Psychologin Martina Lackner - Politikverdrossenheit in Deutschland: Warum wir nur noch das 'geringste Übel' wählen

 

1. Die Wahl als kognitive Dissonanz

Laut Leon Festingers Theorie der kognitiven Dissonanz erleben Menschen Unbehagen, wenn ihre Überzeugungen und ihr Verhalten nicht übereinstimmen. Viele Bürger vertreten bestimmte Werte – sei es soziale Gerechtigkeit, wirtschaftliche Stabilität oder ökologische Verantwortung – finden aber keine Partei, die diese Werte überzeugend und konsequent vertritt.

Um diese innere Spannung aufzulösen, rationalisieren sie ihre Wahlentscheidung: „Diese Partei ist nicht ideal, aber sie ist noch die beste Option“ oder „Wenn ich nicht wähle, gewinnt vielleicht jemand noch Schlechteres.“ Diese Art der Selbstberuhigung ist eine typische psychologische Schutzstrategie, die verhindert, sich mit der eigenen politischen Machtlosigkeit auseinanderzusetzen.

Gleichzeitig führt diese Dissonanz dazu, dass sich viele Menschen aus der aktiven politischen Auseinandersetzung zurückziehen, weil jede Option letztlich mit Unbehagen behaftet ist. Das verstärkt den Trend zur Politikverdrossenheit.

2. Der Verlust an positiver Identifikation

Politische Parteien waren einst Identifikationsangebote: Man konnte sich als Sozialdemokrat, Christdemokrat oder Liberaler verstehen und sich in den Grundwerten der Partei wiederfinden. Heute sind Parteien hingegen austauschbarer geworden, weil ihre Positionen sich annähern oder sie zentrale Wahlversprechen nicht umsetzen.

Dadurch verliert der Wähler die Möglichkeit, sich positiv mit einer Partei zu identifizieren. Ohne Identifikation fehlt das Zugehörigkeitsgefühl, das früher ein starker politischer Antrieb war. Politische Diskussionen, die früher leidenschaftlich geführt wurden, verkommen heute oft zu resignierten Debatten über das „geringste Übel“.

Die psychologische Folge: Menschen engagieren sich weniger, weil sie sich mit keiner Option wirklich verbunden fühlen. Sie wählen aus pragmatischen Gründen oder bleiben gleich ganz zu Hause. Damit schwinden auch langfristig demokratische Beteiligungsprozesse.

3. Vertrauensverlust und erlernte Hilflosigkeit

Der Vertrauensverlust in die Politik wird durch das Konzept der erlernten Hilflosigkeit (Seligman, 1975) erklärbar. Menschen, die wiederholt die Erfahrung machen, dass ihre Entscheidungen keinen spürbaren Einfluss auf ihre Lebensrealität haben, geben irgendwann auf.

Viele Bürgerinnen und Bürger erleben, dass sich trotz ihrer Wahlentscheidung grundlegende Probleme nicht ändern: soziale Ungleichheit bleibt, Bürokratie lähmt, Korruption existiert weiterhin. Die Erfahrung, dass Wahlergebnisse oft nicht zu den versprochenen Veränderungen führen, sorgt dafür, dass viele Menschen den Sinn demokratischer Beteiligung in Frage stellen.

Dies hat nicht nur Auswirkungen auf das Wahlverhalten, sondern auch auf die gesellschaftliche Stimmung: Resignation, Zynismus und der Wunsch nach einfachen Lösungen nehmen zu. In diesem Zustand der erlernten Hilflosigkeit entscheiden sich Menschen entweder gar nicht mehr zu wählen oder wählen „das geringste Übel“ – nicht aus Hoffnung, sondern aus Vermeidung des Schlimmsten.

4. Die Rolle der Angst und der medialen Verstärkung

Ein wesentlicher Faktor in der politischen Entscheidungsfindung ist die Angst. Angst ist ein starker psychologischer Treiber und kann durch gezielte Rhetorik verstärkt werden. Parteien arbeiten mit negativen Narrativen („Wenn die anderen an die Macht kommen, droht das Chaos“) und schüren dadurch eine Wahlstrategie, die nicht auf Visionen, sondern auf Abschreckung basiert.

Die Medien verstärken diesen Effekt, indem sie eher über Skandale als über konstruktive politische Inhalte berichten. Studien zeigen, dass Menschen unter Angst konservativer und risikovermeidender wählen – sie halten sich dann an das Bekannte, selbst wenn sie es eigentlich ablehnen.

Dazu kommt der „Negativity Bias“: Negative Informationen bleiben länger im Gedächtnis als positive. Wenn Wahlen primär durch Angst gesteuert werden, dominiert das Bedrohungsszenario über die eigentlichen politischen Inhalte. Damit wird Politik zunehmend zum Instrument der Abschreckung statt der Gestaltung.

5. Gibt es eine Alternative?

Psychologisch betrachtet wäre die Lösung, wieder echte politische Identifikation und Begeisterung zu ermöglichen. Das bedeutet:

  1. Authentizität statt Inszenierung: Menschen durchschauen, wenn Politiker bloß „Marketing“ betreiben. Glaubwürdigkeit entsteht nicht durch inszenierte Volksnähe, sondern durch ehrliche, klare Kommunikation.
  2. Klare Werte und Umsetzbarkeit: Wähler wollen nicht nur große Versprechen, sondern echte Lösungen. Parteien, die unklare oder widersprüchliche Programme haben, verlieren Vertrauen.
  3. Bürgerbeteiligung stärken: Direkte Demokratie oder partizipative Modelle könnten das Gefühl politischer Einflussnahme zurückbringen. Menschen, die erleben, dass ihre Meinung zählt, sind eher bereit, sich zu engagieren.
  4. Neue Narrative etablieren: Angst als primärer Mobilisierungsfaktor sollte durch Visionen ersetzt werden. Wer Zukunft gestaltet, braucht nicht nur Warnungen, sondern Hoffnung.

Fazit: Ein System, das sich selbst blockiert

Die aktuelle politische Lage in Deutschland ist das Ergebnis einer komplexen Wechselwirkung aus Vertrauensverlust, erlernter Hilflosigkeit und einer Wahlpsychologie, die von Angst und kognitiver Dissonanz geprägt ist. Solange es keine echten Alternativen gibt, bleibt die Wahl das, was sie für viele längst ist: die Entscheidung für das geringste Übel – und gegen die schlimmste Option.

Doch langfristig kann eine Demokratie nicht von Vermeidungsstrategien leben. Sie braucht Überzeugungen, Begeisterung und eine Identifikation mit den handelnden Akteuren. Solange diese fehlen, bleibt Politik für viele Bürgerinnen und Bürger ein frustrierendes Pflichtprogramm – und keine echte Wahl.