Showdown in Brüssel: Warum die EZB Putins eingefrorene Milliarden schützt

Rund 200 Milliarden Euro russischer Zentralbankgelder liegen im europäischen Finanzsystem. Das Geld wird größtenteils bei Euroclear verwahrt, einem internationalen Zentralverwahrer mit Sitz in Brüssel. Es handelt sich um das Herzstück der europäischen Wertpapierabwicklung und ist ein zentraler Sicherungsknoten des weltweiten Finanzsystems. Dort liegen auch besagte russische Staatsgelder, deren politische Bedeutung enorm ist.

Merz will Putins eingefrorene Milliarden für Ukraine nutzen

Bundeskanzler Friedrich Merz und die EU-Kommission wollen das russische Vermögen nutzen, um der Ukraine finanziell das Überleben zu sichern. Ohne die russischen Gelder, müssten die Nationalstaaten oder die EU einspringen. Doch die sehen sich immer weniger in der Lage, die ukrainische Verteidigung zu finanzieren. Ohne das Geld droht dem Land eine Niederlage – mit kaum absehbaren Folgen für Europa. 

Der Verfassungsrechtler Patrick Heinemann verweist darauf, dass die juristische Basis für einen Zugriff durchaus besteht. „Völkerrechtlich wird ein Zugriff auf das russische Zentralbankvermögen sowohl über das Instrument der Gegenmaßnahmen gegen schwerste Völkerrechtsverstöße als auch über die zulässige kollektive Verteidigung der Ukraine nach der UN-Charta diskutiert“, so Heinemann gegenüber FOCUS online. Es gebe zwar auch eine rechtliche Gegenauffassung: Wichtig sei jedoch, dass der Schritt unter etlichen prominenten Völkerrechtlern gut vertretbar sei. Er bildet damit einen möglichen rechtlichen Rahmen, den die EU nutzen könnte. Bundeskanzler Merz betonte in einem Gastbeitrag für die "Frankfurter Allgemeine": "Wir beschlagnahmen nicht, und wir rühren russische Forderungen nicht an."

Für das, was wie ein Widerspruch klingt, hat die deutsche Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, das Modell einer „Reparationsanleihe“ ins Spiel gebracht: Dann würden die russischen Zentralbankmilliarden beliehen. Nötig wäre so nur ein Bürge. Doch ein entscheidender Akteur stellt sich quer: die Europäische Zentralbank.

Patrick Heinemann
Patrick Heinemann ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht aus Freiburg und Mitglied im Verfassungsrechtsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer. Bender Harrer Krevet Rechtsanwälte

Patrick Heinemann ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht aus Freiburg und Mitglied im Verfassungsrechtsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer.

Alles eine Frage des „Mandats“

In der EZB herrscht die Einschätzung, dass eine Liquiditätsabsicherung für Euroclear gegen das Mandat der Zentralbank verstoßen würde. Laut Artikel 123 im „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ sei die monetäre Staatsfinanzierung, also jede Form direkter Zentralbankkredite an öffentliche Stellen, untersagt.  

Die Frage, ob die EZB als eine Art Rettungsschirm einspringen könne, habe sich daher aus Sicht von Präsidentin Christine Lagarde gar nicht gestellt. „Ich wurde nicht zur Präsidentin der EZB ernannt, um den Vertrag zu verletzen“, erklärte sie und betonte, man könne die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten nicht monetarisieren. Damit macht die EZB deutlich, dass sie politische Wünsche nicht über ihre vertraglichen Grenzen stellt, selbst wenn es um die Stabilität der Ukraine geht.

Aus EZB-Kreisen heißt es, man wolle sich strikt an die Vorgaben des EU-Vertrags und die Funktionsweise der EZB halten. Die Entscheidung über eine Nutzung eingefrorener russischer Vermögen für einen Reparationskredit liege allein bei den Mitgliedstaaten. Voraussetzung sei, dass der Mechanismus internationalen Rechtsstandards entspricht und keine Risiken für die Finanzstabilität erzeugt. „Wir weigern uns nicht, wir befolgen die Regeln“, erklärte Lagarde jüngst. 

Warum der Streit ausgerechnet in Brüssel eskaliert

Doch auch Belgien stellt sich gegen das Vorhaben, wie Premierminister Bart De Wever diese Woche erklärte. Dass Belgien das Vorhaben blockiert, hat einen einfachen Grund: De Wever befürchtet rechtliche Konsequenzen, russische Vergeltung und nennt das Vorhaben schlicht „Diebstahl“. 

EZB-Chefin Lagarde wiederum ist besorgt, dass Euroclear mit einem verwahrten Vermögen im Wert von insgesamt über 40 Billionen Euro in Gefahr geraten könnte, falls Russland gegen die Nutzung seiner Vermögenswerte vorgeht. Dann, so die Befürchtung, müsste sofort eine nationale Garantie greifen. Belgien will diese Last nicht allein tragen und fordert, dass alle EU-Staaten haften. Also auch Deutschland und damit die hiesigen Steuerzahler. Für Merz, der in Brüssel um Zustimmung warb, ist das der neuralgische Punkt: Ohne Belgien fällt der gesamte Plan.

EZB Chefin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde
Die Chefin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde, setzt klare Grenzen beim Zugriff auf russische Vermögen. IMAGO / Panama Pictures

Experte widerspricht: „Verfassungsrechtlich unproblematisch“

Während EZB und Belgien auf Risiken verweisen, sieht der Freiburger Verfassungsrechtler Heinemann die Lage deutlich entspannter. Eine deutsche Umsetzung sei rechtlich möglich. „Sollte eine europäische Mobilisierung des eingefrorenen russischen Zentralbankvermögens noch in nationales deutsches Recht umgesetzt werden müssen, wäre das verfassungsrechtlich unproblematisch. Die Russische Föderation und ihre Zentralbank werden von den Grundrechten des Grundgesetzes nicht geschützt.“

Auch das Verbot von Einzelfallgesetzen stünde einer Umsetzung nicht entgegen. Aus völkerrechtlicher Sicht sei der Zugriff gut begründbar. Heinemann verweist darauf, dass dieser Schritt „nach Auffassung etlicher prominenter Völkerrechtler auf jeden Fall sehr gut vertretbar ist“.

Die Debatte, ob Risiken auf Steuerzahler übergehen könnten, bewertet er als politische, nicht als verfassungsrechtliche Frage. Im Vordergrund stehe die sicherheitspolitische Dimension. „Mir scheint ein bisschen aus dem Blick zu geraten, dass das Grundgesetz eine funktionsfähige Verteidigung der Bundesrepublik und der Europäischen Union gebietet“, erklärt er. Äußere Sicherheit sei die „älteste und wichtigste aller Staatsaufgaben: Und darum geht es doch hier: Die russische Aggression abzuwehren, die sich längst nicht mehr nur gegen die Ukraine, sondern in zumindest hybrider Form gegen alle Europäer richtet“. Damit setzt Heinemann einen Akzent, der in der deutschen Debatte zuletzt auch von Kanzler Merz offen formuliert wurde.

„Russland hat dieses Geld längst abgeschrieben“

Während Belgien und einige EU-Diplomaten warnen, ein Zugriff könne internationale Investoren verschrecken und Vertrauen ins europäische Finanzsystem untergraben, sieht Heinemann das anders. Er hält dagegen, dass das Vermögen „doch nun schon seit Jahren eingefroren“ sei, „ohne dass das zu einer Flucht aus dem Euro geführt hat“. Russland habe das Geld faktisch abgeschrieben, und Schwellenländer hätten gar nicht die Kapazität, eine Kapitalflucht dieser Größenordnung aufzunehmen.

Heinemann warnt, dass die Debatte oft einseitig geführt werde. „Insgesamt sollten wir nicht nur die Risiken des Handelns in den Blick nehmen, sondern uns vor allem mal mit den Risiken des Nichthandelns beschäftigen.“ Sollte Russland die Ukraine besiegen, drohten Europa Kosten und Belastungen durch Flucht und erhöhte Verteidigungsausgaben, „der gegenüber die aktuellen Sondervermögen ein Tropfen auf den heißen Stein sind“, so der Experte.

Politik zwischen Vertragsrecht, geopolitischem Druck und belgischem Veto

Eine Gruppe belgischer Juristen und Ökonomen hat in einem Beitrag für Le Soir klargestellt, dass der Einsatz eingefrorener russischer Staatsvermögen zur Ukraine-Hilfe völkerrechtlich zulässig ist. Sie widersprechen damit der Darstellung des belgischen Premierministers Bart De Wever und der Sichtweise von Euroclear.

Die Experten betonen, Russland sei von der UN-Generalversammlung eindeutig als Aggressor eingestuft worden. Daher seien Gegenmaßnahmen auch rechtlich gedeckt: Die geplante Nutzung der Vermögen stütze sich auf das internationale Gewohnheitsrecht zur „Verantwortlichkeit des Staates für international rechtswidrige Handlungen“.

Die Autoren weisen De Wevers Bedenken zurück. Seiner These, die Maßnahme sei möglicherweise illegal, widersprechen sie vehement: „Viele Rechtsexperten haben das Argument der angeblichen Rechtswidrigkeit einer solchen Maßnahme nach internationalem Recht längst verworfen.“ Auch seine Warnung vor Reputationsschäden für Belgien oder Euroclear halten sie für unbegründet.

Zugleich weisen sie die Darstellung, die Maßnahme gefährde laufende Friedensüberlegungen, zurück: Es wäre, so schreiben sie, falsch, „wenn Russland sich von der Verpflichtung zur Zahlung von Entschädigungen frei machen könnte.“

Merz zeigt Verständnis für Belgien - und bietet Entgegenkommen an

Möglich aber, dass Bundeskanzler Merz den belgischen Premier noch umstimmen kann. Bereits in dem Gastbeitrag zeigte er sich offen für dessen Argumente. "Ich habe jedes Verständnis dafür, dass insbesondere die belgische Regierung, in deren Land sich ein Großteil der eingefrorenen Vermögenswerte befindet, nicht rein auf politische Zusagen vertrauen kann", so Merz. 

"Diese Bedenken müssen mit den nun anstehenden Beratungen der konkreten Rechtstexte adressiert werden. Diese Beratungen müssen umgehend beginnen und rasch abgeschlossen werden", schreibt Merz weiter und nennt auch das andere Hindernis: "Dafür allerdings braucht es das politische Signal der europäischen Staats- und Regierungschefs." Merz muss demnach wohl nicht nur den belgischen Regierungschef überzeugen.