Bürgergeld-Debatte: Wie der Staat die Fleißigen vom Arbeiten abhält

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Das Bürgergeld könnte nicht die Faulen, sondern die Fleißigen davon abhalten, zu arbeiten. Zu diesem Schluss kommen Wirtschaftsexperten, aber auch Gutachten der Bundesregierung.

München – Die Diskussion um das Bürgergeld gewinnt an Schärfe. Mit der Erhöhung der neuen Sozialleistung 2024 um zwölf Prozent zum Januar rechne sich das Arbeiten für viele Menschen nicht mehr, bemängeln Kritiker, die Leistung belohne die Faulen. Ein noch nicht veröffentlichtes Bürgergeld-Gutachten im Auftrag des Arbeitsministeriums belegt ein ganz anderes Problem: Fleißige Bürgergeld-Bezieher werden bestraft. „Für manche lohnt es sich nicht, mehr zu arbeiten und zu verdienen, da ihre Abzüge nach der aktuellen Regelung zu hoch wären“, erklärt der an den Studien beteiligte Wirtschaftsforscher Prof. Andreas Peichl vom Münchner Ifo-Institut dazu vorab gegenüber IPPEN.MEDIA.

Sozialausgaben
Das Bürgergeld könnte nicht die Faulen, sondern die Fleißigen davon abhalten, zu arbeiten. Zu diesem Schluss kommen Wirtschaftsexperten, aber auch Gutachten der Bundesregierung. (Symbolbild) © Jens Kalaene/dpa

Schuld daran sind laut Peichl, der bereits an insgesamt vier Gutachten zum Bürgergeld dieses Jahr beteiligt war, zwei Konstruktionsfehler im System: „Zum einen gibt es in Deutschland zwei quasi parallel existierende Sozialsysteme“; auf der einen Seite das Bürgergeld, auf der anderen Wohngeld, Kindergeld und Kinderzuschlag. Die Studie belege „große Defizite“ bei der Abstimmung verschiedener Leistungen, insbesondere den Zuverdienstregeln, bilanziert der Ökonom.

Staat bestraft Geringverdiener: Wenn vom mehr Brutto weniger Netto bleiben

Vor allem in Gegenden mit hohen Mieten, etwa in München, lohne sich ein höheres Bruttoeinkommen in bestimmten Einkommensintervallen kaum. Denn dann würden die Sozialleistungen, wie etwa das Wohngeld, so stark gekürzt, dass den Betroffenen teilweise netto sogar weniger bleibt. „Das bedeutet, dass es sich zwar immer lohnt zu arbeiten, aber für manche eben kaum“, erklärt Peichl. In einem noch nicht veröffentlichten Gutachten des Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) an dem der Ökonom beteiligt war, zeigen sich die Schwächen des aktuellen Systems.

 Tabelle der Einkommensfreibeträge.
Das Bürgergeld könnte nicht die Faulen, sondern die Fleißigen davon abhalten, zu arbeiten – die Tabelle der Einkommensfreibeträge. © Verein für soziales Leben e.V./Screenshot

Wirtschaftsforscher warnt: Grundproblem existiert seit 50 Jahren, „egal, wer an der Regierung ist“

Im Extremfall lohnt sich also mehr Arbeit für Geringverdiener nicht mehr. Das Problem sei allerdings nicht plötzlich mit dem neuen Bürgergeld aufgetaucht: „Es besteht seit 50 Jahren, und zwar egal, wer an der Regierung war.“ Die Problematik verschärfe sich jedoch immer weiter, auch mit dem steigenden Bürgergeld. Allerdings seien nicht die erhöhten Bezüge der Haken, sondern die nicht angehobenen Zuverdienstgrenzen, die „praktisch seit 20 Jahren fix sind“.

Seit Jahren untersucht Peichl das Phänomen, das in Fachkreisen als „Transferentzugsrate“ bekannt ist. Diese gibt an, in welchem Maße der Staat zusätzliches Einkommen mit den Sozialleistungen verrechnet und diese kürzt.

Die Botschaft lautet: Ihr dürft nur wenig arbeiten. Und je mehr ihr arbeitet, desto stärker werden wir euch bestrafen.

Grundsätzlich gilt für Empfänger von Bürgergeld, dass sie einen Freibetrag von 100 Euro vollständig behalten dürfen. Für jeden zusätzlichen Euro über diesen Betrag bis zur Grenze von 1000 Euro bleiben ihnen nur noch 20 bis 30 Cent. Dann reduziert sich der Betrag auf 10 Cent pro zusätzlichem Euro. Ab einem Einkommen von über 1500 Euro gibt es keinerlei Behaltensanteil mehr. „Die Botschaft lautet: Ihr dürft nur wenig arbeiten. Und je mehr ihr arbeitet, desto stärker werden wir euch bestrafen“, kommentiert Ökonom Peichl.

„Extrem kompliziertes, unstimmiges Sozialsystem“: Ökonom kritisiert Zuverdienstgrenzen

Auch die Erhöhung des Wohngelds im vergangenen Jahr habe zu relativ großen Einkommensbereichen geführt, in denen sich mehr Arbeit weniger lohne. „Das hat damit zu tun, dass unser Sozialsystem extrem kompliziert und unstimmig ist“. Wer bestimmte Einkommensgrenzen überschreite, wechselt aus dem einen System in das andere: Der Anspruch auf Bürgergeld fällt weg, dafür gibt es Wohngeld. „Bei beiden Leistungen unterscheidet sich aber zum Beispiel die Definition des anrechenbaren Einkommens. Das führt schon zu Sprungstellen, also Punkten, bei denen zusätzliches Einkommen mit einem Schlag sehr stark belastet wird.“

Bürgergeld-Reform gefordert: Freibeträge bestrafen Mehrarbeit

Ein anderes Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats des Finanzministeriums, dem Andreas Peichl angehört, stellte dies bereits im September fest: So entschieden etwa Wohnort, Haushaltstyp, Kinderanzahl und Arbeitsstunden darüber, ob sich Arbeiten noch lohnt oder nicht. „Es gibt Konstellationen, in denen von dazuverdienten 2000 Euro brutto gerade einmal 20 Euro netto übrig bleiben“, so Peichl. In einer anderen Stadt würde derselben Familie weit mehr netto bleiben.

Das Ifo-Institut schlägt darum eine Reform der Einkommensteuer und der Grundsicherung vor, die keine zusätzlichen Kosten für den Staatshaushalt verursachen würde. Bürgergeld, Wohngeld und der Kinderzuschlag sollten in einer Leistung zusammengelegt werden. „Darüber hinaus müssen die Selbstgehaltsgrenzen angehoben werden: Die ersten 100 Euro vom Selbstverdienten darf man behalten, von jedem Euro darüber 30 oder sogar 40 Cent“, so Peichl.

„Wissen, dass der Mensch auf Anreize reagiert“: Experte fordert höheren Selbstbehalt

Mehr verdienen zu können, indem man mehr arbeitet, sei eine wirksame Motivation, die auch funktioniere, erklärt der Wirtschaftsforscher, „das ist empirisch belegbar und hat sich in der Vergangenheit gezeigt“. In den Ministerien glaube man nicht an die Effekte, „aber wir wissen, dass der Mensch auf diese Anreize reagiert“. Auch die Befürchtung, dass mehr Menschen dann Leistungen beantragen, wenn die Einkommensgrenzen angehoben werden, sei unbegründet: „Es ist immer eine gute Sache, wenn man Arbeitnehmer mit Niedrigeinkommen unterstützt. Das System braucht diese neuen Anreize.“

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