Gefährdete Jobs: US-Konzern plant Herz der Chemieindustrie im Osten abzuschalten
Mit einem beiläufigen Satz stürzt Jim Fitterling Ende April eine ganze Region in Zukunftssorgen. Seine Firma prüfe die Zukunft der Anlagen in Böhlen (Sachsen) und Schkopau (Sachsen-Anhalt), sagt der Chef des US-Konzerns Dow bei der Bilanzvorstellung. Wahrscheinliches Ergebnis: "Leerlauf oder Stilllegung."
Was auf den ersten Blick verkraftbar klingt – in den betreffenden Anlagen arbeiten einige Hundert Angestellte –, treibt wenige Wochen später Mitarbeiter zahlreicher umliegender Betriebe auf die Straße. "Hier stehen nicht allein Hunderte gut bezahlter und tariflich sauber geregelter Arbeitsplätze auf dem Spiel, sondern die industrielle Zukunft einer ganzen Region", sagt Gewerkschaftschef Michael Vassiliadis. Die Politik müsse dringend handeln.
Die Zeit drängt. Bis Ende Juli, also in rund fünf Wochen, will Dow entscheiden, wie es mit den Anlagen weitergeht. Dann stehen die nächsten Quartalszahlen an. Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) hat laut Medienberichten bereits mit der Dow-Geschäftsführung telefoniert. Doch bislang ist kein Ergebnis bekannt. Also zittert die Region weiter.

Eine ganze Region hängt an den Dow-Anlagen
Das Schicksal Dows beschäftigt Politik und Region, weil die Anlagen das Herz eines wichtigen Chemieverbundes bilden. Sie zerlegen Vorprodukte wie Rohbenzin in Bestandteile, aus denen umliegende Unternehmen ihre Erzeugnisse herstellen. Stoppt das Herz, geraten die angeschlossenen Organe in Überlebensgefahr – und mit ihnen die Region.
Die Bedeutung der Branche für ganze Regionen verdeutlicht der Chemiepark Bitterfeld-Wolfen nahe Böhlen und Schkopau.
- Nahe der 40.000-Einwohner-Stadt arbeiten 15.000 Angestellte im Chemiepark. Viele davon nicht direkt in der Chemiebranche, sondern in Firmen, die von ihr abhängen. In Ostdeutschland hängen an jedem Chemie-Arbeitsplatz drei weitere, schätzen die Nordostchemie-Verbände.
- Bitterfeld-Wolfen plant 2025 mit 33 Millionen Euro an Einnahmen durch die Gewerbesteuer. Zusammen mit dem Anteil der Stadt an der Einkommenssteuer (rund 13 Millionen Euro) entspricht das fast 60 Prozent aller Einnahmen.
- Als finanzstarke Kommune reicht die Stadt einen Großteil ihres Überschusses an den Landkreis und andere Städte und Gemeinden weiter: Im Jahr 2025 rund 22,5 Millionen Euro laut Haushalt der Stadt. Sie finanziert also viele finanzschwächere Kommunen mit.
- Legt Dow seine Anlage nun still und verlagern auch andere Unternehmen ihre Produktion aus der Region, nimmt Bitterfeld-Wolfen deutlich weniger Steuern ein. Es kann also auch weniger andere Kommunen mitfinanzieren. Die ganze Region leidet.
Das Beispiel Bitterfeld-Wolfen veranschaulicht die Lage der gesamten ostdeutschen Chemieindustrie. "Die Hütte brennt", sagt Nora Schmidt-Kesseler, Geschäftsführerin der Nordostchemie-Verbände. "Eine solche Situation habe ich in den vergangenen zehn Jahren noch nicht erlebt."
Teure Energie verursacht gleich drei Probleme
Die Chemie im Osten kriselt stärker als die in den alten Bundesländern, weil die teure Energie dort gleich drei Probleme verursacht:
Erstens: Die Chemiebranche kriselt generell.
- Dow begründet die wahrscheinliche Stilllegung seiner Anlagen mit den gleichen Argumenten wie viele Firmen zuletzt: hohe Kosten und geringe Auslastung.
- Die Energiekrise infolge des russischen Überfalls auf die Ukraine hatte die Preise für Strom und Gas seit 2022 deutlich angehoben.
- Dow-Chef Fitterling sagte, sein weltweit tätiges Unternehmen prüfe alle Anlagen in Europa und wolle sich auf die renditestärksten konzentrieren.
- Niederlassungen in Deutschland laufen generell Gefahr, diese Prüfung nicht zu bestehen. Die teure Energie liefert einen der Hauptgründe.
- Weil Dow nach der Wiedervereinigung die Betriebe im Osten übernommen hatte, trifft die Entscheidung der Amerikaner den Osten nun stärker als den Westen, wo zum Beispiel BASF seine eigenen Cracker betreibt. Teils ist dies Folge geschichtlicher Zufälle.
Zweitens: In Ostdeutschland ist viel Grundstoffchemie angesiedelt.
- Grundstoffchemie verbraucht besonders viel Energie. Sie leidet besonders unter der Krise.
- Dadurch sank laut Ifo-Institut die Auslastung der energieintensiven Chemie- und Pharmabranche besonders im Osten: Dort fiel sie von um 85 Prozent im Jahr 2021 auf unter 75 Prozent im Jahr 2024.
- Unternehmen in Chemie-Verbünden sind durch direkte Pipelines miteinander verbunden, der Chemiepark Bitterfeld-Wolfen unter anderem mit dem Dow-Cracker in Böhlen, der das Rohbenzin zerlegt.
- Fällt der Cracker aus, müssten die Unternehmen ihre Verbundstoffe per Lkw und Schiene einkaufen. Das verteuert die Produktion weiter und verschlechtert die C02-Bilanz.
- Weil die Unternehmen in Ostdeutschland zudem häufig Mittelständler sind, gleichen sie die Kosten schwerer aus als große Westkonzerne wie BASF mit ihren Niederlassungen um Ausland. Andere Firmen sind Tochtergesellschaften großer Konzerne, die diese eher schließen als ihre Hauptniederlassungen. Das macht die Industrie verwundbarer.
Drittens: Die teure Energie trifft auch die Region:
- Von 2016 bis 2022 nahm der Landkreis Anhalt-Bitterfeld jedes Jahr mehr ein als er ausgab. Seitdem gibt er jedes Jahr mehr aus als er einnimmt. Die Finanzlage ist angespannt.
- Der Verlust hat zwei Hauptursachen: gestiegene Personalausgaben und gestiegene Zinszahlungen. Ohne diese Punkte, beide getrieben durch die Inflation infolge der teuren Energie, wäre der Landkreis weiter solide im Plus.
- Die angespannte Finanzlage begrenzt die Möglichkeit des Landkreises in Infrastruktur und andere Zukunftsprojekte zu investieren.
Die teure Energie nimmt die Gegend also aus drei Richtungen in die Zange: Das Geld wird ohnehin knapp. Nun droht eine Haupteinnahmequelle wegzubrechen, die die Menschen zudem mit tarifgebundenen Jobs und gleicher Bezahlung wie im Westen versorgt. Das birgt auch enorme politische Risiken.

"Wichtig ist, dass jetzt Schließungen verhindert werden, Werke, die nun geschlossen werden, sind verloren. Der Kanzler muss insbesondere den Erhalt der deutschen Chemiebranche zur Chefsache machen." Reiner Haseloff, Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt
Zwei Lösungen und zwei Aufrufe
Um die Chemieindustrie in Mitteldeutschland zu sichern, nennen Gewerkschafter und Politiker nun zwei Lösungen:
Appell an Dow: Der Chemiekonzern schreibe in Mitteldeutschland weiter schwarze Zahlen, kritisiert Gewerkschaftschef Vassiliadis. "Da kann überhasteter Rückzug keine Option sein." Der Konzern müsse genügend Zeit für die Suche nach einem Käufer für seine Anlagen einräumen: "Dow hin, Dow her. Entscheidend ist der Cracker."
Billigere Energie, weniger Bürokratie: Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) sagt auf Anfrage: "Der einzige Weg ist, in Deutschland und Europa wieder Standortbedingungen zu schaffen, die Produktion rentabel machen, nicht nur im Bereich der chemischen Industrie." Bundesregierung und Länder hätten erste Schritte unternommen, etwa beim Investitionssofortprogramm; die EU habe den Weg frei gemacht zur Einführung eines Industriestrompreises. Nun hoffe er, dass die Maßnahmen rechtzeitig kommen.
Diese Forderung stellen Politiker parteiübergreifend. Der sächsische Wirtschaftsminister Dirk Panter (SPD) sagte dem Regionalfernsehen der Region: Der Bund müsse die Energiepreise senken und die Bürokratie entschlacken. "Wir wollen, dass Dow hier bleibt. Das ist unser Premiumpartner." Passiere das nicht, müsse die Politik Alternativen suchen. Bezahlbare Energie dürften alle fordern.

Erste Maßnahmen noch ohne Reaktion
Eine erste Maßnahme der Bundesregierung dürfte der Chemie im Osten helfen: Die Koalition aus CDU und SPD will die Stromsteuer für das produzierende Gewerbe senken. Ob das reicht, um Dow im Osten zu halten, ist offen. Noch haben die Amerikaner ihre Prognose "Leerlauf oder Stilllegung" nicht verändert.