Holland-Brandmauer gegen Wilders wirkt – aber anders als die deutsche gegen AfD

FOCUS online: Bei der Parlamentswahl in den Niederlanden liegt die bisherige Regierungspartei PVV mit Geert Wilders gleichauf mit der sozialliberalen D66 auf dem ersten Platz. Zugleich haben die Rechtspopulisten so viele Sitze verloren wie keine andere Partei. Wie nehmen Sie die Stimmung in den Niederlanden nach diesem zweischneidigen Ergebnis wahr?

Max Dahlmer: Fast alle Wählerinnen und Wähler haben es satt, dass die Parteien sich in den vergangenen Jahren in Streit verzettelt und keine Ergebnisse geliefert haben. Insofern gibt es bei vielen Erleichterung über das Ergebnis, dass mit Spitzenkandidat Rob Jetten eine frische Kraft Wahlsieger ist. Gleichwohl gibt es in den Niederlanden weiter viele Wähler, die sich rechte Politik wünschen und Geert Wilders gerne stärker gesehen hätten.

Weil die Wilders-Partei geschrumpft wurde, steht jetzt die Frage im Raum, was Deutschland von den Niederlanden im Umgang mit Rechtspopulisten lernen kann. Beginnen wir ganz vorne: Die vergangenen zwei Jahre hat die PVV zusammen mit drei kleineren Parteien regiert. Haben sich die Rechtspopulisten dabei entzaubert, wie sich das manche für eine Regierungsbeteiligung der AfD erhoffen?

Dahlmer: Die vergangene niederländische Regierung ist da ein Spezialfall. Nach der vergangenen Wahl sind die Spitzenkandidaten der Parteien nicht in die Regierung eingetreten, damit auch Wilders als Person nicht Teil davon wird. Klar, seine PVV hat regiert, aber viele Wählerinnen und Wähler verbinden das nicht so sehr mit Wilders. Daraus lässt sich also wenig für eine mögliche Regierungsbeteiligung der AfD ableiten.

Brandmauer gegen Wilders hat bei Niederlade-Wahl gewirkt

Die Wilders-Partei hat die Regierung im Sommer platzen lassen, weshalb es zu den vorgezogenen Neuwahlen kam. Was sagt der Rückzug der PVV aus der Verantwortung über die Verlässlichkeit von rechtspopulistischen Parteien in Regierungen aus?

Dahlmer: Zumindest für die Niederlande kann man festhalten, dass Wilders kein verlässlicher Regierungspartner ist. Das war er schon nicht, als die PVV von 2010 bis 2012 eine Minderheitsregierung toleriert hat, und das war er auch diesmal nicht. Wilders und womöglich auch andere Rechtspopulisten sind nicht verlässlich, wenn sie merken, dass sie ihre Positionen nicht durchgesetzt bekommen oder dass sie in Umfragen schlecht dastehen.

Vor dieser Wahl haben anders als bei der vorherigen alle großen Parteien eine Koalition mit Wilders ausgeschlossen. Was lässt sich aus diesen beiden Wahlen mit unterschiedlichen Brandmauer-Strategien für Deutschland lernen?

Dahlmer: Das ist für mich der wichtigste Punkt bei dieser Wahl: Die Brandmauer scheint zu funktionieren. Zwar kann man in den Niederlanden nicht im gleichen Maß von einer Brandmauer sprechen, wie in Deutschland, dennoch gab es schon nach 2012 eine klare Abgrenzung zu Wilders. Den Wählern war dadurch klar, dass eine Stimme für die PVV immer nur eine Stimme für die Opposition ist. Das hat die Partei bei manchen Wählerinnen und Wählern unattraktiv gemacht. Bei der vergangenen Wahl haben die Parteien aber damit gebrochen. Plötzlich wussten die Wähler, dass sie mit einer Stimme für Wilders echten Einfluss auf die Regierungsbildung nehmen können, sie hat das motiviert, für die PVV zu stimmen. Jetzt wurde die Abgrenzung wiederhergestellt – wenn auch etwas anders als in Deutschland.

Niederlande-Brandmauer: "Abgrenzen, aber nicht verteufeln"

Was unterscheidet die niederländische von der deutschen Brandmauer?

Dahlmer: Man grenzt sich ab, aber verteufelt nicht. In den Niederlanden ist zum Beispiel der persönliche Umgang mit Wilders ein anderer als etwa der mit AfD-Chefin Alice Weidel in Deutschland. Niederländische Politiker scheuen sich nicht, vom "Kollegen Wilders" zu sprechen oder mit ihm zu scherzen. In Deutschland wäre das kaum vorstellbar.

Aber wie gehen die Parteien dann mit rechtspopulistischen bis rechtsextremen Provokationen um?

Dahlmer: Beispielsweise hat Wilders wenige Tage vor der Wahl in einer Talkshow vorgeschlagen, die Mehrwertsteuer auf null zu setzen und zur Finanzierung die Entwicklungshilfe zu streichen. Er sagte, dann gäbe es vielleicht mehr Hunger in Afrika, aber nicht mehr in den Niederlanden. In Deutschland wäre danach wochenlang darüber diskutiert worden, wie rechtsradikal diese Aussage ist und ob es jetzt ein Verbotsverfahren gegen die Partei braucht.

Und wie war die Reaktion in den Niederlanden?

Dahlmer: Gelassener. Die Talkshow-Moderatorin hat die Aussage einmal wiederholt und damit die Menschenverachtung, die darin steckt verdeutlicht. Danach war das Thema aber durch. Die Vertreter der anderen Parteien sind nicht empört darauf eingegangen, ihnen war es nicht wert, Wilders die Bühne zu geben, sie wollten lieber über ihre eigenen Themen sprechen.

Migration war weniger wichtig – Wilders konnte Stärke nicht ausspielen

Im deutschen Bundestagswahlkampf wurde viel über Migration gesprochen. Manche Experten warnten damals, das spiele nur der AfD in die Karten. Welche Rolle hat das Thema bei der Niederlande-Wahl gespielt?

Dahlmer: In den Niederlanden verbindet jeder das Thema Migration mit Wilders. Bei der Wahl vor zwei Jahren hat die PVV deshalb davon profitiert, dass es das größte Thema in den Debatten war. Diesmal hat es immer noch eine wichtige Rolle gespielt, aber es gab mit dem Gesundheitssystem und vor allem der Wohnungskrise zwei ebenfalls sehr wichtige Themen. Die anderen Parteien haben auch gezielt weniger über Migration gesprochen, damit Wilders seine Stärke nicht ausspielen kann.

Über Max Dahlmer

Max Dahlmer ist Politikwissenschaftler am Zentrum für Niederlande-Studien der Universität Münster. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf der niederländischen und deutschen Medienlandschaft, Zeitgeschichte und Europapolitik. 

Und welche Rolle hat die Positionierung der Parteien zum Thema Migration gespielt?

Dahlmer: Ihre eigenen Positionen zum Thema Migration haben die meisten Parteien verschärft, um Wähler aus dem rechten Spektrum zurückzugewinnen. Der Wahlgewinner D66 hat sich moderat migrationskritischer geäußert. Bis auf die ganz linken Parteien waren sich alle einig: Wir müssen die Zahl der Menschen, die in die Niederlande kommen, begrenzen. Ich denke, das kann durchaus eine Rolle gespielt haben dabei, Wilders Wind aus den Segeln zu nehmen.

"Es ist möglich": Positive Erzählungen haben verfangen

Mit welcher Strategie konnte Wahlgewinner Rob Jetten von D66 überzeugen?

Dahlmer: Wie schon erwähnt, waren die Niederländerinnen und Niederländer vom Dauerstreit genervt – fast ein bisschen wie in Deutschland vom Ampel-Streit. Deshalb hat es sehr verfangen, dass Jetten eine positive Erzählung gesponnen hat. Sein Wahlkampfslogan war dementsprechend: "Es ist möglich." Das war nicht nur bezogen auf einen potenziellen Wahlsieg, sondern auch auf das Lösen von Problemen. Wie übrigens auch der Spitzenkandidat der christdemokratischen CDA hat Jetten nicht darauf gesetzt, die polarisierendsten Thesen rauszuhauen, sondern zu schauen, wie das Land wieder geeint werden kann.

Was bedeutet das für Deutschland?

Dahlmer: Sollte sich das als allgemeingültiges Muster erweisen, könnte man sagen, dass die Parteien eigene Narrative abseits der AfD stricken müssen. 

Lehre für die AfD: Die Brandmauer muss fallen

Welche Rolle beim Wahlsieg hat Rob Jetten selbst gespielt?

Dahlmer: Er ist so etwas wie ein Anti-Wilders. Er ist jung, mit einem Mann verpartnert, sozialliberal, sympathisch. Und seine Partei hat noch nie einen Ministerpräsidenten gestellt. In den Niederlanden ist er ein bisschen vergleichbar mit dem früheren Ministerpräsidenten Mark Rutte, der 2010 ebenfalls als frisches Gesicht Regierungschef wurde. Es könnte auch für deutsche Parteien eine Strategie sein, auf junge, frische Kandidaten zu setzen.

Blicken wir aus Sicht der AfD auf das Wahlergebnis in den Niederlanden: Welche Lehren stecken für sie darin?

Dahlmer: Wenn die zentrale Erkenntnis ist, dass eine Brandmauer wirkt, wird die AfD diese abreißen wollen. Das ist aber keine neue Strategie, sondern versucht sie schon seit Jahren. Die AfD freut sich daher jedes Mal, wenn die Brandmauer in der CDU infrage gestellt wird oder es sogar zur Zusammenarbeit kommt, wie beispielsweise im Bundestagswahlkampf bei der Abstimmung über einen Migrationsantrag.