Studie zeigt: Bürgergeld bringt Menschen dazu, keinen neuen Job anzunehmen – lohnt sich arbeiten noch?

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Bringt das Bürgergeld Menschen dazu, keinen neuen Job mehr anzunehmen? Im Jahr 2023 blieben 30.000 Stellen unbesetzt. © IMAGO/Zoonar.com/NATEE MEEPIAN

Die zweigeteilte Grundsicherung in Deutschland sorgt für teils paradoxe Ergebnisse. Die Ampel-Koalition ist auf der Suche nach einer Lösung. Konkrete Vorschläge gibt es längst.

Berlin – Der Sozialstaat in Deutschland ist reformbedürftig. Ein Gutachten des wissenschaftlichen Beirats des Bundesfinanzministeriums empfiehlt, das Grundsicherungssystem zu vereinheitlichen. Mit Blick auf den Fachkräftemangel in Deutschland soll es sich künftig wieder lohnen, mehr zu arbeiten.

Mehr arbeiten lohnt sich nicht: „Weniger Netto, das ist ja die Absurdität“

Deutschland braucht 1,5 Millionen Zuwanderer pro Jahr, um den Fachkräftemangel auszugleichen, schätzt die Vorsitzende der Wirtschaftsweisen, Monika Schnitzer. Gleichzeitig ist die Langzeitarbeitslosigkeit vieler Menschen hierzulande eines der größten Probleme des Arbeitsmarktes. Fast eine Million Menschen sind länger als ein Jahr ohne Job. Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) ergab unlängst, dass seit der Einführung des Bürgergelds auch wegen der weicheren Sanktionen 5,7 Prozent weniger Menschen in der Grundsicherung einen Job aufnahmen. Demnach blieben 30.000 Stellen im Jahr 2023 unbesetzt.

Das IAB schlägt unter anderem vor, bessere finanzielle Anreize zu setzen, damit Menschen aus dem Bürgergeld heraus einen Job annehmen. Zudem halten die IAB-Experten geringere Sanktionen über einen längeren Zeitraum für sinnvoll. Der Ökonom Rüdiger Bachmann rät dazu, die Sozialleistungen zu vereinfachen, zu bündeln und zu verschlanken. „In manchen Fällen ist die Zusammenwirkung der verschiedenen Transfers so, dass es sich überhaupt nicht lohnt, einen Euro mehr zu verdienen – oder 100 Euro mehr zu verdienen“, kritisiert Bachmann im Interview mit „Lage der Nation“. „Weil am Ende habe ich dann weniger Netto raus, das ist ja die Absurdität. Das sollte man mal als Allererstes beseitigen.“

Höhere Regelsätze und der steigende Mindestlohn verschieben immer mehr Menschen in den Einkommensbereich einer 100-prozentigen Anrechnung, kritisiert auch der Ökonom Andreas Peichl. „Das führt dazu, dass sich mehr Arbeiten immer weniger rechnet“, so Peichl laut Wirtschaftswoche. Statt also schleichend vom Bürgergeld in die Erwerbstätigkeit zu finden, ist das Gegenteil der Fall: Die Menschen reduzieren ihre Arbeitszeit. Konkret schlägt der Experte vor, Sozialleistungen bis zu einer Verdienstgrenze von 2.000 Euro nur zu 70 Prozent zu kürzen.

Sozialsystem effizienter gestalten: Diese Vorschläge gibt es

Das Sozialsystem in Deutschland ist zweigeteilt: einerseits das Bürgergeld, andererseits Wohngeld, Kindergeld und Kinderzuschlag. Diese verschiedenen Grundsicherungssysteme „führen zu Abstimmungsproblemen, da sie unterschiedlich hohe Fürsorgeleistungen gewähren und diese nach unterschiedlichen Kriterien mit dem Einkommen der Anspruchsberechtigten verrechnen“, hieß es im vergangenen September in einem Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats des Bundesfinanzministeriums. „Angesichts der Komplexität der beiden Systeme [...] sei es für den Einzelnen gar nicht mehr ersichtlich, welchen Anteil seines zusätzlichen Bruttoeinkommens“ jemand behalten könne und welchen nicht, so das Gutachten weiter.

Es gebe ungleiche und intransparente Arbeitsanreize und regional unterschiedliche Lebensstandards. Der Wissenschaftliche Beirat hat auch konkrete Vorschläge, das Problem zu lösen: Die Experten schlagen ein einheitliches Grundsicherungssystem vor. Die noch ausstehende Reform der Kindergrundsicherung könne dazu genutzt werden, die zweigeteilte in eine einheitliche, in sich konsistente Grundsicherung überführen, hieß es. Kurz gesagt soll das Bürgergeld künftig den alltäglichen Bedarf für Erwachsene decken, die Kindergrundsicherung den alltäglichen Bedarf für Kinder und das Wohngeld sowie Unterkunftskosten sollen in einen Posten übergehen.

„Eine einheitliche Grundsicherung würde transparent machen, was Leute bekommen – und in Verbindung mit besseren Hinzuverdienstmöglichkeiten dafür sorgen, dass es sich lohnt, mehr zu arbeiten“, sagt Ronnie Schöb, Professor für Finanzwissenschaft an der Freien Universität Berlin der Wirtschaftswoche. „Unsere Sozialsysteme sind [...] sehr komplex geworden und haben oft paradoxe Ergebnisse“, hieß es von Finanzminister Christian Lindner (FDP) im Interview mit der Augsburger Allgemeinen. Es gebe in Deutschland „zwei parallel existierende Sozialsysteme“, die nicht aufeinander abgestimmt seien, hatte auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) unlängst kritisiert. Derzeit sucht die Ampel-Koalition nach Reformen und Lösungsansätzen.

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