KI-Expertin: „60 Prozent der jungen Menschen werden von Berufen in Rente gehen, die es noch gar nicht gibt“
Künstliche Intelligenz ist eine große Hilfe im Alltag – bedroht aber auch Jobs und kann schnell missbraucht werden. Was bedeutet das für unsere Zukunft? Ippen.Media hat mit der KI-Expertin Sandra Navidi gesprochen.
Tegernsee – Smartphones, Autos, Saugroboter: Schon jetzt kommt in vielen Anwendungen, die wir täglich nutzen, Künstliche Intelligenz (KI) zum Einsatz. Doch die neue Technologie birgt trotz aller Vorteile auch Risiken. Aber wie geht man damit um? Ippen.Media hat im Rahmen des Unternehmertags am Tegernsee mit der KI- und Finanzexpertin Sandra Navidi gesprochen, Autorin sowie Gründerin und CEO von BeyondGlobal LLC. Sie wurde in Mönchengladbach geboren, lebt aber in New York.

KI-Expertin Sandra Navidi: Deutschland hat hohes Automatisierungspotential
Spätestens seit OpenAI ChatGPT präsentiert hat, ist jedem bewusst, welches Transformationspotential KI für die Wirtschaft hat. Wo sehen Sie die Technologie in 5 Jahren?
Sandra Navidi: Das Einzige, worauf man sich meiner Meinung nach einstellen kann, ist die Ungewissheit. Es geht hier teilweise um exponentielle Entwicklungen, die nicht linear, sondern dynamisch verlaufen, und die deshalb schwer vorherzusehen sind. Da wage ich erstmal keine Prognose. Wenn man zurückschaut, zeigt sich, dass viele Prognosen von Experten ziemlich daneben lagen: Vor Jahren wurde beispielsweise vorhergesagt, dass wir wegen der Entwicklung des autonomen Fahrens heute keine Lkw-Fahrer mehr benötigen würden. In den USA würden dann fünf Millionen Lkw-Fahrer arbeitslos. Große Panik. Und was ist passiert? Nicht nur sind sie nicht arbeitslos geworden, es herrscht sogar ein Mangel an Fernfahrern – ähnlich wie in Deutschland. Ich glaube, wenn jemand mit einer gewissen Deutungshoheit – wie etwa Elon Musk – ein schlüssiges Narrativ präsentiert, dann nehmen das in dieser Ungewissheit viele als Orientierungsfaden. Das kann sich aber auch als völlig falsch erweisen. Es gibt im Grunde genommen keine Gewissheiten mehr.
Wie viel Automatisierungspotential besteht in Deutschland ihrer Meinung nach durch KI?
Sehr viel, weil Deutschland im Gegensatz zu den USA weniger eine Service-Industrie, sondern mehr eine produzierende und exportierende Industrie hat. Und fast alles, was quantifizierbar ist, kann man automatisieren: Fließband, Zusammenbau, all das lässt sich durch künstliche Intelligenz doppelt und dreifach beschleunigen. Amerika ist im Gegensatz dazu eine Service-Industrie. Unheimlich viele Amerikaner nehmen sehr viele Dienstleistungen in Anspruch. Natürlich kommt auch dort immer mehr Digitalisierung zum Einsatz, aber tendenziell ist der Mensch dort weniger abkömmlich. Wir haben jetzt auch ab und zu mal Lieferantenroboter, aber die haben sich bis jetzt nicht wirklich durchsetzen können.
Welche Berufe und Aufgaben wird KI dann vor allem ersetzen?
Am häufigsten ersetzt werden Verwaltungsangestellte, Büroangestellte und Menschen im Verkauf. Klar, im Verkauf bleiben die Jobs bei höherpreisigen Produkten, die komplexe Beratung benötigen, erhalten, aber rein zahlenmäßig sind das die Bereiche, wo die meisten Jobs wegfallen werden. Vor allem werden wir eine starke Zunahme von Augmented Work erleben, also dass wir über so ziemlich alle Berufsgruppen hinweg vermehrt mit Maschinen zusammenarbeiten werden. Betroffen sein werden hier auch Berufe wie Rechtsanwälte, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer und Ärzte. Das heißt, die Berufe fallen nicht weg, aber es wird weniger Jobs geben. Denn wenn Ärzte und Rechtsanwälte produktiver arbeiten können, dann braucht es im Endeffekt weniger davon. Aber auch hier ist eine Einschätzung der zeitlichen Entwicklung schwierig.
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Viele Deutsche glauben in einer Studie, dass Deutschland generell zu risikoscheu ist, wenn es um die Einführung von Künstlicher Intelligenz geht. Inwiefern sind die USA beim Thema KI weiter als Deutschland und welche Anstrengungen müsste Deutschland unternehmen, um weiterzukommen?
Ich denke, in erster Linie ist es ein Mentalitätsproblem und in zweiter Linie ein Geldproblem. Die Deutschen sind in ihrer Denkweise und dem Gesellschaftssystem diametral unterschiedlich zu den Amerikanern. Amerika hat schon immer Leute angezogen, die unternehmerisch denken und risikofreudig sind. Die Deutschen haben da eine andere Mentalität und sind sehr bodenständig und vorsichtig.
Und das hindert uns daran, in KI zu investieren?
Ja, man muss dafür hohe Risiken eingehen. Nehmen wir mal an, Sie finanzieren zehn Unternehmen, die sich mit KI beschäftigen. Davon können sich in dem Markt aber nur ungefähr eins oder drei etablieren, die anderen sieben gehen pleite. Dafür sind die wenigen, die es schaffen, dann aber im Zweifel sehr lukrativ. Zudem muss man sagen, dass die Kapitalmärkte in den USA viel besser entwickelt sind, also mehr Möglichkeiten für Ideen an Finanzierungen zu kommen. Das gibt es ja hier alles nicht so in der Form.
Die Hälfte der Deutschen zeigte sich in der Umfrage besorgt über Identitätsdiebstahl im Internet und die Verbreitung von Desinformation durch gefälschte Nachrichten oder Bilder. Wie schätzen Sie diese Entwicklung ein?
Katastrophal! Wir sehen es nicht nur bei den letzten Wahlen in den USA. Wir sehen es jeden Tag mit gefälschten Bildern und Videos. Das ist total gefährlich. Noch ist die Qualität bei KI-Bildern oft nicht so überzeugend. Aber es wird natürlich alles immer viel besser. Auch da ist die Politik gefragt. Ich sehe aber auch Verantwortung bei den Unternehmern und den Tech-Giganten. Eigentlich ist jeder gefragt, sollte sich aus seiner Echokammer hinausbegeben und die Dinge immer kritisch hinterfragen.
Gibt es noch ein anderes Risiko durch KI, das nicht so präsent ist wie der Identitätsdiebstahl?
Ja, es gibt ein hohes Risiko dafür, dass man eine KI dafür instrumentalisiert, Anleitungen für Waffen oder Giftstoffe herzustellen. Es gibt im Moment leider noch kein Korrektiv dagegen. Das ist gefährlich.
Wie kann ich mich als Einzelperson am besten für die Transformation von KI in der Wirtschaft wappnen?
Junge Menschen, die jetzt noch zur Uni gehen, die werden im Laufe ihres Lebens bis zu 15-mal den Job wechseln. 60 Prozent von ihnen werden von Berufen in Rente gehen, die es jetzt noch gar nicht gibt. Und ein Drittel der Fähigkeiten, die für sie im Berufsleben entscheidend sein werden, sind jetzt noch nicht relevant. Das heißt, es wird sich wahnsinnig viel ändern. Man wird häufiger neu anfangen und Dinge ausprobieren müssen – und man kann es nicht immer nur auf die Politik oder Unternehmen abschieben. Disruption fängt auch bei einem selber an.
Das klingt nach enormen Veränderungen, die da auf uns zukommen.
Ja, aber man darf auch nicht vergessen: Der größte Wettbewerbsvorteil, den wir gegenüber Maschinen haben, ist unser Menschsein – wir verfügen über emotionale Intelligenz, Kreativität und Lernbegierde. Nur weil etwas digitalisiert werden kann, heißt es noch lange nicht, dass es digitalisiert werden wird. Zum Beispiel im medizinischen Bereich: Niemand will eine schlimme Diagnose von einem Roboter erhalten und von ihm letztendlich abschließend beurteilt werden. Menschen wollen mit anderen Menschen interagieren. Vor allem jetzt, wo wir immer mehr Zeit vor dem Bildschirm verbringen, wird die Zeit, die wir mit anderen Menschen verbringen, immer wertvoller. Wichtig ist, zu realisieren, dass in Umbrüchen nicht nur Risiken, sondern auch Chancen liegen. Die beste Möglichkeit, sich auf seine Zukunft vorzubereiten ist, sie selbst zu gestalten. Und die Digitalisierung bietet dafür jedem einzelnen von uns viele Möglichkeiten.