Menschlichkeit bewiesen

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Bei der Eröffnung der Ausstellung in München: Justizminister Georg Eisenreich (v.l.), Uschi und Andrzej Sitkowski und die Fotografen Lydia Bergida und Marco Limberg. © Bayerisches Staatsministerium der Justiz

Der in Durach lebende Andrzej Sitkowski gehört zu den letzten lebenden „Gerechten unter den Völkern“. Er erzählt dem Kreisboten seine Lebensgeschichte.

Durach – Die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem vergibt seit 1963 den Titel „Gerechter unter den Völkern“ (‚Chassidei Umot HaOlam‘) an Nichtjuden, die während der Shoa ihr Leben aufs Spiel setzten, um Juden zu helfen. Von den insgesamt 28.217 geehrten Menschen leben heute nur noch etwa 100. Einer von ihnen, Andrzej Sitkowski, wohnt in Durach.

Die meisten Gerechten (7.232) stammen aus Polen. Mit Sicherheit einer der Gründe dafür, dass die Fotografen Marco Limberg und Lydia Bergida für ihre Ausstellung „Auf derselben Seite“ sich nach Warschau begaben, um „Die letzten der ‚Gerechten unter den Völkern‘“ zu porträtieren. In 16 Fällen waren sie erfolgreich, in einem weiteren kamen sie zu spät und konnten nur noch den Enkel der 2023 verstorbenen Jadwiga Wolf mit Erinnerungsstücken fotografieren. Die 17 Porträts und fotografischen Erzählungen wurden zunächst im Willy-Brandt-Haus in Berlin und dann im Justizpalast in München gezeigt.

„Es ist eigentlich keine große Geschichte“

Der Kreisbote hat Andrzej Sitkowski und seine Frau Uschi Ostermeier-Sitkowski in ihrem Haus besucht, um mit ihnen über die Lebensgeschichte zweier Familien zu sprechen. Von einer, die in größter Not an der Tür der anderen klopfte und der anderen, die diese, wohlwissend dass sie dafür mit dem Leben bezahlen könnte, breit aufmachte.

„Es ist eigentlich keine große Geschichte“, beginnt Andrzej das Gespräch. „Ich dachte, was wir gemacht haben, sei eigentlich normal“, erzählte er auch im Gespräch mit den beiden Fotografen. Er wurde 1928 in Warschau geboren. Sein Vater Antoni sei ein hoher Offizier bei der polnischen Polizei gewesen, erinnert er sich. Zunächst habe die Familie in einem Haus für Polizisten gewohnt, direkt an der Grenze zum jüdischen Distrikt. „Die Eltern hatten eine Angestellte, die zum Einkaufen immer in das jüdische Viertel auf der anderen Seite der Straße gegangen ist. Auf unserer Seite habe ich nie einen Juden gesehen, aber auch nie etwas gegen die Juden sagen gehört.“

„Jetzt reden wir über Juden, wir sind dann die nächsten.“

Später seien sie nach Bielany, in einen ruhigen Vorort der Stadt, umgezogen, wo der Vater ein eigenes Haus gebaut habe. Nach seinem frühen Tod lebten seine Witwe, Helene Sitkowska, ihr Vater und die beiden Kinder Andrzej und Magda bis 1944 dort. „Wir hatten keinen Kontakt zu Juden. Aber wir wussten, was im Warschauer Ghetto los war. Ich erinnere mich, wie schockiert mein Großvater und meine Mutter waren, als sie von Leuten über den Aufstand und Exekutionen im Ghetto gehört haben. Sie sagten: „Jetzt reden wir über Juden, wir sind dann die nächsten.“

Bild mit Andrzej Sitkowski in der Ausstellung
Sie machten den Unterschied: Helena und Andrzej Sitkowski. Sie retteten mehrere Leben. © Lajos Fischer

Helena sei von ihrem Nachbarn, einem blinden Masseur namens Marszałek, angesprochen worden, ob sie bereit wäre, ein fünfjähriges jüdisches Mädchen aufzunehmen, berichtet Andrzej. Sie habe sich mit ihm, damals 15 Jahre alt, beratschlagt und zugesagt. „Wir wussten, wie gefährlich es ist, Juden zu verstecken. Dass dafür die Todesstrafe angesetzt war, wurde in Warschau plakatiert.“ Was sie motivierte, erklärte er den Ausstellungsmachern so: „Zu diesem Zeitpunkt wurde unser Haus mit sechs Zimmern von drei Personen bewohnt. Wie konnten wir keinen Platz haben für ein kleines Mädchen, von dem wir wussten, dass sie in Gefahr war und dass sie wahrscheinlich sonst sterben würde? Die Wahl war einfach.“

„Nach zwei bis drei Monaten waren sie tot.“

Die kleine Hadassah hatte zu dieser Zeit bereits eine lange Odyssee hinter sich. Ihre Familie stammte aus Czestochowa (Tschenstochau). Die Eltern, Dawid und Bronisława Kozak (geb. Landau), waren dort Miteigentümer einer Fabrik, die sich auf die Herstellung von Besteck und Metallprodukten spezialisierte. Die Daten des 1930 gegründeten Betriebs findet man auf der Webseite „Virtuelles Schtetl“ des Museums für die Geschichte polnischer Juden. „Sie exportierten Silberbesteck in mehrere europäischen Länder“, sagt Andrzej. Das Familiengeschäft wurde nach der Besatzung von den Deutschen konfisziert und in eine Munitionsfabrik umfunktioniert. Die Leitung habe ein ehemaliger Angestellter namens Paulik übernommen, den die Nazis als Volksdeutschen anerkannt hätten. Möglicherweise sei er ein polnischer Jude gewesen, meint Andrzej.

Die Familie Kozak landete im Ghetto. Dank Pauliks Hilfe hätten Bronisława und ihre zwei Töchter im Herbst 1942 dieses und die Stadt verlassen können. Andrzej meint, der „Volksdeutsche“ hätte sich als „Verräter“ gefühlt und habe aus Mitleid gehandelt. Dawid habe er jedoch nicht helfen können, er sei dafür zu wichtig gewesen, erzählt Andrzej. Die Familie erfuhr erst 2017, dass Dawid zunächst nach Auschwitz kam, im Oktober 1944 nach Struthof verlegt wurde, ein Monat später im Außenlager Hailfingen landete, wo er am 16. Januar 1945 starb. Laut Günter Scheinpflug von der Stuttgarter Zeitung brachte ein Geschichtsstudent die Initiatoren der Gedenkstätte auf diese Spur. „Die Gefangenen mussten für das Militär Tunnel graben und Steine anbohren, ohne Atemschutz“, berichtet Andrzej. „Nach zwei bis drei Monaten waren sie tot. In den Lagerpapieren Dawids stand: wegen Herzprobleme gestorben.“

Versteckte soziale Netzwerke

Die erste Zeit kam Bronisława mit den Töchtern in einem Bauernhof in Józefów unter. Ihr gelang es, sich gefälschte Dokumente zu beschaffen. Sie hieß jetzt Stanisława Kruszewska, die ältere Tochter (Dobra Jenta) Marysia und die jüngere Wisia-Jadwiga. Hier tritt Dawids Schwester, Cecylia, in die Geschichte ein. Die Forschungen des Luxemburger Historikers Marten Düring haben aufgezeigt, welche Bedeutung versteckte soziale Netzwerke für den Erfolg der Helfer und dadurch für das Überleben ihrer Schützlinge hatten. Cecylia sei in Warschau als polnische Katholikin bekannt gewesen, habe also nicht ins Ghetto gemusst, erklärt Andrzej. Sie verfügte als Pianistin über ein großes Netzwerk. Als Bronisława im Dorf auf „verdächtige Typen“ aufmerksam geworden sei, die nach Juden mit falscher Identität gesucht hätten, um sie zu erpressen, habe sie sich nicht mehr sicher gefühlt. Mit Cecylias Hilfe kam Bronisława dann bei der Familie Pujkiewicz in Warschau als Haushälterin unter. Die Zahnärztin und der Ingenieur seien im Widerstand aktiv gewesen.

Die Töchter brachte ihre Tante in ein Kloster in Laski. Dass es um jüdische Kinder gehe, habe sie den Nonnen nicht mitgeteilt. „Sie sind Waisenkinder, deren Eltern im Krieg umgekommen sind“, habe ihnen laut Andrzej Cecylia erzählt. Eines Tages sei aber die Oberin auf die ältere Schwester zugegangen und habe erklärt, dass ihre Tante sie belogen hätte, das jüngere Mädchen sei nämlich Jüdin, sie müsse hier raus. „Wo sie das hernahm, wissen wir nicht. Es könnte an Hadassahs Aussehen und an der Übervorsichtigkeit der Oberin gelegen haben“, meint Andrzej. Bei Dobra Jenta mit ihren blonden Haaren und blauen Augen sei jedoch zunächst kein Verdacht aufgekommen. Cecylia brachte Hadassah dann zu Sitkowskis Nachbar Marszałek. Dieser habe auch als Klavierstimmer gearbeitet und sie dadurch gut gekannt. Und der blinde Mann, den kurz davor ein deutscher Soldat zusammengeschlagen habe, weil er ihm auf dem Gehsteig nicht aus dem Weg gegangen sei, habe dann Helena Sitkowska angesprochen. „Die beiden hatten ein gutes Verhältnis, seitdem der Masseur meine Mutter nach einer Armverletzung unterstützt hat“, sagt Andrzej. Er sei in seinem Beruf so gut gewesen, dass früher sogar der polnische Staatspräsident Ignacy Moscicki (1926-1939) zu seinen Patienten gehört habe.

Hadassas erster Lehrer

Hadassah bekam im Haus der Sitkowskis ein eigenes Zimmer und wurde wie ein Familienmitglied behandelt. Sie durfte das Haus nicht verlassen, aber in den Garten gehen, der durch eine grüne Hecke geschützt war. Andrzej brachte ihr Lesen und Schreiben bei. „Sie hat uns im letzten Sommer in Durach besucht“, erzählt Uschi Ostermeier-Sitkowski. „Die New Yorker Professorin Dr. Hadassa Kosak bezeichnet Andrzej noch immer als ihren ersten Lehrer und befragt ihn wie einen Experten zu historischen und politischen Fragen.“

Als für die Nonnen auch die Aufnahme von Dobra Jenta zu heiß geworden sei, hätten sie wieder Cecylia aktiviert. Die ältere Schwester wurde von den Sitkowskis genauso aufgenommen wie etwas später ihre Mutter Bronisława, die die Familie Pujkiewicz vor dem Ausbruch des Warschauer Aufstands (sie seien in die Vorbereitungen involviert gewesen) habe in Sicherheit bringen wollen. In der Ausstellung in München wird von jedem ein charakteristischer Satz hervorgehoben. Auf Andrzejs Tafel steht dort: „Es würde keinen Unterschied machen, ob wir eine Jüdin oder fünf von ihnen versteckten – die Strafe bleibt dieselbe.“ Auf die Frage, ob niemand Verdacht geschöpft hat, weil sie statt für drei für sechs Personen einkaufen mussten, sagt Andrzej: „Wir haben gehofft, dass sich niemand dafür interessiert.“ Dann fügt er aber hinzu: „Manche Nachbarn haben sicher etwas geahnt.“ Als einmal die Mutter Magda in den Gemüseladen geschickt habe, sei sie von der Besitzerin Petruschka gefragt worden: „Stimmt es, dass Juden bei euch im Haus sind?“ „Nein“, antwortete Magda, die von Helena und Andrzej über die Herkunft der drei „Gäste“ nicht informiert worden war.

Andrzej Sitkowski mit seiner Frau Uschi Ostermeier-Sitkowski.
In der Münchner Ausstellung: Andrzej Sitkowski (r.) mit seiner Frau Uschi Ostermeier-Sitkowski. © privat

Im Sommer 1944 ging dann Andrzej weg, er schloss sich mit fünfzehneinhalb Jahren im Warschauer Aufstand den Untergrundpfadfindern „Szare Szeregi“ (‚Graue Reihen‘) an. „Meine Mutter hat nie gesagt, dass sie es nicht wollte“, sagt Andrzej. Sie habe ihn auf jeden Fall nicht daran gehindert. In seinem Buch „Der Warschauer Aufstand 1944“ (Reclam, 2024) zeigt Stephan Lehnstaedt auf, dass in der Zeit der deutschen Besatzung die Mitglieder der Pfadfindergruppen in der Armia Krajowa (‚Heimatarmee‘) die zahlenmäßig stärkste Gruppe darstellten. Mitglieder, die nicht kämpften, organisierten bereits am zweiten Tag des Aufstands (2. August) einen Postdienst in Eigenregie.

Widerstand in der Kanalisation

Da es den Aufständischen nicht gelang, strategisch wichtige Teile der Stadt unter ihre Kontrolle zu bringen, gab es zwischen ihren Einheiten im Zentrum und anderen Stadtteilen keine direkte Verbindung. Hier übernahm die Gruppe, zu der Andrzej gehörte, die Aufgabe, über die Kanalisation den Kontakt aufrechtzuerhalten. Er habe in Zoliborz gewohnt, erzählt er. Der Danziger Bahnhof und die Bahnlinie, die unter deutscher Kontrolle blieben, trennten diesen Stadtteil von der Altstadt. „Dort waren deutsche Panzer aufgestellt und von beiden Seiten wurde geschossen“, berichtet Andrzej. „Wir haben über die Kanalisation kleine Waffen, aber vor allem Munition und Essen transportiert.“ Für den Weg, den man oben in weniger als einer Stunde zurücklegen konnte, hätten sie um die acht Stunden gebraucht. Manche Stellen seien beschädigt gewesen. „Da halfen uns Mitarbeiter des Kanalunternehmens.“ Aber die Deutschen merkten bald, was unter der Erde vor sich ging. „Sie hockten neben den Kanaldeckeln und wenn sie etwas hörten, zogen sie die Leute heraus.“ Deswegen sei das Sprechen verboten worden. „Wir waren mit einem Seil verbunden und gaben durch das Ziehen des Seils Signale.“

Andrzej erzählt auch, dass sie Zugang zu einem Wald hatten, wo polnische Einheiten stationiert waren. Dort hätten sie Lebensmittel und Munition bekommen. Lehnstaedt bestätigt, dass dichte Wälder im Norden und Süden, direkt an der Stadtgrenze als Sammelpunkte für den Nachschub und als Rückzugsmöglichkeit für die Aufständischen dienten.

Eine märchenhafte Episode

Fast märchenhaft hört sich eine Episode an, die Andrzej mit Freude erzählt: „Wir kamen auf dem Krasinskich-Platz in der Altstadt an und wurden vom dortigen Kommandeur in Empfang genommen. Die Nationalbibliothek brannte. Ein Ungar sprach uns an: ‚Ihr bekommt ein gutes Essen!‘ ‚Wo sollen wir essen? Es brennt alles!‘, entgegneten wir. ‚Das Gebäude ist groß. Wir gehen auf die andere Seite‘, lautete die Antwort. Er brachte uns zu Leuten in ungarischen Uniformen, die keine Waffen hatten und uns ein ungarisches Gulasch gaben, eine dicke Suppe, deren Geschmack ich noch immer spüre, wenn ich daran denke. Ich war erstaunt: Wir brachten ihnen Essen und bekamen ein Essen. Es gibt ein polnisches Sprichwort: „Polak, Wegier, dwa bratanki, i do szabli, i do szklanki.” /‚Polen und Ungarn sind Brüder, beim Schwert und Glas‘ (Weintrinken)/. Andrzej meint, es könnten desertierte ungarische Soldaten gewesen sein. Wir wissen, dass in der Armia Krajowa auch Menschen aus anderen Nationen kämpften, es gab sogar einen „slowakischen Zug“, und die Traditionen der gegenseitigen militärischen Hilfe zwischen Polen und Ungarn sind tief verwurzelt.

Die Kanalisation ist spätestens seit Andrzej Wajdas Film „Kanal“ zum Symbol des Aufstands geworden. Im seit 2004 eröffneten Museum des Warschauer Widerstands wurde ein Teil des Kanalisationstunnels nachgebaut. Dort findet man auch ein Bild vom jungen Andrzej. Auf Initiative des Museumsdirektors erhielt der heute 96-Jährige in diesem Sommer im Rahmen der 80-Jahre-Feier des Aufstands im Museum vom Staatspräsidenten das polnische Verdienstkreuz.

Die Kapitulation und die Folgen

Am 2. Oktober 1944 unterzeichneten General „Bogusławski“ (Franciszek Herman) und SS-Obergruppenführer Erich von dem Bach die Kapitulation. Den Aufständischen, die die Deutschen nur als „Banditen“ bezeichneten, wurde der Kombattantenstatus zugesichert. Dem Befehl des Kommandanten entsprechend schwiegen ab 17 Uhr die Waffen. „Wir marschierten geordnet zum Wilson-Platz“, erzählt Andrzej. Sie gaben die Waffen ab.

Er habe vorher in sein russisches Maschinengewehr Sand gefüllt und es dadurch kaputt gemacht. „Es war kalt und ich hatte eine deutsche Offiziersjacke an, ohne Rangzeichen“, berichtet er. Diese habe einem SS-Mann der Panzerdivision Hermann Göring gehört (Etwa 1000 von ihnen wurden in Warschau eingesetzt). „Was ist das?“, sei er von einem Deutschen gefragt worden. „Kriegsbeute“, habe er spontan der Wahrheit entsprechend geantwortet. Der Deutsche sei ärgerlich geworden. „In einer anderen Situation hätte er mich sicher erschossen, aber hier konnte er nichts machen. Er verpasste mir einen Tritt in den Hintern“, erinnert sich Andrzej. Sie hätten einen Lastwagen voll mit Uniformen im Niemandsland an der Grenze zur polnischen Zone erbeutet, indem sie den Fahrer erschossen, erzählt er die Vorgeschichte.

Im Kriegsgefangenenlager

Die Gefangenen wurden nach Deutschland transportiert. Andrzej landete zuerst im sowjetischen Kriegsgefangenenlager in Altengrabow. Für Tausende von Leuten gab es dort nur ein paar Zelte. Die kalten Oktobernächte mussten sie unter freiem Himmel verbringen. „Wir schliefen eng nebeneinander, damit wir weniger froren.“ Man habe kaum etwas zu essen bekommen und sowjetische „Polizisten“ hätten den Auftrag gehabt, die Leute zu schlagen. Er ist sicher, er hätte dort keine Überlebenschancen gehabt. Dann verlegte man sie aber in das normale Kriegsgefangenenlager Stalag XI A. „Dort lebten auch mehrere tausend Menschen, aus allen möglichen Nationen.“ Untergebracht waren sie in den Baracken der ehemaligen Garnisonstadt, sie hatten Matratzen und bekamen auch normales Essen, wenn auch wenig. 1000 bis 2000 Leute aus Zoliborz seien dabei gewesen. „Bei dem Appell suchten deutsche Unternehmen aus unseren Reihen Arbeitskräfte aus – wie beim Sklavenhandel.“ Andrzej wurde in die Zuckerfabrik Gatersleben geschickt. „Das war ein Platz von richtiger Sklavenarbeit.“ Sie arbeiteten zwölf Stunden, bekamen kaum was zu essen und waren in einem überfüllten ehemaligen Gefängnis für Kriminelle untergebracht.

„Ich hatte ein bisschen bessere Bedingungen, weil ich einer der wenigen war, der Deutsch konnte“, sagt Andrzej. Ein alter Meister in der Fabrik habe im Ersten Weltkrieg in Warschau gedient, er sei mit ihm gut ausgekommen. „Einer der beiden Wächter war ein früherer SS-Mann gewesen, der zur Strafe dorthin geschickt wurde und die Leute aus Spaß mit der Peitsche schlug.“ Der andere, ein alter Mann, habe ihn zum Arzt gebracht, als er von der Mangelernährung und von der Arbeit krank geworden sei. „Was ist mit ihm?“, habe der Doktor gefragt. „Er ist krank.“ „Bringst du nochmal einen Simulanten her, gehst du an die Ostfront oder ins KZ“, drohte dem Wächter der Arzt. Gerettet habe ihn der Meister Friedrich Wagner, der ihn in der Früh in sein Arbeitszimmer eingesperrt und am Ende der Schicht rausgelassen habe. „Nachdem der Wachmann erzählt hatte, dass der Doktor an die Ostfront geschickt wurde und für ihn ein anderer gekommen ist, sind wir wieder zum Arzt hingegangen.“ Er sei von diesem normal behandelt und nach Altengrabow zurückgeschickt worden. Dort erlebte er die Befreiung durch die Amerikaner am 3. Mai 1945.

Ein deutscher Offizier kommt zu Besuch

Davon wussten die zwei Frauen und die beiden Mädchen in Bielany lange nichts. Helena schickte ihre Tochter Magda zu Verwandten in Südpolen, noch bevor der Aufstand begann. „An einem Tag klingelte es an der Tür: Ein deutscher Offizier der Luftwaffe stand davor“, berichtet Andrzej. „Die Frauen bekamen Angst, konnten aber nichts anderes tun, als aufzumachen.“ Der Offizier habe sich vorgestellt und erzählt, dass er hier bereits mehrmals vorbeigelaufen sei. „Die Frauen und die Kinder im schönen Garten erinnerten ihn an seine Familie in Deutschland, um die er wegen der Bomben Angst hatte.“

Er habe um Erlaubnis gebeten, öfters vorbeikommen zu dürfen. „Bei den Besuchen brachte er kleine Geschenke wie Kekse mit.“ Eines Tages sei er wieder gekommen, um sie zu warnen, dass die ganze Straße abgebrannt werden soll. „Der Führer hat befohlen, dass die ganze Stadt dem Erdboden gleich gemacht wird.“ Ein paar ausgewählte Häuser seien zunächst verschont geblieben, deswegen habe er empfohlen, zu den Nachbarn zu ziehen. „Die Familie Dzierzynski nahm sie auf und sie mussten mit eigenen Augen ansehen, wie ihr Haus niedergebrannt wurde.“ Bald sei der Offizier wieder gekommen, um anzukündigen, dass das Nachbarhaus auch daran sei und er für sie nichts mehr tun könne.

Alles in Schutt und Asche gelegt

Die Deutschen legten die Stadt bewusst in Schutt und Asche. Die Häuser wurden gesprengt oder mit Flammenwerfern in Brand gesetzt. Am Ende des Krieges standen nur noch weniger als zehn Prozent der Gebäude. Lehnstaedt schätzt die Zahl der Menschen, die aus der Stadt deportiert wurden, auf mindestens eine halbe Million, etwa 100.000 aus den Vororten kamen dazu. Manchen gelang es, sich in den Ruinen zu verstecken und zu überleben, wie Władysław Szpilman, dem Roman Polanski mit seinem Film „Der Pianist“ ein Denkmal setzte.

In den Kämpfen starben 15.000 bis 18.000 Aufständische (etwa 40 Prozent der Gesamtzahl), unter ihnen auch der Ingenieur Pujkiewicz, der Bronisława Zuflucht gewährt hatte. Die Zahl der zivilen Opfer schätzt Andrzej Friszke in seiner mit Antoni Dudek zusammen veröffentlichten „Geschichte Polens 1939-2015“ (Brill/Schöningh, 2022) auf 120.000 bis 130.000, Lehnstaedt geht von 150.000 bis 180.000 aus, Andrzej Paczkowski legt sich in seiner Monografie „Pół wieku dziejów Polski 1939-1989“ (Wydawnictwo Naukowe PWN, 1995) auf 180.000 fest. Allein die Männer von Heinz Reinefarth (von 1951 bis 1964 Bürgermeister von Westerland auf Sylt!) brachten zwischen dem 5. und 7. August im Stadtteil Wola 30.000 bis 40.000 Menschen um, bei einem Massaker, dem alle wahllos zum Opfer fielen, die die Deutschen antrafen. Zu den zivilen Opfern zählt wohl auch Cecylia, die nach dem Aufstand als verschollen galt.

„Sie dachten, sie laufen zu den eigenen Gräbern“

Eine aus Bielany vertriebene Gruppe mit Helena, Bronisława, Dobra Jenta und Hadassah sei in der Nacht in einen Wald gebracht worden. „Sie dachten, sie laufen zu den eigenen Gräbern“, erzählt Andrzej. Dann hätten die Frauen einen der Wächter mit Gold und Schmuck bestochen und er habe sie gehen lassen. Sie schlugen sich bis Kielce durch. Unterwegs seien sie von manchen Bauern weggeschickt, von manchen für die Nacht aufgenommen worden. In Kielce (Die Stadt wird 1946 durch das Pogrom berüchtigt, bei dem 40 Juden ermordet und weitere 80 verletzt wurden. Viele polnische Juden verließen danach das Land.) sei Helena bei Verwandten untergekommen, habe aber dafür gesorgt, dass die Kozaks einen Unterschlupf finden.

Treffen und Leben nach der Befreiung

Nach der Befreiung von Łódz (Januar 1945) zog Helena dorthin und nahm Magda wieder zu sich. Auch von Andrzej gab es ein Lebenszeichen, wie er erzählt: „Ich habe in Gatersleben Meister Wagner gefragt, ob er mir helfen kann, dass ich einen Brief an meinen Onkel nach Łódz schicke. Er brachte mir Papier und Stift, versandte den Brief mit einem Zug, statt in Gatersleben aufzugeben. Auf seine Privatadresse kam auch eine Antwort zurück.“ Nachdem Andrzej zurückkehrte, blieb die Familie in Łódz, wo Andrzej Wirtschaftswissenschaften studierte. Später zog er nach Warschau, gründete eine Familie und arbeitete in der zentralen Administration der polnischen Straßenverwaltung. Als das kommunistische Regime sich Richtung Westen öffnete, wurde er polnischer Repräsentant eines internationalen Projekts, später arbeitete er für die UNO in Genf als Berater und Angestellter. Sein Buch unter dem Titel „UN Peacekeeping. Myth and Reality“ (Praeger Security International, 2006) bewertet die Friedenssicherung der UN kritisch.

Hadassah Kosak, Andrzej Sitkowski und Uschi Ostermeier-Sitkowski
Hadassah Kosak (Mitte) besuchte Andrzej Sitkowski und seine Frau Uschi im Allgäu. © privat

Die Kozaks kehrten nach Czestochowa zurück. Er besuchte sie in einem großen Haus, in dem mehrere jüdische Familien wohnten, erinnert sich Andrzej. Dobra Jenta wanderte 1947 nach England aus. Sie, jetzt mit dem Vornamen Marion, lebte zunächst in einer orthodoxen jüdischen Familie, die früher Geschäftskontakte zu ihren Eltern pflegte. Nach dem Schulabschluss studierte sie an der London School of Economics, später promovierte sie in Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der University of Hull. 1961 heiratete sie ihren Professor Ralph Miliband (1924-1994), eine der zentralen Figuren der Neuen Linken in England.

Ihre Söhne sind bekannte Politiker der Labour Party geworden. David war von 2007 bis 2010 britischer Außenminister, Ed von 2008 bis 2010 Energieminister. 2010 wurde er in Kampfabstimmung gegen seinen Bruder mit knapper Mehrheit zum Parteivorsitzenden gewählt, von 2010 bis 2015 war er Oppositionsführer. 2015 verlor er die Wahl gegen David Cameron und trat zurück. Im jetzigen Kabinett Starmer ist er wieder Energieminister. Andrzej und Uschi erinnern sich gerne an seinen Besuch: Auf der Reise zu den ehemaligen Orten der eigenen Familiengeschichte haben die Milibands, Eds Söhne waren damals 13 und 15 Jahre alt, auch bei ihnen Station gemacht.

Hadassahs Weg führte sie zuerst, gemeinsam mit ihrer Mutter, nach Israel. Sie leistete dort Militärdienst und studierte Geschichte und Politikwissenschaft an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Dann ging sie in die USA - ihre Mutter zog zu Marion nach London - und promovierte an der City University of New York in amerikanischer Geschichte. Sie wurde Professorin für jüdische und amerikanische Geschichte an der Yeshiva University in New York.

Bis heute regelmäßig in Kontakt

„Wir haben seit Jahren regen Kontakt mit beiden Schwestern, telefonisch und mit gegenseitigen Besuchen. Sie waren beide zusammen mehrmals hier bei uns oder wir waren in London und Hadassah kam dazu“, erzählen Uschi und Andrzej.

Auf den Vorschlag der beiden Schwestern Marion und Hadassa wurden 1995 Helena und Andrzej Sitkowski von Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern anerkannt. Im Februar 1996 wurde die Zeremonie in der Anwesenheit von Andrzej und den beiden Schwestern in Yad Vashem abgehalten. „Ich war bewegt von dem, was Yad Vashem macht, was es repräsentiert, ich habe dort etwas gelernt und bin sehr stolz, dass ich anerkannt wurde“, sagte Andrzej in seinem Interview bei der Vorbereitung der Ausstellung in München.

Der 96. Geburtstag

Was Andrzej und auch die anderen Porträtierten als Selbstverständlichkeit darstellen, war in der damaligen Zeit überhaupt keine. Andrzej Friszke beschreibt die Gründe dafür, warum die meisten Polen dem Schicksal der Juden gegenüber „eine gewisse Gleichgültigkeit“ gezeigt haben. Die antisemitischen Vorurteile, das Gefühl der Fremdheit, die Wahrnehmung der Juden als UdSSR-Sympathisanten, die NS-Propaganda und „das gewaltige Ausmaß der Repressalien, dem sich die polnische Gesellschaft selbst ausgesetzt sah“, steckte nach seiner Darstellung hinter der Haltung der meisten Polen, die Judenvernichtung sei nicht „unsere Sache“. „Jeder Einzelne hatte die Möglichkeit, das Richtige zu tun. Jeder hatte eine Wahl. Dass viel zu wenige sich in dieser dunklen Zeit für die Menschlichkeit entschieden, lässt unsere Dankbarkeit den Gerechten gegenüber nur noch wachsen. Mit ihrem Handeln sind sie zum Vorbild für die folgenden Generationen geworden und haben ein Zeichen gesetzt, das auch und besonders heute wahrgenommen werden muss“, sagte Charlotte Knobloch bei der Ausstellungseröffnung in München.

Uschi und Andrzej (seine erste Frau starb 1982) lernten sich 1984 im Urlaub in Griechenland kennen. Nach eineinhalb Jahren verloren sie sich wieder aus den Augen. Es war nicht leicht, sich zu treffen, weil Andrzej nur mit einem Durchreisevisum nach Deutschland kommen konnte. Dann führte sie der Zufall auf der gleichen Insel in Griechenland wieder zusammen. Sie heirateten 1994. Andrzej feierte mit seiner Frau Uschi vor einigen Tagen seinen 96. Geburtstag im Allgäu.

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