Es ist nichts Neues: Das deutsche Schulsystem ist nicht mehr zeitgemäß. Wenn Markus Lanz in seiner Sendung Missstände aufdeckt und am Ende feststellt, dass Veränderungen „eine Mammutaufgabe“ seien, hat er recht.
Gute und faire Bildung hängt von vielen Faktoren ab – und sie ist eine Gemeinschaftsaufgabe: von Eltern, Erziehern, Lehrkräften, Behörden, Politik und Gesellschaft.
Der allgegenwärtige Mangel
Seit Jahren steht der Mangel im Mittelpunkt – und die Schuld wird gern woanders gesucht.
Eltern klagen über zu wenig Personal in Kitas, verkomplizieren aber oft selbst den Alltag, wenn sie ihre Kinder zu spät bringen oder abholen. Fachkräfte beschweren sich über Überlastung, zu hohe Erwartungen und schlechte Ausstattung.
Lehrkräfte über zu große Klassen, politische Vorgaben und über das, was Kinder angeblich nicht können. Dabei dominiert der Blick auf Defizite – im Deutschdiktat etwa auf neun Fehler statt auf 111 richtig geschriebene Wörter.
Statt sich nur auf fehlende Stellen zu konzentrieren, müsste man die Bedingungen für jene verbessern, die täglich unter schwierigen Umständen arbeiten. Doch vielerorts passiert das Gegenteil: In Sachsen-Anhalt etwa müssen Lehrkräfte eine Stunde mehr arbeiten, um den Lehrermangel „aufzufangen“.
Gute Ideen gibt es längst
Würde die Politik wirklich zuhören, würde sie erkennen: Es gibt bereits zahlreiche funktionierende Konzepte und engagierte Pädagogen – auch hierzulande. Diese Ressourcen nicht zu nutzen, ist fahrlässig.
Bildung funktioniert nur, wenn alle Beteiligten sich gegenseitig wertschätzen, Verantwortung übernehmen und Synergien schaffen. Aufgabe der Politik ist es, dafür die Rahmenbedingungen zu schaffen.
Viele Probleme sind hausgemacht
Viele Herausforderungen im Bildungsbereich müssten gar keine sein – wenn jeder seine Rolle ernst nähme.
Eltern, die ihre Smartphones bewusst auf die Seite legen, sich mit ihren Kindern beschäftigen, sie und ihre Gefühle ernst nehmen, mit ihnen gemeinsam essen, spielen und sprechen, ihnen zuhören, ihnen gesunde Grenzen setzen und sich selbst und ihre Reaktionen auch mal hinterfragen, fördern stabile, ausgeglichene Kinder, die sich gesehen und angenommen fühlen. Diese Kinder müssen in Kita oder Schule keine Wut abreagieren oder Aufmerksamkeit erzwingen, die sie zu Hause nicht bekommen.
Pädagogische Fachkräfte, die sich in ihrer Ausbildung mit ihrer Rolle und der damit verbundenen Verantwortung beschäftigen, praxisnah auf ihr Berufsleben vorbereitet werden und auf ihrem Weg durch eine professionelle Begleitung in ihrer Selbstreflexion und Persönlichkeitsentwicklung gestärkt werden, können die Herausforderungen des beruflichen Alltags souveräner bewältigen, sind resilienter und professioneller im Umgang mit allen Beteiligten. Das stärkt nicht nur ihre mentale Gesundheit, sondern wirkt sich langfristig positiv auf Krankenstände und Berufszufriedenheit aus.
Auch ein flexibles Schuleintrittsalter könnte viel bewirken: Kinder, die mehr Zeit für sprachliche, motorische oder emotionale Reife brauchen, sollten sie bekommen. Frühere Einschulung hingegen kann talentierte Kinder fordern und fördern. So ließen sich Lernstörungen und Frust vermeiden – und damit viele Unterrichtsstörungen.
Wenn Kinder in den ersten mindestens sechs Schuljahren spielerisch, ohne Noten- und Leistungsdruck lernen dürften und ihre Stärken im Mittelpunkt stünden, könnten sie sich freier entfalten. Das würde nicht nur ihre Motivation, sondern auch ihre psychische Gesundheit fördern.
Claudia Rehder ist Lehrerin, Coach für pädagogische Fach- und Führungskräfte und Expertin für bewusst andere Sichtweisen auf Bildung in Kita und Schule. Sie ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen ihre persönliche Auffassung auf Basis ihrer individuellen Expertise dar.
Was sich konkret ändern müsste
Zum Wohle der Kinder sollten wir:
- das Schuleintrittsalter flexibel gestalten – je nach Entwicklungsstand, in Absprache von Eltern, Kita und Schule
- die offene Kindergartenarbeit mit ihren Prinzipien von Partizipation, Selbstständigkeit und Inklusion auch in der Schule fortführen
- die bewertungsfreie Beobachtung aus der Kita auf die Schule übertragen, Lehrkräfte zu Lernbegleitern machen
- Schulabschlüsse entkoppeln von Jahrgangsstufen und an Kompetenzen statt an Alter binden
- den bürokratischen Aufwand in Bildungseinrichtungen deutlich reduzieren, damit mehr Zeit für pädagogische Arbeit bleibt.
Orte der Möglichkeiten
Kitas und Schulen sollten Orte sein, an denen Entwicklung, Vielfalt und Potenziale im Mittelpunkt stehen – keine Systeme, die begrenzen oder aussondern. Orte, an denen Eltern, Pädagogen und Experten gemeinsam Verantwortung tragen. Kinder brauchen Zeit – zum Wachsen, Lernen, für die sprachliche Entwicklung und soziale Reife und immer häufiger auch das Deutschlernen.
Genauso wichtig: Diejenigen, die dort arbeiten, müssen sich unterstützt fühlen – durch gute Ausstattung, faire Bezahlung, Rückzugsräume und vor allem gesellschaftliche Wertschätzung. Regelmäßige Supervision und Weiterbildung für die eigene professionelle Entwicklung und im Falle herausfordernder Situationen, sollten selbstverständlich sein.
All das und eine praxisnahe, moderne Ausbildung könnte dazu beitragen, dass pädagogische Berufe wieder an Attraktivität gewinnen. Denn wer Kinder begleitet, trägt Verantwortung für die Zukunft unseres Landes.
Zeit für einen Perspektivwechsel
Natürlich gibt es den Fachkräftemangel, natürlich verlassen zu viele Jugendliche die Schule ohne Abschluss. Aber anstatt ständig nur über Probleme zu sprechen, sollten wir den Blick endlich auf Lösungen richten – auf die vielen guten Ansätze, die längst existieren.
Die Mammutaufgabe Bildung ist lösbar – wenn wir sie als das begreifen, was sie ist: eine gemeinsame Verantwortung. Unsere Kinder verdienen nichts weniger.