Ukraine drängelt: US-Geheimdienst warnt vor Einsatz weitreichender Waffen gegen Russland
Die Ukraine drückt aufs Tempo und die USA bremsen weiter: Die Freigabe weitreichender Waffen entzweit die Partner. Beobachter bezweifeln auch dessen Sinn.
Kiew – „Man muss der Ukraine zugutehalten, dass sie selbst viel unternimmt, um tief im Inneren Russlands zuzuschlagen“, schreiben William Courtney und John Hoehn. Laut dem Magazin Defense News sollte die Ukraine im Krieg gegen Wladimir Putin möglichst schnell und möglichst großzügig mit Langstreckenwaffen aufgerüstet werden. Der US-Geheimdienst aber ist genau gegenteiliger Meinung.
„Die Russen werden als Erste erfahren, wenn die Ukraine von ihren Verbündeten die Erlaubnis erhalte, mit westlichen Langstreckenwaffen tief in russisches Territorium einzudringen“, sagte aktuell Serhii Nykyforov; der Sprecher des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj entfachte damit aufs Neue die Diskussion um die Lieferung von langstreckenfähigen Raketen und die Freigabe zum Beschuss russischen Kernlands. Die Ukrainska Prawda berichtet aktuell, dass Nykyforov im ukrainischen Fernsehen die Forderung nochmals verdeutlicht hatte, ohne allerdings neue Argumente hinzuzufügen.
Ukraine prescht wieder vor: Selenskyj-Sprecher will Druck auf die USA aufbauen
„Wir haben diese riesige Anfrage und hoffen, dass die Partner nachgeben werden“, sagte er laut der Prawda und will damit wahrscheinlich weiteren Druck aufbauen. Demgegenüber meldet die New York Times parallel von schweren Bedenken des US-Geheimdienstes; die könnten das Zögern von US-Präsident Joe Biden erklären. Sollten die USA, Großbritannien und Frankreich erlauben, mit aus ihrer Produktion stammenden Langstrecken-Raketen Ziele tief im Inneren Russlands anzugreifen, sei wahrscheinlich, „dass Russland mit größerer Härte – möglicherweise sogar mit tödlichen Angriffen – auf die USA und ihre Koalitionspartner zurückschlagen wird“, schreibt die NYT unter Bezugnahme auf die bisher unveröffentlichten Geheimdienstquellen.
„Zwar deutet die Rhetorik eine mögliche Ausweitung der Szenarien an, in denen Russland eine nukleare Abschreckung in Erwägung ziehen könnte, doch stellt sie keine grundlegende Abkehr von der langjährigen Politik des Landes dar. Die Sprache bleibt jedoch vage: Sie definiert weder, was eine ,Vereinigung, ausmacht, noch wird klargestellt, gegen wen sich ein Atomschlag richten könnte.“
Die US-Behörde schätzt den Erfolg solcher Langstrecken-Attacken als für den Verlauf des Ukraine-Krieges ohnehin insgesamt gering ein; entscheidend sei auch, dass die Ukrainer selbst im besten Fall nur mit einer begrenzten Anzahl solcher Langstreckenwaffen angreifen könnten und die Menge des Nachschubs aus den Westländern tatsächlich fraglich sei. „Die Einschätzung unterstreicht, was Geheimdienstanalysten als potenzielles Risiko und unsicheren Nutzen einer Entscheidung mit hohem Einsatz ansehen“, wie die NYT schreibt. Die Regierung von Joe Biden fährt also weiterhin einen Zickzack-Kurs – offenbar werden in den USA Für und Wider so kontrovers wie vehement diskutiert, ohne dass sich ein schnelles Ende aufdrängte.
„Ausgehend von der Ukraine, gibt es keinen Mangel an Beobachtungen, über die wir nachdenken sollten‘“, sagte James Rainey, wie ihn das Magazin Defense News zitiert. Der General leitet das Army Futures Command, die für die Modernisierung der Streitkräfte zuständige Abteilung der US-Armee. Auch das Magazin Politico nennt Stimmen, die den Einsatz US-amerikanischer Waffen gegen Wladimir Putin auf dessen eigenem Territorium als „Wert“ betrachten.
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Ukraine-Krieg als Generalprobe: USA suchen nach ihrer künftigen Rolle als Weltmacht.
Der erste große Landkrieg auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg ist die Generalprobe für den nächsten – möglicherweise noch größeren. Die USA suchen nach ihrer künftigen Rolle als Weltmacht. „Ein hochrangiger US-Militär-Offizieller erklärte den Parlamentariern Anfang Mai, dass eine Lockerung der Beschränkungen für den Einsatz amerikanischer Waffen durch die Ukraine auf russischem Territorium ‚militärisch sinnvoll‘ sei“, berichtete das Magazin Politico. Seitdem gärt die Diskussion innerhalb der USA und deren Verbündeten.
Auch der britische Premierminister Keir Starmer hatte gerade erst Gegenwind bekommen ob seiner Einlassung, dass er der Ukraine den Einsatz von Langstreckenwaffen gegen Wladimir Putin freigeben würde. „Den Einsatz britischer Langstreckenraketen gegen Russland zuzulassen, wäre ein Fehler von potenziell nuklearen Ausmaßen“, schreibt prompt der britische Guardian. In den vergangenen zwei Jahren habe die Nato „diszipliniert und beeindruckend versucht, eine Ost-West-Eskalation entlang der russischen Grenze zu verhindern“, schreibt Simon Jenkins. Der Guardian-Kommentator lobt das Wahren „kühler Köpfe“. „Das Muskelgehabe des britischen Verteidigungsministers – und Starmers selbst – war sinnlos“, urteilt Jenkins.
Der Guardian-Autor geht allerdings davon aus, dass ohnehin alles verloren ist, wie er schreibt. „Nach ihrer anfänglichen Niederlage gegen die russische Invasion konnte die Ukraine mit beträchtlicher Hilfe von außen Putins Vorstoß nach Westen widerstehen, doch das war auch schon ihre Grenze. Wie in der gesamten Geschichte sind Russlands Ressourcen letztlich überwältigend.“ Allerdings behauptet er gleichermaßen, dass der Ukraine-Krieg längst über einen Konflikt um nationale Unabhängigkeit zu einem wirtschaftlichen und militärischen Stellvertreterkrieg des Westens gegen Russland übergegangen sei.
Reaktionen aus Russland befürchtet: Wo sollte Putin am besten Einhalt geboten werden?
Das scheint auch eine absolut zutreffende Einschätzung zu sein – was zur Frage führte, ob Wladimir Putin gerade deshalb in der Ostukraine Einhalt zu bieten wäre, statt womöglich in fünf Jahren im Baltikum oder in zehn Jahren an der polnischen Grenze. Laut der New York Times äußerten die US-Geheimdienstleister konkrete Befürchtungen wegen einer Reihe möglicher Reaktionen Russlands auf die Entscheidung, Langstreckenangriffe mit Raketen aus den USA und Europa zuzulassen. Von verstärkten Brandstiftungen und Sabotageakten auf Einrichtungen in Europa bis hin zu potenziell tödlichen Angriffen auf US-amerikanische und europäische Militärstützpunkte.
Darüber hinaus würden die Russen nach den ersten Angriffen vermutlich Munitionsdepots, Kommandoposten, Kampfhubschrauber und andere wichtige Gefechtsfunktionen aus der Reichweite der Raketen verlegen, schreibt die NYT aufgrund der Aussagen des Geheimdienstes. Mitte September hatte das Blatt bereits berichtet, selbst unter den Republikanern würde ein härterer Kurs eingefordert. Allen voran der Minderheitsführer Mitch McConnell hätte auf eine „aggressive Reaktion“ gepocht und einen deutlichen Bruch mit dem ehemaligen Präsidenten Donald Trump provoziert.
Stillhalten keine Option: Selenskyj bleibt forsch und fordernd – und erhält Rückendeckung
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte ohnehin zunehmend vehementer auf einen Richtungswechsel gedrängt. Auch immer mehr US-amerikanische sowie westliche Politiker hatten diesen Schritt eingefordert, um Russland durch Stillhalten keine Optionen im Norden der Ukraine mehr zu eröffnen. Westlichen Militärs war immer offensichtlicher geworden, dass Putins Truppen Raketenangriffe von außerhalb der Reichweite der ukrainischen Luftabwehr durchführen und infanteristische Vorstöße vorbereiten beziehungsweise unterstützen. Das Dilemma zieht sich seit Monaten hin.
Zwischenzeitlich hatte sich auch der Thinktank Institute for the Study of War (ISW) dafür ausgesprochen, Joe Biden sollte der Ukraine „gestatten, alle militärischen Ziele in den operativen und tiefsten rückwärtigen Gebieten Russlands mit von den USA gelieferten Waffen anzugreifen.“ Das hatte Newsweek vermeldet. Die Denkfabrik hatte eine Karte veröffentlicht, voller Markierungen, welche Gebiete unter Wladimir Putins völkerrechtswidriger Besatzung in Reichweite amerikanischer Langstrecken-Raketen liegen. Die Analysten des ISW rufen entschieden auf zum Einsatz beispielsweise der ATACMS (Army Tactical Missile Systems).
Trotz verschärfter Rhetorik: ATACMS-Offensive gefahrlos ohne atomaren Gegenschlag möglich
Allerdings hat Russland parallel dazu gerade seine Atom-Doktrin überarbeitet. Eine Aggression gegen Russland durch einen Nicht-Nuklearstaat mit Beteiligung oder Unterstützung eines Atomstaates werde als gemeinsamer Angriff auf die Russische Föderation behandelt, habe Wladimir Putin im russischen Sicherheitsrat angekündigt – Maxim Trudoljubow hält Putins Vorstoß aber nur für bedingt vorwitzig.
Auch der Analyst der US-Thinktanks Wilson Center kommt zum Schluss, dass Langstrecken-Schläge erst dann wirksam wären, wenn die Ukraine gleichzeitig raumgreifende Bodenoperationen realisieren könnte. Der neue Aspekt der Atom-Doktrin wird sein, dass auch ein nichtnuklearer Staat gegen Russland Hauptaggressor sein könne, ohne formell mit einem Atomstaat verbündet zu sein, und beide trotzdem gemeinsam einen vereinigten Angriff führen könnten. Russland behielte sich damit vor, eine nukleare Bedrohung selbst zu definieren. Der Autor des Thinktanks Wilson Center und Chefredakteur des Online-Magazins Meduza sieht dadurch aber keine Verschärfung der Bedrohung für die westlichen Mächte heraufziehen.
„Zwar deutet die Rhetorik eine mögliche Ausweitung der Szenarien an, in denen Russland eine nukleare Abschreckung in Erwägung ziehen könnte, doch stellt sie keine grundlegende Abkehr von der langjährigen Politik des Landes dar. Die Sprache bleibt jedoch vage: Sie definiert weder, was eine ,Vereinigung‘, ausmacht, noch wird klargestellt, gegen wen sich ein Atomschlag richten könnte.“