneer-Interviews zum Scharfstellen des eigenen Navigationssystems:
Pioneer: Noch ist unklar, wer in Damaskus die Führung des Landes übernimmt. Aber wer ist der geopolitische Gewinner dieser Situation?
Gabriel: Es gibt einen großen Gewinner: die Türkei. Erdoğan hat von Anfang an die Rebellen-Allianz gegen Assad unterstützt. Er war der Erste und lange der Einzige, der gesagt hat, wir müssen eine Flugverbotszone über Syrien einrichten, sonst bombardiert Assad seine eigene Bevölkerung. Was dann später auch passiert ist.
Innenpolitisch profitiert er auch: Er hat eine sehr große Anzahl syrischer Flüchtlinge im Land und wird die neue Konstellation nutzen, um sie herauszudrängen – entweder freiwillig oder mit staatlichen Mitteln. Er hat vor nicht allzu langer Zeit die Kommunalwahlen in Istanbul verloren und seine Interpretation war, dass dies eine Abwehrreaktion der türkischen Bürgerinnen und Bürger auf zu viele Flüchtlinge im Land war. Das Thema will er loswerden.
Pioneer: Auch der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat die Situation für sich zu nutzen gewusst. Richtig?
Gabriel: Er ist ebenfalls ein Gewinner. Er hat mit seinem Krieg gegen die Hisbollah dazu beigetragen, dass ein wichtiger Verbündeter des syrischen Regimes praktisch ausgefallen ist. Die Hisbollah konnte nicht mehr helfen und auch den Iran hat er mit Unterstützung der USA in die Defensive gezwungen. Damit fiel auch der zweite mächtige Verbündete Assads aus.
„Netanjahu verändert mit Erfolg die Landkarte“
Pioneer: Würden Sie so weit gehen, zu sagen: Israel hat den Nahen Osten neu geordnet?
Gabriel: Netanjahu verändert mit Erfolg die Landkarte. Im Norden Israels haben die Menschen seit vielen Jahren darunter gelitten, dass die Hisbollah da immer reingeschossen hat. Und: Netanjahu hat die Hamas zerschlagen – allerdings mit furchtbaren Opfern in der Zivilbevölkerung, das muss man dazu sagen. Wieder einmal wird die regionale Sicherheit Israels ebenso auf dem Rücken der palästinensischen Zivilbevölkerung ausgefochten wie die grausamen Ziele der islamistischen Hamas. Auch das gehört zu den bitteren Seiten der jüngsten Entwicklungen.
Pioneer: Und der große Verlierer heißt Putin?
Gabriel: Assads Sturz ist auch ein Zeichen der Schwäche Russlands. Russland ist offensichtlich überstrapaziert mit dem Krieg in der Ukraine und seiner gleichzeitigen Einmischung in die syrischen Angelegenheiten. Jetzt zieht sich Putin zurück und auf einmal steht Assad blank da.
Pioneer: Der zweite große Verlierer heißt Selenskyj, denn Putin hat sich zwischen zwei Kriegen für die Priorität Europa, also den Konflikt in der Ukraine entschieden. Kein gutes Omen für Selenskyj.
Gabriel: Die Ukraine ist aus Putins Sicht politisch viel wichtiger und er kann gerade jetzt Druck ausüben. Er wird erneut den Winter als Kriegsmittel nutzen. Aber das eigentliche Problem ist weiterhin, dass wir keine Lösung für die Sicherheit der Ukraine haben, die für Russland, Europa und die Ukraine akzeptabel wäre.
Pioneer: Wie meinen Sie das?
Gabriel: Die Auseinandersetzung geht ja nicht um Land gegen Frieden, wie hier viele glauben. Sondern es geht um die Frage: Sicherheit gegen Frieden. Selenskyj weiß, dass er die von Russland besetzten Gebiete nicht übermorgen zurückbekommen wird. Aber er fragt zu Recht: Wer garantiert mir, wenn ich mich jetzt auf einen Frozen Conflict einlasse, dass die Russen nicht, wenn sie sich erholt haben, erneut versuchen, die Ukraine zu überfallen? Und deshalb will Selenskyj in die Nato.
„Wir müssen Sorge haben, dass es eine nächste Flüchtlingsbewegung gibt“
Pioneer: Waren die USA beim Sturz des Assad-Regimes so unbeteiligt wie es scheint?
Gabriel: Man darf erwarten, dass dieser schnelle Sieg nicht ohne Unterstützung aus der Türkei, vielleicht auch aus Israel, gelungen ist. Und man darf wohl auch vermuten, dass in dieser Region nichts ohne das Wissen der Amerikaner passiert – möglicherweise auch mit ausdrücklicher Billigung und Unterstützung. Immerhin sind es US-Soldaten, die jetzt versuchen, die Kurden vor Übergriffen zu schützen. Es sind auch die USA, die derzeit einen Waffenstillstand zwischen der Türkei und den syrischen Milizen der Kurden durchsetzen.
Pioneer: Was bedeutet die Situation in Syrien für uns Europäer?
Gabriel: Wir müssen Sorge haben, dass es eine nächste Flüchtlingsbewegung gibt, falls das Land wie in Libyen nach dem Sturz des Diktators in einen neuen, andersartigen Bürgerkrieg zerfällt.
Pioneer: Also sollten wir uns mehr für die Region interessieren?
Gabriel: Das ist unsere Nachbarregion, wir sind nur durch dieses kleine Mittelmeer voneinander getrennt. Alles, was da passiert, wird am Ende Konsequenzen für uns haben.
„Großteil der Menschen aus Syrien ist nicht auf der Grundlage eines Asylantrages bei uns“
Pioneer: Die einzige Rückkopplung bislang auf die deutsche Politik ist die Benutzung des Syrien-Umsturzes für Wahlkampfzwecke. Jens Spahn will das Heimkehren mit einem Startgeld in Höhe von 1.000 Euro incentivieren, Alice Weidel fordert pauschal alle geflüchteten Syrer auf, Deutschland wieder zu verlassen. Was halten Sie davon?
Gabriel: 24 Stunden nach dem Sturz des Regimes darüber zu reden, dass man die Leute zurückführt, das finde ich vermessen. Das war ein ziemlich vorschneller Reflex von Herrn Spahn. Erstens, weil es sachlich nicht geht und zweitens, weil es nur einer Partei dient, die auf dem Thema Migration ihre Suppe kocht. Das ist die AfD.
Pioneer: Was wäre angemessen?
Gabriel: Der Großteil der Menschen aus Syrien ist nicht auf der Grundlage eines Asylantrages bei uns, sondern als Bürgerkriegsflüchtling. Viele von ihnen sind gut ausgebildet und in unsere Arbeitswelt integriert, wie der CSU-Innenminister richtig festgestellt hat. Warum sollten wir die abschieben?
Pioneer: Ihre Schlussfolgerung?
Gabriel: Einmal durchatmen, mehr erfahren über die Lage vor Ort, um dann in Ruhe so eine Debatte zu führen: Das fände ich angemessen.