Millionen Kinder leiden unbemerkt - Nicht faul: Die Wahrheit über Kinder mit Teilleistungsstörungen

Was sind Teilleistungsstörungen und wie äußern sie sich bei Kindern und Jugendlichen?

Es gibt Kinder, die trotz ausreichend guter Intelligenz nicht alle schulischen Leistungen gleichermaßen gut erbringen können. Das bedeutet, dass sogenannte Teilleistungen betroffen sind und die Kinder in diesen Bereichen Schwierigkeiten haben. Teilleistungsstörungen sind dadurch definiert, dass ein Teil der kognitiven Leistungsfähigkeit eines Kindes abweicht von dem restlichen Niveau. 

Es geht also in der Regel um mindestens durchschnittlich begabte Kinder, die in einem spezifischen Teil ihrer Leistung auffällig sind. Man unterscheidet drei bzw. vier verschiedene Bereiche: Lesen und Schreiben, Rechnen sowie die motorischen Fähigkeiten. 

Teilleistungsstörungen sind dadurch gekennzeichnet, dass die betroffenen Kinder in dem jeweiligen Bereich unterdurchschnittliche Leistungen erbringen. Das bedeutet, dass sie nicht angemessen lesen, schreiben, rechnen oder sich bewegen können oder feinmotorisch auffällig sind. Wichtig hierbei ist, dass die Kinder in allen anderen Bereichen ihrer Intelligenz unauffällig sind. Um es statistisch auszudrücken: die betroffenen Kinder weichen in ihrer Leistungsfähigkeit in der jeweiligen Teilleistung (Lesen, Schreiben, Rechnen und/oder motorische Fähigkeiten) zwei Standardabweichungen von ihren sonstigen kognitiven Fähigkeiten ab.

In der Schule äußerst sich das dadurch, dass die grundlegenden schulischen Fähigkeiten gar nicht oder nur mit großen Schwierigkeiten erlernt werden. Die Kinder sind dann nicht selten der Gefahr ausgesetzt, insgesamt als nicht ausreichend klug, gar "dumm" eingeschätzt zu werden.

Da insgesamt etwa 5 Prozent aller Kinder eine Teilleistungsstörung aufweisen, ist davon auszugehen, dass mindestens ein Kind pro Klasse betroffen ist. Da es immer wieder vorkommt, dass die zuständigen Erwachsenen sich mit Teilleistungstörungen - insbesondere mit den motorischen Auffälligkeiten, der Dyspraxie - nicht gut auskennen, ist Aufklärung immer wieder wichtig.

Über Michael Schulte-Markwort

Michael Schulte-Markwort, renommierter Kinder- und Jugendpsychiater und Experte für Kinderseelen, ist Ärztlicher Direktor der Fachklinik Marzipanfabrik (Hamburg), Fachklinik Fasanenkiez (Berlin) und Fachklinik Lorettoberg (Freiburg). Darüber hinaus ist er Ärztlicher Leiter der Praxen Paidion Hamburg und Berlin - Heilkunde für Kinderseelen (www.paidion.de).

Michael Schulte-Markwort
Michael Schulte-Markwort Privat

Wie werden Teilleistungsstörungen diagnostiziert? Welche Rolle spielen dabei Eltern, Lehrer und Ärzte?

Ausgangspunkt für eine vertiefte Diagnostik wird meistens die Beobachtung von Eltern und/oder Lehrern sein, dass ein Kind in einem oder mehreren Bereichen schulischer Leistungen auffällig schlecht ist. Die Kinder fallen dadurch auf, dass sie sich mit dem Schrifterwerb sehr schwer tun, nicht lesen oder rechnen können oder sehr tollpatschig und auffällig im Sport sind. Nur durch entsprechend aufmerksame Eltern und Lehrer kann der erste Verdacht entstehen.

Grundlage der Diagnostik ist ein allgemeiner Intelligenztest, um sicher zu stellen, dass die Kinder grundsätzlich ausreichend intelligent sind. Von einem lern- oder geistig behinderten Kind wird niemand erwarten, dass sich ein normaler Lernerfolg in der Regelschule einstellt. Normal ist ein IQ von 100, kleiner 85 beginnt die Lernbehinderng und kleiner 69 die geistige Behinderung. 

Ein teilleistungsgestörtes Kind wird also einen durchschnittlichen IQ erreichen. Führt man dann spezielle Tests für den vermuteten Bereich im Lesen, Schreiben, Rechnen und der (fein-) motorischen Fähigkeiten durch, kann man herausfinden, ob und wenn ja in welchem Ausmaß eine Teilleistungsstörung vorliegt. Hierfür gibt es dann auch von den Schulbehörden festgelegte Grenzwerte, die bei Unterschreitung die entsprechende Teilleistungsstörung definieren.

Wir unterscheiden zukünftig auf der Basis des internationalen Klassifikationssystems ICD-11 die isolierten Lese- und Schreibstörungen (ICD-11 6A03.0 und 6A03.1) von der Rechenstörung (Dyskalkulie; ICD-11 6A03.2) und von der motorischen Entwicklungsverzögerung (Entwicklungsdyspraxie; ICD-11 6A04). Es kann sein, dass ein Kind von mehreren Teilleistungstörungen gleichzeitig betroffen ist (ICD-11 6A03.3).

Da Kinder mit einer Teilleistungsstörung ein erhöhtes Risiko für ein ADS/ADHS haben, sollte diese Frage - und die damit verbundene Diagnostik - im Verdachtsfall immer mit berücksichtigt werden.

Ein großes Problem stellen die Kinder dar, die die Kriterien für eine Teilleistungstörung knapp nicht erfüllen und von ihren Ergebnissen her nur wenig über dem Grenzwert liegen. Man spricht dann klinisch von einer Schwäche und nicht von einer Störung. Streng genommen haben diese Kinder kein Anrecht auf Nachteilsausgleich, können aber dennoch auf der Grundlage ihrer Schwäche sehr beeinträchtigt sein. Hier wird man immer auf das Entgegenkommen von Lehrern und Schulen angewiesen sein.

Wie kann man als Elternteil oder Lehrer ein Kind mit Teilleistungsstörungen unterstützen?

Der wichtigste Teil der Unterstützung beginnt mit der Diagnosestellung. Teilleistungsgestörte Kinder strengen sich in der Regel genauso an, wie alle anderen Kinder, erleben aber, dass sie trotz größter Anstrengung und Üben nicht zu dem gewünschten Erfolg kommen. Wenn sie hören, dass sie tatsächlich nichts dafür können und sie nicht dumm sind, verringert es ihre Selbstzweifel und führt zu einer Entlastung. Nicht diagnostizierte Kinder leiden oft unter den falschen Zuschreibungen von Dummheit oder Faulheit.

Kinder mit Teilleistungsstörungen haben in Deutschland ein Anrecht auf einen Nachteilsausgleich. Kein Kind darf wegen eines "Nachteils" - also einer körperlichen Behinderung, einer Krankheit oder einer Teilleistungsstörung benachteiligt werden! Niemand würde auf die Idee kommen, von einem Rollstuhlkind zu erwarten, dass die sportlichen Leistungen in allen Bereichen vergleichbar sind mit denen der anderen Kinder. 

Kinder mit einer Legasthenie haben ein Anrecht auf einen Nachteilsausgleich im Sinne eines Notenschutzes, d.h , dass ihre Rechtschreib- und /oder Leseleistung nicht benotet werden. Wichtig hierbei ist, dass sich die Rechtschreib- und/oder Leseleistung nicht nur auf den Deutschunterricht bezieht, sonder auf alle Bereiche, in denen geschrieben oder gelesen werden muss. Dass kann z. B. auch bedeutsam sein in Mathematik, wenn Textaufgaben entschlüsselt werden müssen. 

Auch ein Kind mit einer Dyskalkulie hat ein Anrecht auf Notenschutz, in den meisten Bundesländern allerdings nur bis zur 4. Klasse, weil dann angenommen wird, dass höhere mathematische Operationen von der Dyskalkulie nicht betroffen sind, was nicht für jedes Kind zutrifft. Kinder mit einer Entwicklungsdyspraxie sollten je nach Ausprägungsgrad z. B. Sportunterricht nur bezüglich ihrer Anstrengungsbereitschaft und nicht in Bezug auf ihre Leistungen benotet werden. Das kann bei feinmotorischer Auffälligkeit auch für den Kunstunterricht gelten.

Der häufige Reflex von Schulen, Zeitzugaben anzubieten, ist oft nicht hilfreich, weil es ein Kennzeichen teilleistungsgestörter Kinder ist, die eigenen spezifischen Fehler eben nicht eigenständig erkennen zu können, so dass mehr Zeit das Problem nicht löst. Das mag in Einzelfällen hilfreich sein, sollte aber immer individuell abgestimmt sein.

Welche Therapieoptionen gibt es für Kinder und Jugendliche mit Teilleistungsstörungen und wie erfolgreich sind diese?

Die Behandlung von Teilleistungsstörungen ist die Domäne der Lerntherapie. Lerntherapeutinnen sind in der Regel in Instituten oder in Einzelpraxen organisiert. Sie führen Einzel- oder in Gruppenlerntherapien durch, die in der Regel manualisierten und erprobten Therapieverfahren folgen. Der Erfolg einer Lerntherapie hängt ab vom Schweregrad der Teilleistungsstörung, aber natürlich auch vom Gelingen der therapeutischen Beziehung und der Motivation des Kindes. Bei schweren Teilleistungsstörungen wird man eine Linderung herbeiführen können oder dem Kind Strategien eines Umgangs mit seinem Handicap beibringen, bei leichteren Fällen ist eine deutliche Verbesserung der Lernfähigkeit des Kindes möglich.

Prinzipiell muss man oft den Kindern darin beistehen, dass sie ihr Handicap lebenslang mit sich herumtragen werden, dass sie aber grundsätzlich nicht dumm sind und ihnen ein erfolgreiches Leben nicht verwehrt sein wird. In der aktuellen Zeit des einschneidenden Wandels durch KI kann man die Kinder sicher auch damit trösten, dass die persönliche Rechtschreibung-, Lese oder Rechenleistung zukünftig weniger wichtig sein wird. 

Das bedeutet natürlich nicht, sich keine Mühe zu geben, Kindern den Zugang zu Texten und der Zahlenwelt den Kindern in irgendeiner Form zu erschließen. Dabei kann man manchmal auf das Hören oder Sehen in Form von Hörbüchern oder Filmen ausweichen. 

Teilleistungsgestörte Kinder haben unsere ganze Aufmerksamkeit ebenso verdient wie unser Verständnis und unsere Nachsicht. Und natürlich haben sie ein Anrecht auf unseren Trost.