Studie rechnet mit Bürgergeld und Sozialstaat ab: Empfänger brauchen mehr Geld

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Ungerecht und viel zu komplex: Studie rechnet mit Bürgergeld und deutschem Sozialstaat ab

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Eine vom Arbeitsministerium in Auftrag gegebene Studie zeigt: Das deutsche Sozialsystem ist kompliziert und ungerecht. Es müsse dringend reformiert werden.

Berlin – Genau ein Jahr nach der Einführung des Bürgergelds ist eine neue Studie im Auftrag des Arbeits- und Sozialministeriums (BMAS) erschienen. Darin sollten Forscher und Forscherinnen verschiedener Institute untersuchen, ob das deutsche Sozialsystem in seiner aktuellen Form gerecht ist und wie es besser gemacht werden kann. Die Ergebnisse lagen dem Ministerium und einzelnen Medien bereits Ende November 2023 vor. Doch nun wurde das komplette Papier auch auf der Webseite des BMAS veröffentlicht.

Der Bericht wurde von Forschenden aus dem ifo Institut und dem Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) verfasst. Projektleiter war der Ökonom Professor Andreas Peichl.

Bürgergeld in seiner aktuellen Form ungerecht

In dem 65-seitigen Papier rechnen die Ökonomen und Ökonominnen mit dem deutschen Sozialstaat ab. Im Kern lautet die Kritik: Das System ist viel zu komplex und für normale Bürger und Bürgerinnen schwer durchschaubar, was die Akzeptanz verringert. Ein Grund für die Komplexität sei „das Zusammenspiel verschiedener Leistungen, die alle letztlich an dem gleichen zu deckenden Bedarf ansetzen, jedoch von verschiedenen Stellen verwaltet werden, verschiedene Regeln zur Leistungsbemessung und dabei verschiedene Anrechnungsregeln mit zudem zum Teil unterschiedlichen Einkommenskonzepten vorsehen“.

Wer Sozialleistungen bezieht und noch nebenher arbeitet, wird im aktuellen System eher bestraft als belohnt. Denn: Sobald das Einkommen anfängt, den eignen Bedarf zu decken, werden die Sozialleistungen gekürzt – aber so sehr, dass sich die Arbeit für Leistungsempfänger kaum lohnt. Dadurch werden Sozialleistungsempfänger indirekt gezwungen, weniger zu arbeiten – was aber das Gegenteil dessen ist, was der Staat eigentlich will.

Also fordern die Forschenden eine Reform, die Empfänger von Sozialleistungen - ob das jetzt Bürgergeld ist oder Wohngeld mit Kinderzuschlag - mehr Geld aus der eigenen Erwerbstätigkeit übriglässt. Dazu muss man erstmal verstehen, wie das aktuelle System aussieht.

Hubertus Heil
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hat der Bundesregierung vorgeschlagen, Sanktionen für Bürgergeld-Empfänger zu verschärfen, die immer wieder zumutbare Arbeitsangebote ablehnen. © Kay Nietfeld/dpa

Aktuell gelten für Bürgergeld-Aufstocker folgende Freibeträge, das heißt, das Jobcenter „ignoriert“ diesen Anteil und rechnet es nicht auf das Bürgergeld an:

  • Die ersten 100 Euro gelten als Grundfreibetrag
  • Einkommen zwischen 100 und 520 Euro: 10 Prozent Freibetrag
  • Einkommen zwischen 520 und 1000 Euro: 30 Prozent Freibetrag
  • Einkommen zwischen 1000 und 1200 Euro: 10 Prozent (bei Singles)
  • Einkommen zwischen 1000 und 1500 Euro: 10 Prozent (wenn Kinder im Haushalt leben)
  • Einkommen ab 1200/1500 Euro: 0 Prozent

Wenn das Einkommen eines Singles durch eine Gehaltserhöhung oder durch die Erhöhung der Arbeitszeit von 900 Euro auf 1200 Euro im Monat steigt, dann rutscht er oder sie in eine neue Freibtragsstufe und kann deutlich weniger vom Gehalt behalten. Nochmal andere Berechnungsmodelle müssen Empfänger dann berücksichtigen, wenn sie kein Bürgergeld erhalten, aber dafür Wohngeld und Kinderzuschlag. So kann es der Studie zufolge sein, dass Familien mit Kindern plötzlich aufgrund von Mehrarbeit oder einer Gehaltserhöhung aus dem Sozialsystem herausfallen, also gar keine Unterstützung mehr erhalten – was den Arbeitsanreiz deutlich absenkt.

Die Forschenden sollten sich dem Auftrag zufolge hauptsächlich mit dem Bürgergeld befassen und dafür Reformvorschläge erarbeiten.

Reform des Bürgergelds: Vor allem Familien profitieren deutlich

Nach dem Reformmodell würde sich der Freibetrag von 30 Prozent auf Einkommen bis zu 2000 Euro ausweiten. Einkommen über 2000 Euro sollen einem Freibetrag von 65 Prozent unterliegen, anstatt wie bisher 100 Prozent. Damit würde zwar die Belastung des Steuerzahlers steigen. Aber aus Sicht der Ökonomen würden die Arbeitsanreize damit so deutlich steigen, dass sich das durch die neu hinzugekommenen Steuerzahler ausgleichen würde. Sie haben sogar berechnet, dass insgesamt der Staat damit 1,1 Milliarden Euro sparen würde.

Zur Veranschaulichung ein paar Beispiele aus dem Papier der Forschenden:

Single-Haushalt Alleinerziehende Paar mit Kindern
Gehalt brutto 1500 Euro 3000 Euro 4000 Euro
Einkommen aktuell 1410 Euro 3205 Euro 3895 Euro
Einkommen durch Reform 1490 Euro 3473 Euro 4143 Euro
Differenz + 80 Euro +268 Euro +238 Euro

Dargestellt sind hier Beispiele aus dem von den Forschenden präferierten Reformvorschlag. Daran ist gut zu erkennen, dass sich das verfügbare Netto-Einkommen vor allem für Familien deutlich erhöht, wenn einer Arbeit nachgegangen wird. Durch diese Reform wird das Wohngeld nach Ansicht der Forschenden teilweise irrelevant, da das Bürgergeld bis zu einem höheren Einkommen bezogen werden kann – und erst dann ausläuft, wenn die Haushalte es auch wirklich nicht mehr brauchen. Für Single-Haushalte ist dieser Punkt ab einem Bruttoeinkommen von 2800 Euro erreicht, danach wird Wohngeld in manchen Regionen nicht mehr benötigt.

Alleinerziehende fallen ab einem Bruttoeinkommen von über 3000 Euro aus dem Bürgergeldanspruch, werden aber bis zu einem Einkommen von 5700 Euro mit Kinderzuschlag (ab 2025 Kindergrundsicherung) weiter unterstützt. Dadurch hat die Person trotz Mehrarbeit weiterhin mehr Geld. Für Paare mit zwei Kindern läuft der Anspruch ab einem Einkommen von 3300 Euro aus, den Kinderzuschlag erhalten sie noch bis zu einem Bruttoeinkommen von 8300 Euro.

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