Nach der Sprengstoffdrohung auf dem Münchner Oktoberfest, hat die Polizei am Mittwochnachmittag Entwarnung gegeben. Laut einem Sprecher haben Beamtinnen und Beamte mit 30 Sprengstoffspürhunden das Gelände abgesucht – es wurde keine Bedrohung gefunden. Ab 17.30 Uhr eröffnet das Oktoberfest wieder für Besucher, wie Oberbürgermeister Dieter Reiter auf Instagram bekannt gab.
Doch auch, wenn die Polizei das Festgelände freigegeben hat, bleibt bei vielen die Unsicherheit. Sie stehen unter Schock und denken vielleicht an die Amokfahrten oder Angriffe der letzten Zeit. Nicht nur in München, auch in vielen anderen Teilen Deutschlands lösen solche Warnungen oder ähnliche Ereignisse ein ungutes Gefühl oder gar Angst vor Menschenmengen aus. Viele fürchten sich Konzerte und Stadtfeste zu besuchen oder auf Demonstrationen zu gehen.
„Das ist erst einmal ganz normal“, beruhigt Psychiaterin Tatjana Reichhart. Unser Gehirn funktioniert so. „Wir haben gewisse Grundängste, etwa vor Spinnen, Schlangen, der Höhe und vor Menschenmengen, weil das evolutionsbiologisch nie vorgesehen war, dass wir in Menschenmassen leben – und dass wir Auto fahren übrigens auch nicht, noch viel weniger, dass wir fliegen.“ Sofort sei in solchen Situationen also unser „unser altes Hirn, das Reptilienhirn alarmiert“.
Dennoch sind wir dem nicht hilflos ausgeliefert. Die Expertin nennt sechs Strategien, die Ihnen gegen die Angst helfen:
1. Wissen, wie das Gehirn funktioniert
Zunächst ist es hilfreich, besser zu verstehen, was in unserem Gehirn passiert und wie es funktioniert. „Wir nehmen das Negative viel mehr wahr als das Positive“, erläutert Reichhart. Dieses bleibe drei bis fünfmal stärker haften.
Diese Voreinstellung sei evolutionsbiologisch sinnvoll, weil wir Menschen früher besser überlebt haben, wenn wir sehr früh Angst vor dem Säbelzahntiger hatten oder Sorge, dass etwas passieren könnte. „In unserer aktuellen Welt ist das allerdings nicht mehr hilfreich“, führt die Expertin weiter aus. Aber unser Gehirn sei in dieser Hinsicht noch in der Steinzeit.
Es hilft daher, zu begreifen, dass wir diesen Negativitätsbias haben. Reichhart verdeutlicht dies mit dem Spruch: „Das Negative bleibt haften wie Kletten, und das Positive diffundiert davon wie ein leichter Sommerwind.“
Tatjana Reichhart ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Nach vielen Jahren an der Uniklinik, liegt ihr Schwerpunkt seit 2011 auf der Beratung von Unternehmen und Behörden zum Thema „Psychische Gesundheit am Arbeitsplatz“. In der von ihr mitgegründeten Kitchen2Soul Akademie in München, bildet sie zum Systemischen Resilienz-Coach aus. Sie ist Autorin mehrerer Bücher.
Website: www.tatjana-reichhart.de
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2. Realitäts-Check durchführen
Als nächstes empfiehlt Reichhart einen Wahrscheinlichkeits-Check. Nach solchen Schreckensmeldungen wittert unser Gehirn überall Gefahr. „Daher sollten Sie die Ereignisse absichtsvoll einordnen“, erläutert die Psychiaterin.
Sprich:
- Feststellen: Das kam jetzt vor und vielleicht sogar ganz in meiner Nähe.
- Und dann fragen: Wie groß ist die Gefahr tatsächlich, dass ich selbst betroffen sein werde?
Dafür nennt sie ein paar Vergleichszahlen:
- Die Wahrscheinlichkeit, in Deutschland von einem Blitz getroffen zu werden, ist eins zu drei Millionen, wobei die meisten überleben.
- Opfer von einem Terroranschlag in Deutschland zu werden, ist doppelt so gering.
- Andererseits liegt das Risiko, an einer Grippe zu sterben, 3800-mal höher.
„Das heißt, wir müssten eigentlich viel mehr Angst vor der Grippe haben als vor einem
Blitzschlag und gar einem Terroranschlag“, bilanziert Reichhart. Aber der Mensch sei eben viel weniger von seinem Verstand gesteuert als er glaubt.
Unsere gefühlte Wahrnehmung sollten wir eben deswegen einem Realitäts-Check unterziehen. Wir müssen aktiv unser Frontalhirn ansteuern und abklären: Wie schlimm ist es wirklich? Die Antwort ist meist: nicht so schlimm.
3. Der Angst begegnen
Ganz egal, welche Angst es sei: Wir müssen uns ihr aussetzen. Das darf sich auch ein wenig unangenehm anfühlen.
„Die Exposition funktioniert so: Ich muss unter Menschen gehen, wenn ich Angst vor Menschen habe. Ich muss in die Höhe gehen, wenn ich Angst vor der Höhe habe. Ich muss mit dem Auto fahren, wenn ich Angst habe ins Auto zu steigen“, führt die Ärztin aus. Ist das nicht kontraproduktiv? Nein, im Gegenteil.
„Nur dann kann mein Gehirn korrigierende Erfahrungen machen“, erklärt Reichhart. „Auf diese Weise erlebe ich, dass gar nichts passiert, ich bin nicht gestorben.“ Wenn jemand sich zurückziehe, werde der Handlungsspielraum immer kleiner und die Angst immer größer.
4. Den Fokus auf den Gewinn legen
Im nächsten Schritt hilft es, sich zu fragen: Was ist denn der Gewinn, wenn ich es trotz meiner aktuellen Ängste tue?
„Beschäftigen Sie sich mit dem Positiven“, rät die Expertin. „Überlegen Sie, was Sie gewinnen, wenn Sie mit Freunden auf einer Veranstaltung sind, wenn Sie die Freiheit haben, bequem mit dem Auto zu fahren.“ So lenken Sie den Fokus weg von der Angst hin zu schönen Erfahrungen.
5. Das Entspannungssystem aktivieren
Werden Sie aktiv! „Wenn die unangenehmen Gefühle wie Angst, Furcht, Beklemmung aufkommen, sind Sie nicht das Opfer Ihrer Gefühle, sondern Sie können sich immer noch regulieren“, erläutert die Psychotherapeutin.
Dabei helfen simple Tipps:
- Körperhaltung: Verändern Sie zum Beispiel Ihre Körperhaltung in eine aufrechte, starke Position, mit Blick nach vorne. Das senkt sofort die Stresshormone.
- Atmung: Atmen Sie länger aus als ein. In der Ausatmung wird unser Entspannungssystem im Körper aktiviert und somit haben wir direkten Einfluss darauf. Die 4-2-6-Übung funktioniert so: vier Sekunden einatmen, zwei Sekunden Atmung halten, sechs Sekunden ausatmen.
- Singen oder Summen: Ähnlich wie die Atmung aktiviert auch das unseren Nervus Vagus, also den „Entspannungsnerv“, unseren Parasympathikus.
- Augen reiben oder drücken: Auch hier läuft der Entspannungsnerv vorbei.
- Gedanken verändern: Statt Horror-Szenarien stellen Sie sich vor, dass es schon gut gehen wird. Denn die Wahrscheinlichkeit in dieser Situation tatsächlich zu sterben, ist sehr gering und machen Sie sich eher Mut: ‚jetzt probiere ich es aus und ich gewinne einen schönen Abend zum Beispiel.‘ „Auf diese Weise haben Sie es in der Hand entweder Stressangst zu befeuern oder Angstspiralen zu durchbrechen“, fasst Reichhart zusammen.
6. Das Ablenkungsmanöver starten
Wenn die Angst kommt, lenken Sie sich ab! „Rechnen Sie zum Beispiel eine schwierige Rechenaufgabe wie hundert minus sieben, minus sieben, minus sieben“, schlägt die Expertin vor.
Damit sei der Kopf direkt weg von Grübelgedanken oder Katastrophen-Szenarien und in der Zeit könne sich der Adrenalinspiegel reduzieren.
Wer nicht rechnen will, schaut um sich und sucht: Drei Dinge, die ich sehe, drei Dinge, die ich höre, drei Dinge, die ich fühle. Das bringt einen wieder ins Hier und Jetzt.
Mit solchen Übungen lenken Sie die Aufmerksamkeit ins aktuelle Umfeld zurück.
Zu viel Angst: Wann Sie zum Arzt gehen sollten
„Wenn jemand tatsächlich eine krankhafte Angststörung oder Phobie entwickelt oder Panikattacken bekommt, empfehle ich dringend, zum Arzt oder Psychotherapeuten zu gehen, um professionelle Hilfe zu bekommen“, mahnt Reichhart. Das könne sehr schnell und sehr effektvoll in kurzer Zeit behandelt werden.
Was sind die Alarmsignale?
„Wenn ich Situationen tatsächlich vermeide, Dinge nicht mehr mache, ist das ein Alarmsignal“, erläutert die Psychiaterin. Manches dürfe sich ein wenig unangenehm anfühlen, das sei normal.
Wer aber feststelle, er gehe nicht mehr ins Kino oder nicht mehr an den Marienplatz oder flüchte sich in Ausreden wie: Ich fahre lieber mit dem Fahrrad, nicht mehr mit der U-Bahn, weil Fahrradfahren sowieso gesünder ist. Bei ehrlicher Betrachtung ist es aber Vermeidung und das sei der kritische Punkt.
Bei Panikattacken komme ein Gefühl von Todesangst auf, keine Luft mehr bekommen. Auch das sollte man der Expertin zufolge auf jeden Fall abklären lassen.
Die wichtigste Erkenntnis: Es kann keine Sicherheit geben
Angesichts der Geschehnisse in Deutschland und in der Welt betont Reichhart vor allem einen Punkt: „Wir als Menschen brauchen die Akzeptanz, dass es vollumfängliche Kontrolle und Sicherheit nicht gibt.“
Wer alles unter Kontrolle haben möchte, könne mit solchen Situationen viel weniger flexibel umgehen als jemand, der gelernt hat, dass Kontrolle nur begrenzt, bis vielleicht gar nicht möglich sei.
„In dem Moment, wo ich auf die Welt komme, habe ich das Risiko, zu sterben, genauso wie mein Umfeld. Darüber müssten wir eigentlich viel öfter sprechen, weil wir als Gesellschaft sonst immer wieder auf dieses Sicherheitsbedürfnis anspringen, das nicht zu befriedigen ist“, gibt Reichhart zu bedenken. „Es kann keine absolute Sicherheit geben. Nach den Anschlägen wurde immer wieder betont, dass man eine Demonstration nie so schützen kann, dass nichts passieren könnte. Genauso wenig bringt ein Messerverbot. Das suggeriert zwar Sicherheit und Kontrolle, aber hilft am Ende auch nicht.“
Die entscheidende Frage sei vielmehr: „Will ich mir jetzt Freiheit nehmen, damit ich eine vermeintliche Sicherheit bei eigentlich niedrigem Risiko gewinne?“